Bis zu ungefähr zehn, zwölf Jahren trifft man eine Wahl, nicht selten unter heftigen Konflikten.Der Ausgang dieses inneren Kampfes ist von tausend Faktoren abhängig, unter anderem davon, wie viel man von seiner ursprünglichen Lebensenergie hinüberretten konnte, außerdem von der Art und Stärke des ausgeübten Druckes sowie von dem Maß an Liebe, die man für seine Eltern empfindet. Dieser Abschnitt wird vom Psychoanalytiker „Latenzperiode“ genannt. Es wird angenommen, dass während dieser Zeit die Sexualität zurücktritt und das Gedächtnis die Funktion einer Zensur übernimmt.
Die Sexualität muss also wieder mal herhalten, um die gesellschaftliche Kausalität zu verschleiern. Wenn diese Experten jemals wirklich Kinder gewesen wären, dann wüssten sie, dass nichts schwerer zu ertragen ist als die Niederträchtigkeiten, die zu begehen man gezwungen war. Erniedrigung, die schweigend geschluckt wurde. Bei Analysen ohne ödipale Sperre kommt es dann wieder heraus. Es sind keine ruhmreichen Erinnerungen, und man möchte sie lieber vergessen; man denkt nicht gern an so klägliche Erlebnisse zurück.
Am wenigsten tun dies edle und stolze Ritter - und alle Kinder sind Ritter, Mädchen ebenso wie Jungen, solange sie es nicht mit der Angst zu tun kriegen.
Latenzperiode! Eine Periode der
Kapitulation, Vergleichsabschlüsse, Kompromisse. Daran ändert auch
nichts, dass solche durch höhere Gewalt bewirkt werden: man fühlt
sich frei, empfindet das alles nicht als gewaltsam. Und zu den
rasenden Schuldgefühlen, die von den moralischen Instanzen erzeugt
werden, muss noch die Lust am Verrat hinzukommen. Zum Verrat an etwas
Wertvollem, Echtem. Man hat sich ergeben. Die Erwachsenen ahnen ja
nicht, was in den Köpfen und Seelen von Rittern auf der Suche nach
dem Gral vorgeht.
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Mitten in unserer modernen
„Demokratie“ leben die Kinder unter einer Tyrannenherrschaft –
mit deren bekannten Abwandlungen: von übermäßiger Herrschsucht bis
zum scheinbar einsichtigen und zurückhaltenden Despotentum, was
untereinander keinen erheblichen Unterschied macht. Kinder haben
keinerlei Rechte außer den von oben herab diktierten, die
jederzeit widerrufen werden können.
Kinder werden in ihrer
Eigenschaft als gesetzlich diskriminierte Gruppe in ihrer Gesamtheit
körperlich und seelisch bearbeitet und geformt im Hinblick auf ihre
spätere Ausbeutung. Die Kinder sind eine unterdrückte Klasse. Sie
bilden innerhalb der niederen oder höheren Klasse (je nach
Wirtschaftssystem, rassischen oder kulturellen Bedingungen), in die
sie zufällig hineingeboren werden, immer die nächstniedrigere
Klasse.
* Christiane Rochefort, Kinder,
München 1977 (Frankreich 1976), S. 49 f.
Ihr Roman "Zum Glück gehts dem
Sommer entgegen" ist ein Klassiker der Kinderrechtsbewegung –
einfach schön. Erschienen 1977 (Frankreich 1975)