Montag, 25. Dezember 2023

Tränen wegzaubern und Kerze anzünden

 


Es gibt Kartoffeln zum Abendessen. „Nudeln“, sagt der Vierjährige. Ich bin zu Besuch, höre es und überhöre es nicht. Klar, denke ich, es wird Kartoffeln geben, das „Nudeln“ lässt sich ausreden, austreiben. Werden die Eltern so machen. Doch das „Nudeln“ bleibt, nimmt zu, steht machtvoll in der Küche, mit Würde. Was ist zu tun? Was ist zu denken?

Nachgeben und Abendfrieden wahren contra den Dackel vertreiben. Den Dackel nämlich, der man ist, wenn man sich den Wünschen, diesen Wünschen der Kinder unterordnet. Dieser Gegensatz von Einlenken und Hartbleiben ist von grundsätzlicher Art. Dieses Paar ist ein Phänomen des Lebens und kommt überall vor, vom Appeasement in der großen Politik über das Berufsleben und die Partnerschaft bis ins Kinderzimmer und die Küche. Also nichts Ungewöhnliches, nichts, was aus dem Ruder läuft, sondern etwas, das dazugehört. Fragt sich, wie man damit umgeht.

Wo verorte ich mich dabei? Wenn es eine Wahl gibt: Ich entscheide, Chefgefühl, Souveränität. Kartoffeln oder Nudeln? Meine Entscheidung. Beim Abendessen mit einem Vierjährigen ist die Machtfrage klar: Die Mutter und der Vater sagen, wo es lang geht. Und das Kind? Der Andere? Der einen anderen Weg gehen will?

Wie soll ich mit einem Andersweg umgehen? Herr/Frau/Kind Andersweg sind in meinem Leben und halten mich an. Ist schon klar, was gewünscht wird. Ich kann einschwenken, meinem Jetztweg einen Korb geben und dem Andersweg folgen. Wie bekomme ich da Ruhe rein, wie zu einer guten Lösung, wie zu meinem Frieden? Wie wichtig ist mir mein Jetztweg? Was bekomme ich von Deiner Wichtigkeit mit? Wie wichtig bin ich mir? Wie wichtig bist Du mir?

Die beiden Eltern sind unterschiedlich unterwegs. Der Vater will sich die Nudeln nicht bieten lassen, die Mutter ist unentschlossen. Ich halte mich zurück, wiewohl ich ja auch etwas sagen könnte. Die Sache beginnt zu eskalieren, der Kleine fängt an zu weinen. Nudeln mit Tränen. Gar nicht gut, geht mir durch den Sinn, so was können Eltern schlecht haben. Dem Kind folgen, wenn es per Tränen unterwegs ist? „Einlenken“, wie das so schön heißt. Ich merke, dass ich für die Nudeln bin, genauer: für den Abendfrieden.

Ich habe solche Szenarien mit meinen Kindern oft erlebt. Auch diese Kartoffeln-Nudel-Geschichte hat es gegeben. Und locker und freundlich habe ich den Herd nochmal angemacht und Nudeln gekocht. Kerze auf den Tisch, Abendessen in Harmonie. Die Kartoffeln? Waren nicht so begeistert, aber war schon ok.

Es ist ja nicht immer so. Ich lasse beim Autofahren den Drängler vorbei, ich lasse sie hinter mir im Kino reden, ich zahle den überhöhten Preis. Oder ich lasse das alles eben nicht zu: den Drängler nicht vorbei, hole die Kinoaufsicht, bestehe auf dem korrekten Preis. What ever – ich entscheide, was ich mitmache und was ich nicht mitmache.

Ich gehöre auch nicht meinem Eben, meiner Erkenntnis, meinem Plänen. Das ist ja alles schön und gut, aber zum Schluss entscheide ich, was sein soll. Vergangenheit, Erkenntnisse, Pläne haben mich nicht im Griff. Getrimmt werden wir auf anderes, auf Konsequenz, auf was sich gehört, wie es sein sollte, wie es geschrieben steht, was angesagt ist. Als Kinder haben wir diese Erzählung zu hören bekommen und in uns aufgenommen. Und wenn es heute Abend Kartoffeln gibt, die ja gewaschen, geschält, gekocht wurden, alles Mühe und Lebenszeit, dann gibt es Kartoffeln. Klar doch. Klar doch? 

Was lebt da bei mir im Untergrund? Kraft und unverbrüchliche Gewissheit (ich bin, ich gehöre mir, ich bin Teil des Unendlichen) – oder braust da so eine süßlähmende Ohnmacht, immer bereit, sich in mir auszubreiten und mir den Weg zu weisen? Ich bin mit mir klar und ein Sternenkind. Und von daher wünsche ich mir, dass die Eltern von dieser großen Beiläufigkeit berührt werden und die Kartoffeln Kartoffeln sein lassen.

„Ich glaub, ich mach ihm Nudeln.“ Die Welt der Mutter lugt in die Küche, breitet sich in der Küche aus. Erreicht den Vater. „Ok“, sagt er. So ganz selbstverständlich. Ich bin fasziniert – sie können das! Tränen wegzaubern und die Kerze anzünden.





Montag, 18. Dezember 2023

Bist Du glücklich?




„Bist Du glücklich?“

Einmal ganz abgesehen davon, was das denn sein soll: „glücklich sein“ – irgendetwas Sinnvolles wird da jeder parat haben. Aber die Frage! Sie trifft mich. Sie hält mich an. Sie geht in die Tiefe. Sie dringt vor zum anderen als Person. Wann fragen wir den anderen? Fragen wir unsere Kinder, ob sie glücklich sind? Kann man Kinder überhaupt so etwas fragen? Welche Antwort könnte es da schon geben? Es wird wahrscheinlich etwas seltsam werden, das Gespräch. Wichtiger ist, dass wir uns diese Frage an unsere Kinder selbst vorlegen, im Stillen fragen: Ist dieser Mensch da vor mir glücklich? Mit seinen 2, 4, 6, 8, 10 ... Jahren?

Mit einer solchen Bereitschaft zum anderen sehen, der stillen Frage nach seiner Zufriedenheit, seinem Wohlbefinden, seinem Glück. Die Verwobenheit mit dem Glück des anderen zerrinnt leicht, geht unter im Alltag. Man kann diese Frage aber immer mal wieder hervorzotteln, den Blick zum anderen auf einmal ganz konzentriert werden lassen, ihm nah sein und diese Frage an ihn in sich selbst spüren.

Bin ich glücklich? Die Frage nach dem Glücklichsein geht auch an mich. Selbstliebe lässt diese Frage zu und geht auf mich zu. „Bist Du glücklich?“ frage ich mich, und allein das Kümmern um mich selbst, das in dieser Frage lebt, ist Kraft und Wärme. Das Kümmern um mich selbst spüren und willkommen heißen. Und dabei wie durch Zauberei merken, dass diese Frage nach innen, an mich, auch nach außen geht, mich zu Dir hinsehen lässt und Dich fragen lässt: „Bist du glücklich?“



Montag, 11. Dezember 2023

Kinder sind eine unterdrückte Klasse


 
 
Ich entdecke in meinem Bücherregal das Buch „Kinder“ der französischen Feministin und Kinderrechtlerin Christiane Rochefort*, blättere darin herum und finde zwei Stellen, die ich heute in den Blog stelle. Sie hat diesen Text schon 1976, vor einem halben Jahrhundert, geschrieben. Sie ist deutlich! Und sie sieht den gesellschaftlichen Kontext. Hat sich etwas geändert?
 

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Mit sechs Jahren ungefähr wird einem allmählich klar, wo man hineingeraten ist – eijeijei. Man kapiert, welchen Preis es kostet, gegen den Strom schwimmen zu wollen. Und welchen Gewinn man hat, wenn man mitspielt. Man hat gelernt zu rechnen. Kurzum: man wird allmählich vernünftig – in dem Sinne, wie der Fragende zum Befragten, der gerade anfängt zu sprechen, sagt: „Ich sehe, dass du vernünftig wirst.“ Um zu überleben, um Ärger zu vermeiden, um Gnade zu finden, um geliebt zu werden, das heißt um der eigenen Sicherheit willen, muss man sich nach diesem seltsamen Begriff „Vernunft“ richten. Wird man sich tatsächlich danach richten?

Bis zu ungefähr zehn, zwölf Jahren trifft man eine Wahl, nicht selten unter heftigen Konflikten.Der Ausgang dieses inneren Kampfes ist von tausend Faktoren abhängig, unter anderem davon, wie viel man von seiner ursprünglichen Lebensenergie hinüberretten konnte, außerdem von der Art und Stärke des ausgeübten Druckes sowie von dem Maß an Liebe, die man für seine Eltern empfindet. Dieser Abschnitt wird vom Psychoanalytiker „Latenzperiode“ genannt. Es wird angenommen, dass während dieser Zeit die Sexualität zurücktritt und das Gedächtnis die Funktion einer Zensur übernimmt.

Die Sexualität muss also wieder mal herhalten, um die gesellschaftliche Kausalität zu verschleiern. Wenn diese Experten jemals wirklich Kinder gewesen wären, dann wüssten sie, dass nichts schwerer zu ertragen ist als die Niederträchtigkeiten, die zu begehen man gezwungen war. Erniedrigung, die schweigend geschluckt wurde. Bei Analysen ohne ödipale Sperre kommt es dann wieder heraus. Es sind keine ruhmreichen Erinnerungen, und man möchte sie lieber vergessen; man denkt nicht gern an so klägliche Erlebnisse zurück.

Am wenigsten tun dies edle und stolze Ritter - und alle Kinder sind Ritter, Mädchen ebenso wie Jungen, solange sie es nicht mit der Angst zu tun kriegen.

Latenzperiode! Eine Periode der Kapitulation, Vergleichsabschlüsse, Kompromisse. Daran ändert auch nichts, dass solche durch höhere Gewalt bewirkt werden: man fühlt sich frei, empfindet das alles nicht als gewaltsam. Und zu den rasenden Schuldgefühlen, die von den moralischen Instanzen erzeugt werden, muss noch die Lust am Verrat hinzukommen. Zum Verrat an etwas Wertvollem, Echtem. Man hat sich ergeben. Die Erwachsenen ahnen ja nicht, was in den Köpfen und Seelen von Rittern auf der Suche nach dem Gral vorgeht.

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Mitten in unserer modernen „Demokratie“ leben die Kinder unter einer Tyrannenherrschaft – mit deren bekannten Abwandlungen: von übermäßiger Herrschsucht bis zum scheinbar einsichtigen und zurückhaltenden Despotentum, was untereinander keinen erheblichen Unterschied macht. Kinder haben keinerlei Rechte außer den von oben herab diktierten, die jederzeit widerrufen werden können.

Kinder werden in ihrer Eigenschaft als gesetzlich diskriminierte Gruppe in ihrer Gesamtheit körperlich und seelisch bearbeitet und geformt im Hinblick auf ihre spätere Ausbeutung. Die Kinder sind eine unterdrückte Klasse. Sie bilden innerhalb der niederen oder höheren Klasse (je nach Wirtschaftssystem, rassischen oder kulturellen Bedingungen), in die sie zufällig hineingeboren werden, immer die nächstniedrigere Klasse. 

 


* Christiane Rochefort, Kinder, München 1977 (Frankreich 1976), S. 49 f.

Ihr Roman "Zum Glück gehts dem Sommer entgegen" ist ein Klassiker der Kinderrechtsbewegung – einfach schön. Erschienen 1977 (Frankreich 1975)


Montag, 4. Dezember 2023

Gleichwertigkeit in der Ungleichheit

 

 

Ich erzähle von der Gleichwertigkeit. Von der zwischen Erwachsenen und Kindern. "Ja", sagen die Leute dann, "das kennen wir. Wir sind achtsam mit den Kindern. Wir sehen, dass sie eigene Persönlichkeiten sind und wir setzen sie nicht herab." Ich merke dann, dass es schwierig wird.

Wenn man achtsam mit den Kindern ist, dann gibt es da noch etwas zu entdecken. Etwas, das über die Achtsamkeit und das Einfühlen hinausgeht. Davon will ich erzählen. Von einer Gleichwertigkeit, die hinter der Ungleichheit existiert. Und auch hinter der Achtsamkeit. 

Als Erwachsener bin ich immer wieder und unvermeidbar derjenige, der sich den Kindern gegenüber durchsetzt. Die dort bestehende Ungleichheit, sie ist, findet statt. Und sie wird auch von den Kindern erlebt. Hingenommen, bekämpft, akzeptiert, wie es kommt und wie die Kinder grad drauf sind. Ich lasse mein Kind nicht an der Steckdose rumspielen, abertausend Situationen, immer prall voll Oben-Unten. Gleichwertigkeit hat da nichts zu suchen. Achtsamkeit und Einfühlen schon. Durchsetzen mit Achtsamkeit und Einfühlen ist die hohe Schule.

"Ich stehe nicht wirklich über Dir, wenn ich mich durchsetze. Ich bin nicht richtiger, wertvoller, besser." Wer soll das verstehen?

Ich weiß um die Gleichwertigkeit in der Ungleichheit. Ich weiß, wie das geht. Und ich erkläre es gern. Es ist mühsam, mir zu folgen. Wer kommt mit?

"Was soll dabei rumkommen?" "Na ja", sage ich. "Entspannung im Alltag mit den Kindern, Harmonie, Frieden halt. Ungebrochene Selbstliebe bei den Kindern, Geborgenheit. Ein besonderes Maß von all dem. Etwas, das sich bei aller Achtsamkeit und Einfühlung nicht erreichen lässt. Ein Mehr an Liebe zwischen Eltern und Kindern als man sich vorstellen kann."

Dann soll ich erzählen. Und dann erzähle ich. Vom Indigenen und dem Büffel, von der Schweineschnauze, vom großen Steinehaufen, von der großen Ebene, vom guten Ton, vom Telefonieren mit Albert, Rudi und Mary, vom Freiheitskämpfer, von Distel und Brennnessel, vom Rauchen, vom Nachhausekommen, von den Eisbällchen.* Und von all diesen vielen Zauberdingen und all den Türen noch. Ich lade die Leute ein, und wenn sie denn mitkommen, sich bedanken und erfüllt sind - dann bin ich zufrieden und fühl mich beschenkt.




* Diese Beispiele und Bilder sind nachzuschlagen in dem Buch über meine Vorträge: „Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen“. Das Buch ist auf meiner Website vorgestellt: amication.de