Donnerstag, 20. Oktober 2016

Lieber Thomas Gordon

Das Gefühl für die Gleichwertigkeit von Kindern ist nicht leicht zu erlangen. Es gibt vieles, das man sich klarmachen kann, per Nachdenken. Aber der Ausstieg aus dem Oben-Unten-Gefühl ist schwer. Ich stelle einen Text vor, mit dem man etwas von dem Unrecht fühlen kann, das in der pädagogischen Sicht auf Kinder steckt. Allerdings muss dieser Text auf eine besondere Art gelesen werden.

Lesen Sie die zwei Passagen aus dem Buch von Thomas Gordons "Familienkonferenz" erst einmal aufmerksam durch. Die besondere Art, diesen Text zu lesen, erkläre ich danach. Es sind zwei kurze Passsagen dieses viel gelesenen Erziehungsratgebers (S. 120 und 203):

    Die Eltern in unseren Kursen begrüßen es sehr, darin unterwiesen zu
    werden, wie sie kindliches Verhalten modifizieren, das für sie
    unannehmbar ist. Manche erklären im Kursus: "Ich kann es kaum
    erwarten, nach Hause zu kommen und es an etwas auszuprobieren,
    das mein Kind zu meinem Ärger seit Monaten getan hat."

    Kinder wie Erwachsene behandeln
    Die Niederlage-lose Einstellung nach Methode III gibt den Kindern
    zu verstehen, dass ihre Bedürfnisse den Eltern auch wichtig sind und
    dass man den Kindern zutrauen kann, als Gegenleistung Rücksicht
    auf die elterlichen Bedürfnisse zu nehmen. Das heißt, Kinder ebenso
    zu behandeln, wie wir Freunde oder den Ehepartner behandeln.
    Diese Methode ist so wohltuend für Kinder, weil sie so gerne das
    Gefühl haben, dass man ihnen vertraut und sie als Gleichgestellte
    behandelt. (Methode I behandelt Kinder, als ob sie verantwortungslos
    sind und nichts im Kopf haben).

Besonders die zweite Textstelle hört sich gut an. Es geht ja darum, Kinder als Gleichgestellte zu behandeln. Wenn Sie Texte vor einem Hintergrund lesen, der Ihnen als diskriminierend bekannt ist, merken Sie ein Oben-Unten rasch und können die Herabsetzung (mit)fühlen. Zum Beispiel, in Texten, in denen Schwarze herabgestuft oder in denen Frauen verächtlich gemacht werden.

Lesen sie jetzt den Gordon-Text vor einem solchen bekannten Diskriminierungs-Hintergrund. Vor einem Hintergrund, wo Ihr Gefühl sofort Sturm laufen wird - weil da jemand nicht ernst genommen, nicht als gleichwertig eingestuft und herabgesetzt wird. Lesen sie ihn vor dem frauenfeindlichen Hintergrund. Damit Ihnen dieser diskriminierende Hintergrund präsent wird, habe ich die entsprechenden Schlüsselworte ausgetauscht: Statt "Erwachsene" lesen Sie "Männer", statt "Kinder" lesen Sie "Frauen". Lesen Sie und lassen Sie den veränderten Text auf sich wirken:

    Die Männer in unseren Kursen begrüßen es sehr, darin unterwiesen
    zu werden, wie sie weibliches Verhalten modifizieren, das für sie
    unannehmbar ist. Manche erklären im Kursus: "Ich kann es kaum
    erwarten, nach Hause zu kommen und es an etwas auszuprobieren,
    das meine Frau zu meinem Ärger seit Monaten getan hat".

    Frauen wie Männer behandeln
    Die Niederlage-lose Einstellung nach Methode III gibt den Frauen
    zu verstehen, dass ihre Bedürfnisse den Männern auch wichtig sind
    und dass man den Frauen zutrauen kann, als Gegenleistung
    Rücksicht auf die männlichen Bedürfnisse zu nehmen. Das heißt,
    Frauen ebenso zu behandeln, wie wir Freunde oder Kollegen
    behandeln. Diese Methode ist so wohltuend für Frauen, weil sie so
    gerne das Gefühl haben, dass man ihnen vertraut und sie als
    Gleichgestellte behandelt. (Methode I behandelt Frauen, als ob sie
    verantwortungslos sind und nichts im Kopf haben).

                                                  ***

Sie merken sofort, dass so ein Text unmöglich ist. Von der ganzen Art. Als wären Frauen irgendwelche Haustiere, die mit Möhrchen und Methode zu behandeln sind. Ihr Gefühl ist in dieser Problematik einfach weit entwickelt. Sie werden den Text nicht ernst nehmen oder abstoßend finden, wenn er denn ernst gemeint sein sollte. Selbstverständlich ist der Originaltext von Thomas Gordon für die Kinder ganz genauso diskriminierend! Nicht im Leben würde ich mir als junger Mensch so einen Text gefallen lassen. Bin ich ein Kaninchen, das mit Methode III im (Lauf)Stall zu zähmen ist? Thomas Gordon und die allermeisten Eltern und pädagogischen Fachleute lieben ihre Kinder - wie auch vor hundert Jahren die Männer ihre Frauen liebten. Doch das ist nicht das Problem. Es geht um etwas, das bei aller Liebe auch dabei ist, und entweder im Oben-Unten-Land oder im Gleichwertigkeits-Land zu Hause ist.  "Wir sind gleichwertig - fühlt es doch!" rufen uns die Kinder zu.