Montag, 11. Dezember 2023

Kinder sind eine unterdrückte Klasse


 
 
Ich entdecke in meinem Bücherregal das Buch „Kinder“ der französischen Feministin und Kinderrechtlerin Christiane Rochefort*, blättere darin herum und finde zwei Stellen, die ich heute in den Blog stelle. Sie hat diesen Text schon 1976, vor einem halben Jahrhundert, geschrieben. Sie ist deutlich! Und sie sieht den gesellschaftlichen Kontext. Hat sich etwas geändert?
 

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Mit sechs Jahren ungefähr wird einem allmählich klar, wo man hineingeraten ist – eijeijei. Man kapiert, welchen Preis es kostet, gegen den Strom schwimmen zu wollen. Und welchen Gewinn man hat, wenn man mitspielt. Man hat gelernt zu rechnen. Kurzum: man wird allmählich vernünftig – in dem Sinne, wie der Fragende zum Befragten, der gerade anfängt zu sprechen, sagt: „Ich sehe, dass du vernünftig wirst.“ Um zu überleben, um Ärger zu vermeiden, um Gnade zu finden, um geliebt zu werden, das heißt um der eigenen Sicherheit willen, muss man sich nach diesem seltsamen Begriff „Vernunft“ richten. Wird man sich tatsächlich danach richten?

Bis zu ungefähr zehn, zwölf Jahren trifft man eine Wahl, nicht selten unter heftigen Konflikten.Der Ausgang dieses inneren Kampfes ist von tausend Faktoren abhängig, unter anderem davon, wie viel man von seiner ursprünglichen Lebensenergie hinüberretten konnte, außerdem von der Art und Stärke des ausgeübten Druckes sowie von dem Maß an Liebe, die man für seine Eltern empfindet. Dieser Abschnitt wird vom Psychoanalytiker „Latenzperiode“ genannt. Es wird angenommen, dass während dieser Zeit die Sexualität zurücktritt und das Gedächtnis die Funktion einer Zensur übernimmt.

Die Sexualität muss also wieder mal herhalten, um die gesellschaftliche Kausalität zu verschleiern. Wenn diese Experten jemals wirklich Kinder gewesen wären, dann wüssten sie, dass nichts schwerer zu ertragen ist als die Niederträchtigkeiten, die zu begehen man gezwungen war. Erniedrigung, die schweigend geschluckt wurde. Bei Analysen ohne ödipale Sperre kommt es dann wieder heraus. Es sind keine ruhmreichen Erinnerungen, und man möchte sie lieber vergessen; man denkt nicht gern an so klägliche Erlebnisse zurück.

Am wenigsten tun dies edle und stolze Ritter - und alle Kinder sind Ritter, Mädchen ebenso wie Jungen, solange sie es nicht mit der Angst zu tun kriegen.

Latenzperiode! Eine Periode der Kapitulation, Vergleichsabschlüsse, Kompromisse. Daran ändert auch nichts, dass solche durch höhere Gewalt bewirkt werden: man fühlt sich frei, empfindet das alles nicht als gewaltsam. Und zu den rasenden Schuldgefühlen, die von den moralischen Instanzen erzeugt werden, muss noch die Lust am Verrat hinzukommen. Zum Verrat an etwas Wertvollem, Echtem. Man hat sich ergeben. Die Erwachsenen ahnen ja nicht, was in den Köpfen und Seelen von Rittern auf der Suche nach dem Gral vorgeht.

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Mitten in unserer modernen „Demokratie“ leben die Kinder unter einer Tyrannenherrschaft – mit deren bekannten Abwandlungen: von übermäßiger Herrschsucht bis zum scheinbar einsichtigen und zurückhaltenden Despotentum, was untereinander keinen erheblichen Unterschied macht. Kinder haben keinerlei Rechte außer den von oben herab diktierten, die jederzeit widerrufen werden können.

Kinder werden in ihrer Eigenschaft als gesetzlich diskriminierte Gruppe in ihrer Gesamtheit körperlich und seelisch bearbeitet und geformt im Hinblick auf ihre spätere Ausbeutung. Die Kinder sind eine unterdrückte Klasse. Sie bilden innerhalb der niederen oder höheren Klasse (je nach Wirtschaftssystem, rassischen oder kulturellen Bedingungen), in die sie zufällig hineingeboren werden, immer die nächstniedrigere Klasse. 

 


* Christiane Rochefort, Kinder, München 1977 (Frankreich 1976), S. 49 f.

Ihr Roman "Zum Glück gehts dem Sommer entgegen" ist ein Klassiker der Kinderrechtsbewegung – einfach schön. Erschienen 1977 (Frankreich 1975)