Montag, 21. Oktober 2024

Nichts bieten lassen





Neben mir im Kino* unterhalten sich zwei Leute. Die Trailer laufen, sie quatschen. Der Film fängt an, sie quatschen. Vor ihnen dreht sich jemand um und bittet um Ruhe. Sie quatschen weiter. Langsam werde ich unruhig und meine Aufmerksamkeit geht vom Film weg zu den beiden hin.

Ich kann sie ignorieren. Dann ist es heute eben ein Film mit Quasseln nebenan. Aber ich muss sie ja auch nicht ignorieren. Dabei verstehe ich sie schon. Sie sind aus anderen Gründen im Kino als ich. Sie treffen sich hier, reden miteinander, der Film ist Kulisse, den kriegen sie nicht mit. Und: sie fühlen sich wohl.

Aber ich mich nicht. Wenn ich sie bitte, mit dem Reden aufzuhören, wird ihr schönes Kino-Rede-Erlebnis in etwas Unangenehmes umschlagen. Wer hat das schon gerne, beim Reden gestört zu werden, erst recht beim trauten Reden im dunklen Kino. Ich merke, dass ich mich immer mehr gestört fühle. Es wird darauf hinauslaufen: sie oder ich, ich oder sie. Einer von uns wird sich gestört fühlen. Ich mich, wenn sie weiterquatschen. Sie sich, wenn ich sie drauf anspreche.

Ich verderbe nicht gerne jemandem sein Wohlfühlen. Das lässt mich zögern. Aber dann reicht es mir: es ist mein Kinoabend, und mein Wohlfühlen hat jetzt nach 15 Minuten Film mit Gequatsche Vorrang. Also stehe ich auf, gehe die drei leeren Plätze neben mir zu ihnen hin und sage, dass mich ihr Reden stört. Es kommt eine abmeiernde Bemerkung, Richtung: Ich soll mich nicht so haben. Hab mich aber. Ich reagiere: Dann hole ich die Security. No reaction.

Soll ich wirklich den Dienst holen? Und ob der es schafft, dass nebenan Ruhe einkehrt? Ok, mach ich. Raus aus dem Film, aus dem Saal. Unten ist nur die Reinigungsfrau. „Ist keiner vom Security mehr da?“ Ich merke, wie mühsam es ist, mir mein Wohlfühlen zu beschaffen. Soll ich es bleiben lassen? Nach Hause gehen? Das Gequassel doch aushalten? Ich spiel das jetzt ganz hoch: Wer ist für mein Wohlfühlen zuständig? Hier im Kino, und überhaupt im Leben? Schon klar, meine Verantwortung. Ich kanns ja auch bleiben lassen, mich jetzt zu kümmern. Ich kann mich aber auch kümmern. Hier im Kino und überhaupt im Leben.

Hier jetzt will ich es durchziehen. „Kein Security mehr da? Das gibt’s doch nicht!“. Doch, sagt sie, er ist hinten. Sie will ihm Bescheid sagen. Sie macht einen verlässlichen Eindruck. Und ich habe mich bemüht, wenigstens, wenn es nicht klappen sollte. „Saal 9“, sage ich, „letzte Reihe“. „Er wird kommen“, sagt sie.

Zurück im Kino, Treppen rauf im Dunkeln, hinsetzen, auf die Leinwand sehen, nichts mitkriegen vor Angespanntsein von der Aktion grade. Nebenan Gequatsche. Na ja, ich beginne, mich dreinzufügen. „Hab mich ja bemüht.“ Finde in den Film zurück. Mit Quatschen nebenan. Es bleibt mühsam.

Dann kommt er, der Security-Mann. Stattliche Erscheinung, Marke Rauswerfer. Ich steh auf uns sag ihm mein Beschwer. „Geht in Ordnung!“, sagt er. Ich fühl mich verstanden und geachtet. Heilung meiner wunden Kinoseele. Ob er was erreicht? Er redet zwei Minuten mit dem Pärchen nebenan. „Sie können jetzt in Ruhe den Film sehen“, sagt er zu mir. „Sie werden nicht mehr gestört.“ Er geht, ich sitze und lausche, ob sich nebenan was tut. Nein, tut sich nichts. Ich komm runter und fang an, den Film zu genießen. Na also!

Ich weiß schon, dass ich den beiden anderen den Abend versaut habe. Das ist ein echt blödes Gefühl. Aber anders gings nicht, heute nicht. Echt nicht? Hätt nicht gewusst wie anders. Im Film werden grad auch die Bösen ausgeschaltet, das Gute siegt. Ich bin der Gute. So soll es sein. Und so ist es ja auch. Aber trotzdem hätt ich es gern anders gehabt. So, dass der Filmgauner seine Beute behält und niemand zu Schaden kommt. So, dass die beiden Kinogauner neben mir ihr Wohlfühlgequassel ausleben können und ich mich nicht gestört gefühlt hätte. Ja: im nächsten Leben... Ich fahr dann zufrieden nach Hause. Der Film war gut, und ich war es auch.

 

* Das alles passierte in einem anderen Film als im letzten Post "Vertrau mir!".


Montag, 14. Oktober 2024

Vertrau mir!

 



Ich war in einem Hollywood-Liebesfilm, "After Passion" heißt er. Es kam, wie es kommen musste: „Vertrau mir!“, sagt er zu ihr. Aber es gelingt nicht. Sie wird vom Sog des Misstrauens eingefangen, er kommt nicht dagegen an. Ich, Zuschauer, weiß, dass sie daneben liegt und dass er nichts angestellt hat – aber sie folgt dem Pfad des Misstrauens. Die Liebe flieht aus ihrem Gesicht, Großaufnahme, Unglauben, Schreck und Flucht prägen jetzt ihr schönes Antlitz. So ist das Drehbuch des Films – und so ist das Drehbuch des Lebens, oft genug, leider.

Wie viel Vertrauen habe ich parat, in Dich, und generell? Wie viel Vertrauen habe ich in das Leben? In das Vertrauen? Glaube ich an Dich? Glaubst Du an mich? Vertrauen – ein gefährlich Ding. Denn es lauert der Abgrund der Enttäuschung. Will ich mich auf so eine wackelige Geschichte einlassen? Ich leide im Film mit: Sie vertraut ihm zu Beginn ein wenig, dann immer mehr, dann Hingabe pur - und dann der Absturz. Geht ja gar nicht. Also lass ich das mal mit dem Vertrauen. Absturz ist schaurig. Ich halte mir lieber ein Hintertürchen offen. Vertrauen? Lieber nicht, nicht wirklich. Bin gewappnet gegen den Absturz.

So weit so gut. Ich bin aber nicht so jemand. Ich fahre den Vertrauenskurs, weil ich davon so viel in mir habe. Und wenn es gelingt, dann falle ich auch in die Hingabe. Und Vertrauen mit reinem Herzen ist einfach schön.

„Vertraust Du mir?“ ist eine schwierige Angelegenheit. Die Frage bedeutet ja, dass etwas Ungewöhnliches im Busch ist. Was aber das Band der Liebenden nicht zerreißen soll. Wiewohl offenkundig Unmögliches passiert. Mit dem „Vertraust Du mir?“ wird eine Magie wachgerufen, zwischen zwei Menschen. Auf dass das Unmögliche (Schlimme) nicht passiert oder das Unmögliche (Schöne) erst recht passiert. Und wenn ich dann antworte „Ja, ich vertrau Dir“ – das ist echte Zauberei.

Ich kann mein Vertrauen auch zurücknehmen, dem anderen das Vertrauen entziehen. Klar, das geht. Aber dann muss schon Gruseliges passiert sein. Ich bin nicht der Angestellte oder gar Sklave des Vertrauens. Ich behalte das in der Hand, gehöre wie immer mir selbst. Wenn es nicht mehr stimmig ist, dann wird das Vertrauen dünner und kann ganz gehen. Es liegt an mir. Wie immer.

Im Film geht es der Frau so. Sie vertraut nicht mehr. Sie hört ihren Partner nicht mehr, fühlt sein Herz nicht mehr. Sie folgt Bildern und Botschaften, die aus dem Misstrauensland kommen. Und sie leidet schrecklich: weil er sie verraten hat, wie sie meint (und was nicht stimmt, wie ich Zuschauer weiß). Wenn das Vertrauen sich aufzulösen beginnt – da kann man ja doch noch einmal einen Versuch machen! Aber wie lässt sich der Misstrauensgeist wieder in die Flache stopfen, wenn er in uns herumgeistert? Das haben wir nicht mehr in der Hand, das Ding hat uns in der Hand. Da sind Mächte am Werk, denen auch sie nicht gewachsen ist. Die über sie herfallen und sie bestimmen. Drehbuch, klar, aber im Leben geht es auch so. Liegt doch alles an/bei mir? Schnickschnack!

Diese Mächte der Finsternis, die mein Vertrauen in Dich stören und zerstören: Was soll das? Wer denkt sich so etwas aus? Keine Ahnung. Was machen? Auch keine Ahnung. Wie geht es weiter? Schon klar: ohne Dich eben, ohne uns eben. Was bedeutet? Nichts Gutes, Leid und Schmerz. Aussichten? „Die Zeit heilt alle Wunden“. So soll es sein, und so ist es ja auch.

Aber es kommt auch vor, dass die dunklen Kein-Vertrauen-Wolken unversehens von einem Lichtstrahl der Erinnerung durchbrochen werden. Wie war das noch mit dem Vertrauen, damals? Mit uns beiden? „Bis ans Ende aller Zeiten...“ Liebe ist eine so starke Macht. Und zum Schluss des Films geraten die beiden wieder in ihre Magie, er geht auf sie zu und sie lässt ihn das tun. Ihr Vertrauen kommt zurück. Ihr Antlitz wird wieder so schön. Aufgewühlt und glücksberührt fahre ich nach Hause.

 

Montag, 7. Oktober 2024

Das pädagogische Tabu

 


 

Wie kommt es, dass wir uns die Frage nach der Selbstverantwortung des Kindes nicht stellen? Die einfachste Antwort darauf ist, dass es eben eine völlig sinnlose Frage ist. Denn da Kinder nicht Verantwortung für sich übernehmen können, braucht man auch nicht danach zu fragen. Ja, eine Frage danach wäre ein unsinniger Gedanke, so, wie wenn man etwas sieht, das gar nicht existiert.

Diese Antwort wird uns von dem traditionellen Umgang mit Kindern gegeben und von der zugehörigen Wissenschaft, der Pädagogik. Es ist so, dass sich diese Lehre vom Umgang mit Kindern auf Sätzen wie diesen aufbaut: „Kinder können nicht wissen, was für sie gut ist.“ „Kinder können keine Verantwortung für sich übernehmen.“ „Erwachsene tragen für Kinder die Verantwortung.“ Man schiebt dann ein „noch“ ein: Die Kinder können es noch nicht. Erst, wenn sie gelernt haben, selbstverantwortlich zu sein, erst wenn sie reif genug und erwachsen sind, werden sie selbstverantwortliche Menschen sein können.

Die traditionelle Haltung ist von einem Tabu geprägt: „Erkenne nicht die Fähigkeit des jungen Menschen, Verantwortung für sich übernehmen zu können.“ Es ist wie mit einem Bann belegt, dies zu bemerken und darüber nachzudenken. Wie entstand das pädagogische Tabu? Wie konnte es geschehen, dass den Erwachsenen die Selbstverantwortungsfähigkeit des jungen Menschen in Vergessenheit geriet?

Nun, der Umgang mit Kindern ist tief in einer Haltung verwurzelt, in der Menschen sich berechtigt fühlen, über andere Menschen Herrschaft auszuüben. Die Position, die Kindern die eigene Verantwortung abspricht und stattdessen Erwachsenen die Verantwortung zuspricht kommt aus dieser Herrschaftstradition, aus dem jahrtausendealten Patriarchat.

Wenn man andere unterwerfen will, dann ist es die sicherste Methode, wenn diese selbst daran glauben, dass es für sie richtig ist, beherrscht zu werden. Und genau so wird mit uns verfahren. Als Kinder bekommen wir unser ganzes Kinderleben lang gezeigt, dass es unumgänglich ist, wenn andere – Erwachsene – uns führen, über uns bestimmen, sich für uns verantwortlich fühlen, uns die Verantwortung abnehmen. „Zu unserem eigenen Besten.“

Das pädagogische Tabu wird von den Erwachsenen nicht gespürt, die ein erzieherisches Selbstverständnis und einen pädagogischen Anspruch haben. Sie sind erfüllt von dem „Ich weiß, was für Kinder gut ist“, sie fühlen sich für die Kinder verantwortlich und bestimmen über sie „zu ihrem Besten“. Sie verstehen deswegen zunächst nicht, wovon die Rede ist, wenn man die Selbstverantwortung des Kindes ins Gespräch bringt.

Es gibt dann entrüstete Proteste. Wie stets, wenn man an ein Tabu rührt. „Sie wollen damit doch nur provozieren, auf Kosten der Kinder.“ Diese Erwachsenen haben ihr Zusammenleben mit Kindern an diesem Tabu ausgerichtet, und sie fühlen sich tatsächlich verantwortlich für Kinder. Lassen sie sich dennoch gewinnen? Gewinnen womit? Enttabuisierung ist ein schmerzlicher Prozess. Man muss ja etwas aufgeben, was bisher unverrückbar zum Selbstverständnis und Weltbild gehört. Es stürzt etwas ein – wie wird das Neue sein? Es muss eine sinnvolle und befriedigende Alternative geben.




 

Montag, 30. September 2024

Amication und Glück




Kann man mit Amication glücklich werden? Ist Amication eine Garantie für Glück? Jemand, der die amicative Lebensführung gutheißt, kann durchaus Erwartungen in diese Richtung haben. Dass das Leben jetzt leichter wird, dass alles besser klappt, dass eben allgemein mehr Glück stattfindet.

Durch die Amication verschwinden nun tatsächlich viele Belastungen. Man glaubt wieder an sich und an seinen Wert und daran, dass man niemals wirklich Fehler machen kann. Und erkennt seine letztlich eben doch vorhandene Konstruktivität. Man sieht die Kinder mit diesen anderen – amicativen – Augen: Dass sie ihre eigene Innere Welt haben, die man grundlegend achtet. Man erkennt ihre Würde und Einmaligkeit. 

Das alles befreit und bringt Leichtigkeit und Lächeln, als verfügbare Grundstimmung. So etwas wird bewusst, wenn man andere Familien mit dem traditionellen Umgang erlebt oder wenn man sich an alte Zeiten vor der amicativen Wegmarke erinnert. Also: Da ist durchaus Glück.

Aber dieses Glück ist kein Donnerschlag wie die große Liebe oder der Ausbruch des Weltfriedens. Nichts gegen die großen Glücksdonner – aber das leistet Amication nicht. Amication ist auch nicht das Instrument, um die mittleren Glücke zu bekommen. Amication verschafft nicht solches Glück – das kommt von woanders her. Glück fällt entweder vom Himmel oder man muss etwas dafür tun. Selbstverantwortlich von Geburt – die Grundposition der Amication – gilt auch in der Glücksfrage, und das bedeutet, dass ein jeder auch für sein Glück selbst zuständig ist. 

Man kann also keine Glückswunder von der Amication erwarten, sondern man muss sich schon selbst um sein Glück bemühen. Und da gibt es unzählige persönliche Wege, denn das Glück des einen ist nicht die Richtschnur für das Glück des anderen. Doch wenn auch ein jeder sein Glück auf seine Weise realisiert – amicative Menschen verbindet der amicative Glücksstaub zwischen den Zeilen des Lebens.


 

Montag, 23. September 2024

Kraft der Erinnerung

 


Amicative Menschen lebten lange Zeit im pädagogischen System mit den destruktiven Oben-Unten-Strukturen. So etwas wirkt nach, beim einen mehr, beim anderen weniger. Das Alte kann einen immer wieder einholen. Entweder aktiv: Ich gebe Dir die Schuld. Oder passiv: Ich bekomme ein Schuldgefühl.

Bei diesen Fallgruben wird das Selbstwertgefühl mitunter so dünn, dass es nicht mehr wahrgenommen wird, vor allem, wenn man selbst der Empfänger pädagogischer Attacken ist. Der Sturz in diese Fallgrubender pädagogische Rücksogtut weh, und dagegen gibt es kein Patentrezept. Allerdings: nach einer mehr oder weniger langen Zeit gelingt es amicativen Menschen, sich all der Erkenntnisse und Orientierungen zu erinnern, zu denen man sich bekennt, und mit dem Erinnern kommt auch das Selbstwertgefühl zurück.

Erinnerung – an die gesamte Neue Welt – ist eine wichtige Hilfe, um auf dem amicativen Weg voranzukommen und ein wirksames Mittel gegen den pädagogischen Rücksog.  



Montag, 16. September 2024

Amicative Medizin

 


„Du übersiehst das Bemühen von Eltern und Fachleuten, neue kinderfreundliche Wege zu erkunden, erste Schritte zu tun weg vom Oben-Unten hin zur Beziehung auf gleicher Augenhöhe. Du bist so pauschal und so schwarz-weiß: Nur Amication ist richtig. Irgendwie arrogant und kontraproduktiv, denn Du willst doch Menschen für die Amication gewinnen.“

Also: Da übersehe ich nichts. Auf meinen Veranstaltungen erlebe ich immer wieder Eltern und Fachleute, die sich zu lösen beginnen vom traditionellen Erziehungs-Oben-Unten. Intuitiv, ohne Theorie, mit dem Herzen fühlend, absprungbereit, erste Schritte wagend, oder schon voll im (nicht)pädagogischen Neuland unterwegs. Dies ist für mich anrührend zu sehen, und ich wünsche mir viele viele solcher Erwachsener.

Meine Texte und meine Vorträge und Seminare sind voll Klarheit und Wahrheit: Erziehung hier - Nicht-Erziehung/Amication/Postpädagogik dort. Mit intellektueller Kraft sehe ich den Unterschied, und ich trage diesen Erkenntnisimpuls gern und beschwingt weiter und male freudig meine Wortbilder. Ohne Intuitives herabzusetzen, ohne das Suchen, Fragen, Beginnen, Zweifeln abzutun!

Und bei all meiner intellektuellen Klarheit nehmen meine Zuhörerinnen und Zuhörer auch meine Herzenswärme wahr, aus der heraus ich all dies überhaupt erst hervorhole. Ich bin als Botschafter unterwegs, als Kind im Erwachsenenland. Meine intellektuelle Trennschärfe wird von den meisten Menschen, die mir zuhören, gern angenommen, durchaus auch staunend, dass das, was sie spüren, bereits einen solchen fulminanten Überbau hat.

Das hätten sie nicht gedacht! Und sie sagen, dass ihnen das hilft, weiter auf ihrem Weg zu den Kindern zu gehen, dem Weg, den sie als für sich richtig erfühlt haben. Und sie bedanken sich für diese Hilfe beim Emanzipieren von all den Normen eines „richtigen“ Umgangs mit Kindern, die in ihnen rumspuken und die so viel Macht über sie haben.

Und die von so vielen einflussreichen und renommierten Persönlichkeiten zustimmungsfordernd daherkommen, von

Aebli, Böhm, Bosco, Brezinka, Brunner, Cohn, Comenius, Dewey, Diesterweg, Dilthey, Flitner, Freinet, Fröbel, Ftenakis, Gagné, Gordon, Herbart, Humboldt, Jegge, Juul, Kant, Kerschensteiner, Klafki, Korczak, Hentig, Litt, Makarenko, Meves, Mollenhauer, Montessori, Neill, Nohl, Pestalozzi, Piaget, Pikler, Pawlow, Petersen, Platon, Prekop, Reich, Rousseau, Roth, Schleiermacher, Skinner, Sokrates, Spranger, Steiner, Uschinski, Wild, Wyneken, Ziller, Zulliger, Hinzius und Kunzius.

Forderungen, die in all den Fachbüchern und Erziehungsratgebern stecken, dass den Müttern und Vätern ganz schwindelig wird. Ganz abgesehen davon, was sich in ihnen angebraut hat, wie sie sein sollten, als ihr erstes Kind kam. Sie wollen sich davon lösen, weil sie das alles ungut finden. Und da komme ich ins Spiel und biete ihnen halt etwas Medizin an, damit sie ihr Gleichgewicht besser halten können. Eine spezielle Mixtur aus Intellekt und Emotion, Emanzipation und Gelassenheit, Selbstliebe und Empathie, Zweifellosigkeit und Überzeugtheit.

Diese amicative Medizin ist dem einen süß, dem anderen bitter. Ich aber freue mich, wenn sie hilft.


 

Montag, 9. September 2024

Vertrauen

 


Eine Studentin schrieb nach ihrem Besuch unseres Familienseminars:

 

Amication hat viel mit Vertrauen zu tun, eine wirkliche amicative Beziehung – und nicht nur zu Kindern – braucht eine wirkliche Vertrauensbasis.

Joschas Augen dürfen nicht zu viel der Sonne ausgesetzt sein, deswegen trägt er eine Schirmmütze. Im Laufe des Nachmittags beobachte ich einige Male, wie seine Mutter ihm die Mütze, die er im Spieleifer verloren hat, wieder aufsetzt. Sie tut es beiläufig, ohne den Unterton „Kannst Du nicht aufpassen!“, und Joscha setzt sie ebenso beiläufig wieder auf, die Angelegenheit wird nicht zum angstvollen Problem.

Vertrauen darauf, dass die Mütze ihm wirklich nur aus Versehen herunterfällt, und vertrauen darauf, dass seine Mutter einen Grund hat, sie ihm wieder aufzusetzen.

Wenn ich Kindern aber plötzlich etwas zutrauen muss, was ich ihnen in Wirklichkeit gar nicht zutraue, dann wird es anstrengend – und unecht. Sich in gegenseitigem Wechselspiel „Ich tue nur, was ich will, Du musst nur das Gleiche tun“ zuzurufen, scheint nicht auszureichen. Amication hat ebenso viel mit Sensibilität zu tun, Situationen müssen immer wieder neu erspürt werden – ganz subjektiv und ohne aufgesetzten Maßstab.

Ich kann amicatives Verhalten nicht inszenieren und nicht darstellen, nicht zeigen, dann wird es zum Zwang. Ich kann den amicativen Anspruch intellektuell formulieren ohne ihn intuitiv begriffen zu haben.

Jeder Mensch weiß, was für ihn das Beste ist, und ist auch in der Lage, dies zu signalisieren – wenn wir darauf hören. Darauf hören können – und wollen.

Am Tisch sitzt Norbert mit seinem Baby, unterhält sich mit einer weiteren Teilnehmerin, sie blättert im Buch „Unterstützen statt erziehen“. Das Baby hält in der einen Hand seine Flasche und trinkt genüsslich, während es mit der anderen über sich greift, Norberts Gesicht streichelt, durch seine Haare fährt und dem Gespräch zu lauschen scheint, ohne es zu stören. Es herrscht auch hier diese entspannte, zärtliche Beiläufigkeit.

Man spürt das gegenseitige Vertrauen. Eigenverantwortung nicht in Frage stellen, sich nicht mit erzieherischem Zeigefinger und einem „Ich weiß besser als Du, was gut für Dich ist“-Unterton über das Kind stellen – es ist wirklich eine Gefühlssache.

Montag, 29. Juli 2024

Sommerpause

 


Ich bin in den Sommerferien, der nächste Post kommt Mitte September. 

Habt alle eine schöne Zeit!

 

 

 

 

 

Montag, 22. Juli 2024

Universumsangestellter

 

 

„Es geschieht doch alles sowieso so, wie es geschehen soll. Da kann ich doch gar nichts beeinflussen.“ Ein Statement auf einer Vortrags-Aussprache, als es darum ging, dass jeder für sich selbst verantwortlich ist und dass jeder sein eigener Chef ist.

Na ja, dachte ich, bin ich nun die Marionette des Schicksals/Universums/höherer Mächte oder gehöre ich mir selbst? Die Amication ist da eindeutig: Ein jeder gehört sich selbst und ist für sich verantwortlich. Und Punkt.

Aber. Man kann es sich ja auch so zurechtlegen: Kann schon sein, dass alles so geschieht, wie es geschehen muss. Ich bin dann eingewoben in diesen Sowieso-Prozess. Meine Entscheidungen, mit Chefgefühl vor mir und für mich verantwortet, quellen irgendwie, auf geheimnisvolle Weise aus dem Universum hervor, „es“ durchdringt mich und dann handele ich so, wie ich handle (geht zum Beispiel rechts herum zum See). 

Ich hätte auch anders entscheiden können (links herum), habe ich aber nicht. Die Wahl habe ich schon, Chefgefühl. Aber kommen muss es so, wie es kommen muss, egal ob rechts oder links herum. Wenn rechts herum, dann eben rechts herum (meine Entscheidung), wenn links herum, dann eben links herum (meine Entscheidung).

Ich bin mir sicher, dass ich entscheide, und dass ich es bin, der entscheidet. Und wenn mein Entscheidungen (meine Chef-Entscheidungen) in Übereinstimmung mit irgendeinem großen Plan stehen, ok, egal, dann eben. Irritiert mich nicht, wenn das so sein sollte. Bricht mir keinen Zacken aus der Krone.

„Spielt es wirklich eine Rolle?“ habe ich geantwortet. Und gemerkt, dass es für mich keine Rolle spielt, ob ich Universumsangesteller bin oder Universumschef. Ich tu eh, was ich vor mir verantworte. Wenn sich dann irgendwann einmal rausstellen sollte, dass ich da nur machte, was sowieso gemacht werden musste - ja mei! Dann soll es so sein und stört mich nicht.

„Aber dann ist so ein amicatives Chefgefühl doch pure Illusion!“ Puh – und wenn schon. Wer will das denn wissen? Überhaupt, was für ein merkwürdiges Gedenke. Muss ich das haben? Muss ich nicht. Bin halt auf dem Vortrag drauf angesprochen worden. Und das will ich ja auch nicht schlechtreden und steig mal drauf ein.

Jedenfalls bin ich gerne mein eigener Chef und genieße meine Selbstverantwortung. Und wenn meine Entscheidungen in irgendeinen großen Plan passen oder mir von dort rübergereicht werden: Auch gut, ändert nichts an meiner Zufriedenheit. Sitze ich einer Illusion in Sachen freie Entscheidung, Chef und Co auf? Wenn man keine anderen Probleme hat! Ich mach mich da ein bisschen lustig drüber, über die Universumsspürer und spirituellen Pfadfinder, bei allem Respekt. „Bleiben Sie auf dem Teppich“ habe ich gesagt, „das spielt doch für unser kleines konkretes Leben im Hier und Jetzt keine wirkliche Rolle.“ Ist es so? 

So einfach? Warum denn nicht.

 

Montag, 15. Juli 2024

Gruni

 



Mit lauten Knall wachte Gruni auf. Er rieb sich die Augen und sah an sich herab. Sein Fell war schwarz, und seine fünf Füße waren gelb. Das war nichts Besonderes. Gruni sah aus wie eine Mischung aus Fuchs und Eichhörnchen, und er hatte fünf Beine und drei Ohren. Die Ohren waren rot, blau und orange.

Sein Freund, der grüne Prachtkäfer, war erschreckt hochgefahren, als Gruni mit dem Knall aufwachte. „Was ist los?“, fragte er verschlafen. „Es ist Mogudazeit“, antwortete Gruni. Er sprang von seinem Schlafast und huschte über die Höhle zur Quelle. Er tauchte ein, trank und spritzte den Prachtkäfer nass. Sie rannten über die Lichtung, und in der Radkappe machten sie halt.

 Das Wetter ist schön“, stellte Gruni zufrieden fest. Der Prachtkäfer nickte. Sie warfen den Stemmmast, und als er in die Richtung der Schwäne fiel, sahen sie sich bedeutungsvoll an. Sie klopften an die Radkappe, und schon flogen sie zu den Schwänen. Sie landeten bei Hofua, dem sechsten Schwan, und sie schenkten ihm rosa Farbe von dem vierten Ohr Grunis, das er im Rucksack bei sich führte.

Der Schwan nahm die rosa Farbe, bestrich damit eine alte Feder und hörte hinein. Die Feder berichtete ihm, dass hinter dem Glasberg ein Schwan abgestürzt sei und auf Hilfe wartete. Der Schwan bedankte sich sich bei Gruni und dem Prachtkäfer und flog fort.

Gruni warf die Radkappe in die grüne kleine Pfütze, und der Prachtkäfer zählte die Worte, die aus der Pfütze kamen. „Es sind siebenundvierzig“, sagte er zu Gruni. Sie spannen aus den siebenundvierzig Worten ein Floß und segelten mit ihm durch vier Zeitwinde. „Das liegt an der Mogudazeit“, vermutete der Prachtkäfer. Deswegen kamen sie nicht so rasch vorwärts. Es wurde dunkel, und als der dritte Mond untergegangen war, legten sie sich zum Schlafen.

Gruni wachte wieder mit einem lauten Knall auf. Sein Fell war schwarz und seine fünf Füße waren gelb. Seine Ohren leuchteten rot, blau und orange. Nur der grüne Prachtkäfer war nicht mehr da. „Suchst Du ihn?“, fragte die Eule. „Nein“, antwortet Gruni, „ich habe ihn.“ Er drehte sich immer schneller um sich selbst, und als sein Schlafast anfing, sich mitzudrehen, fiel er in den Ast und begegnete dem Prachtkäfer in seinem Gang. „Komm“, sagte der Prachtkäfer, „lass uns diesen Ausgang nehmen.“

Sie gelangten auf eine rosa Wiese, und sie sahen, dass der Schwan seinem kranken Artgenossen den Flügel verbunden hatte. Gruni gab wieder etwas rosa Farbe ab, und die Gräser der rosa Wiese begannen vor Freude zu niesen. Gruni setzte sich neben den grünen Prachtkäfer, und ihre Morgenquelle hielt die beiden Schwäne im Arm. Sie sahen zu, wie die Sonne den zweiten Mond ablöste, und sie begannen mit ihrem Frühstück. Sie verschenkten Tee an die Halme, und sie lachten im Morgenwind.

 

*

Aus meinem Buch „Fuchs Schneeflocke. Zauberhafte Gute-Nacht-Geschichten“


 

Montag, 8. Juli 2024

Nicht erziehen - das soll das!



 

Mein Freund Bogdan, Pädagogik-Professor an der Universität Lodz in Polen, wird zu seinem 70. Geburtstag mit einer Festschrift geehrt. Ich kann mit einen Beitrag mitmachen. In meinen Texten finde ich etwas, das ich den dem Fachpublikum gern vorstellen möchte. 

Den ersten Teil meines Beitrags habe ich in den letzten Post gestellt. Hier der zweite Teil. 

 *

Nicht erziehen - das soll das!

Interpretationen, Bilder vom Menschen, können sich als überholt erweisen.

Zum Beispiel die Sicht, dass jemand mit schwarzer Haut ein nicht so richtiger und wertvoller Mensch ist wie jemand mit weißer Haut und dass er sich zum Sklaven
eignet. Oder die Sicht, dass Männer die richtigeren und wertvolleren Menschen sind, und dass man deswegen den Frauen das Wahlrecht nicht zubilligen darf. Oder die Sicht, dass nur der König die Staatsgeschäfte richtig führen kann, nicht das Volk. Oder, oder, oder. Menschenbilder gibt es viele, doch stets sind sie Hypothesen, Bilder – niemals jedoch bewiesene Tatsachen des Lebens.

Die pädagogische Sichtweise auf das Kind ist auch nichts anderes als eine solche anthropologische Hypothese. Sie ist nicht wirklich zu beweisen, aber sehr wohl als Grundlage für den Umgang mit Kindern geeignet und bewährt.

Bis eine neue anthropologische Hypothese auftritt und das alte Bild und die vertraute Basis in Frage stellt. Bis jemand kommt, der die pädagogische Sicht vom Kind nicht mehr akzeptiert und einen nicht pädagogischen Weg zu den Kindern sucht. Und findet. Und entsprechend seiner neuen Hypothese zu leben beginnt. Und nicht scheitert, sondern Erfolg hat. Und genau solche Menschen gibt es heutzutage.

Diese Menschen kommen aus der konstruktiven Postmoderne, in der die Gleichwertigkeit aller Phänomene als Grundlage erkannt wird. Niemals steht etwas wirklich über dem anderen, Weiße nicht über Schwarzen, Männer nicht über Frauen, Regierende nicht über Regierten, Menschen nicht über der Natur, Philosophien nicht über Philosophien, Religionen nicht über Religionen, Kulturen nicht über Kulturen. Und auch nicht Erwachsene über Kindern.

Wenn das Paradigma der Gleichwertigkeit ernst genommen und zur Grundlage gemacht wird, dann gibt es den Unterschied von einem vollwertigen Menschen (dem Erwachsenen) und einem noch nicht vollwertigen Menschen (dem Kind) nicht mehr – sondern es wird gesehen, dass beide auf einer gleichen Plattform stehen, der Plattform des vollwertigen Menschen. 

Und dann hat eine missionarische Haltung, wie sie jeglicher Erziehung zugrunde liegt, keinen Platz mehr. Dann werden Kinder nicht mehr erzogen, dann lebt etwas anderes als Erziehung zwischen Erwachsenen und Kindern: personale Beziehungen, wie bei allen anderen Menschen auch.

 



Montag, 1. Juli 2024

Nicht erziehen - was soll das?

 

 

Mein Freund Bogdan, Pädagogik-Professor an der Universität Lodz in Polen, wird zu seinem 70. Geburtstag mit einer Festschrift geehrt. Ich kann mit einen Beitrag mitmachen. In meinen Texten finde ich etwas, das ich dem Fachpublikum gern vorstellen möchte. 

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Nicht erziehen - was soll das?

Die Kinder sind da, die Erwachsenen sind da, die Gesellschaft ist da, voller Werte, Orientierungen, Grenzen, Herausforderungen. Es ist alles bereitet und bereit, wenn ein Kind geboren wird. Das Abenteuer Leben kann beginnen. Eltern lieben ihre Kinder, sind Ressource und Trost, Unterstützung und Stützpunkt, wozu um alles in der Welt braucht es da noch Erziehung?

Nun, Erziehung ist eben mehr als das Selbstverständliche. Erziehung ist etwas Besonderes. Erziehung ist die Aufgabe und der Auftrag, dafür zu sorgen, dass die Kinder gelingen. Dass sie richtige, vollwertige Menschen werden. Erziehung ist Sendung, eine kulturelle und zivilisatorische Mission: aus Kindern Menschen zu machen; sie zu bilden, formen, lenken, ihnen die richtigen Werte mitzugeben und sie an ein Verhalten zu gewöhnen, das sie überlebenstüchtig macht.

Erziehung ist unverzichtbar, ohne Erziehung gibt es Chaos und Unglück. Es braucht heutzutage mehr und vor allem bessere Erziehung, bessere Methoden, bessere Bücher, bessere Seminare. Sind daran Zweifel erlaubt? Jeder weiß, was passiert, wenn zu wenig erzogen wird ... wenn überhaupt nicht mehr erzogen wird – so etwas ist außerhalb des Vorstellbaren.

Wer sollte auch ernsthaft auf die Idee kommen, mit der Erziehung aufzuhören? Dieser Gedanke ist abwegig und ein schlechter Witz. Gegen diesen Gedanken stehen nicht nur die pädagogische Wissenschaft, die zigtausend Erziehungsbücher, das Engagement der unzähligen pädagogischen Professionellen, sondern auch die Lebenserfahrung und der Blick in die Geschichte. 

Aber genau dieser Gedanke soll hier gedacht werden. 

Nein, nicht der Gedanke vom Ende der Erziehung, der ins Chaos führt. Sondern ein anderer Gedanke vom Ende der Erziehung: ein Gedanke, der einen neuartigen und konstruktiven Weg für Erwachsene und Kinder öffnet.

Es beginnt mit einem Nachsinnen über das Bild vom Kind. Woher wissen Erwachsene, was Kinder sind und wie sie mit ihnen umgehen sollen? Wer kennt sich aus und wen kann man fragen?

Als die Erwachsenen selbst Kinder waren, haben sie von ihren Eltern gelernt, was es für ein Bild vom Kind gibt: das Bild von einem jungen Menschen, der Erziehung braucht, um ein richtiger Mensch zu werden.

Aber – und hier setzt das Nachsinnen ein – dies ist nur ein Bild, eine Vorstellung, eine Vermutung, eine Hypothese. Gewiss, diese Hypothese hat sich bewährt, alles läuft darauf hinaus, dass Kinder Erziehungsmenschen sind und Erziehung brauchen, und jeder verhält sich so. Aber Kinder tragen kein Schild auf der Stirn mit der Aufschrift »Ich brauche Erziehung«. Erwachsene sehen diese Aufschrift, aber sie ist nicht real da, sondern nur im gewohnten Blick, in der gewohnten Interpretation vom Kind.

Und Interpretationen, Bilder vom Menschen, können sich als überholt erweisen.

 

 

*

Fortsetzung des Texts im nächsten Post.

 

Montag, 24. Juni 2024

Vortrag "Ich muss gar nichts!"

 

 

In meinen Vorträgen „Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen“ zeige ich einen neuen (amicativen) Blick auf die Kinder und unsere Beziehungen zu ihnen. Die amicative Position, dieser neue Blick, entlastet Eltern. Neulich bedankte sich eine Mutter, sie fand den Gedanken, dass sie ja eigentlich nichts wirklich muss – sondern kann und will, einfach befreiend. Ihre Souveränität war wieder da, all die Anforderungen an eine „gute“ Mutter hatten keine Macht mehr über sie. Sie selbst fühlte sich wieder als Chefin des Unternehmens „Kinder großziehen“.

Und ich dachte: „Vielleicht biete ich den Abend ja einmal offensiv unter dieser befreienden Überschrift an, egal, wie missverständlich bis utopisch sich das auf den ersten Blick ausnimmt. Außerdem könnte ich auch einen guten Text dazu schreiben.“ Der Gedanke nahm Gestalt an, und in einigen Kindergärten gibt es jetzt neben dem Klassiker „Kinder sind wunderbar“ schon den Elternabend „Ich muss gar nichts!“. Hier ist der Einladungstext, der in der Kita ausgehängt oder per Mail oder SMS verschickt wird.

 

 

 

Elternabend

Dienstag, 1. Oktober 2024

19:30 Uhr

 

Dr. Hubertus von Schoenebeck

Ich muss gar nichts!

Unterstützen statt erziehen

Vortrag mit Gespräch


Eltern sind immer wieder am Limit: „Mache ich das richtig? Die Kinder tun einfach nicht das, was sie sollen.“ Ja, Erziehung ist anstrengend. Hier kann ein neuer Blick auf das tägliche Theater helfen: „Unterstützen statt erziehen“. Seit Millionen Jahren haben Eltern ihre Kinder großgezogen, und selbstverständlich können Sie das auch.

Der Abend zeigt Ihnen, wie Sie mit einem großen Stück Gelassenheit und frechem Mut all den Zweifeln begegnen können: „Ich muss gar nichts!“. Sie lieben Ihre nervigen Kleinen, mehr muss doch gar nicht sein. Der Rest ergibt sich, ein Nein ist ein Nein, und wenn die Sonne scheint, gibt es ein Eis extra.

Lassen Sie sich nicht ins Bockshorn jagen: Sie sind eine wunderbare Mutter und ein wunderbarer Vater. Ich erzähle Ihnen von diesem Selbstvertrauen, es will nur einmal angedacht sein, dann wird das schon. Ich habe sechs Kinder und neun Enkel, lassen Sie sich an dem Abend zu der Kraft entführen, die in allen Eltern steckt. Nur Mut!

Dr. phil. Hubertus von Schoenebeck. Ich habe als Lehrer gearbeitet, bin Sachbuchautor zu Erziehungsfragen und seit über 30 Jahren in der Familienbildung tätig. Ich halte einen kurzweiligen Vortrag und freue mich auf Ihre Fragen.


Montag, 17. Juni 2024

Meine Doktorarbeit




Für meine Doktorarbeit (Dr. phil.) nahm mir zweieinhalb Jahre Zeit und führte eine Feldstudie über nichtpädagogische Beziehungen durch. Also eine praktische Arbeit mit Kindern. Die Forschungskinder waren drei bis 18 Jahre alt. In kleinen Gruppen, jeweils im gleichen Alter. Also zwei Dreijährige, drei Vier- bis Sechsjährige, dann Sieben- bis Neunjährige und so weiter. Wir trafen uns nachmittags, an Wochenenden und in den Ferien in meinem Ferienhaus.

Wie realisierte ich das? Nach dem Prinzip des „Einfach-So“, wie ich das nannte. Ich kam mit meinem Käfer zur festgesetzten Zeit zu den Treffpunkten. „Was machen wir heute?“ Sie hatten Vorschläge. Wenn nichts kam, hatte ich welche. Irgendetwas passierte dann. Ab in den Wald, Baggerloch, alter Steinbruch, Felsenklettern, Abenteuerböschung, Kanal, Fluss, Geländespiel, Bumerangwerfen, meine Wohnung, Monopoly, Jugendzentrum, Rudern, Bäumeklettern, Zoo, Pferde, Disco, sonst was. 

Rumfahren im Auto und dabei Quatschen war sehr beliebt, ich chauffierte und hörte zu. Und immer wieder einfach Abhängen, passte immer. Mit was zu Futtern aus meinem Picknickkorb. Oder aus der Pommesbude. Von nachmittags um drei bis abends um sechs, sieben, acht oder neun, das Ende setzten sie selbst fest.

Die Kinder machten ihr Ding, ich war dabei, als „Gast im Kinderland“, machte mit oder auch nicht. Ich war akzeptiert und gemocht und störte sie nicht. Vor allem: Ich war nicht distanziert, ich beobachtete sie nicht mit weißem Forscherkittel. Ich war eingebunden, ich erlebte mit. Ich war ganz da, die Person, die ich bin. Ich dirigierte sie nicht, ich nahm mich aber auch nicht zurück. Und wenn mir etwas nicht passte, dann sagte ich das auch. 

Kurzum, ich ging mit ihnen so um, wie ich mit meinen erwachsenen Freunden auch umgehe: auf gleicher Augenhöhe. Es war ein großes Abenteuer in einem fremden und zugleich vertrautem Land.

Ich nahm das alles in mich auf. Und nach und nach wurde es klarer und dichter: So – so sind sie, die Kinder. Und so – so komme ich mit ihnen zurecht, wenn ich sie nicht pädagogisch sehe und angehe, sondern authentisch mit ihnen unterwegs bin. 

Was das „so“ bedeutet? Tja! Was bedeutete das „so“ im gleichwertigen Umgang mit Afrikanern? Mit Frauen? Mit einer anderen Religion? Mit der Natur? Das lässt sich nicht in drei Worte fassen. Ich notierte dazu 782 „Determinanten“, Orientierungen für unser gleichwertiges Miteinander. Das „so“ ist eine besondere Qualität des Miteinanders.

Ich lernte also, worauf man achten muss, wenn man mit Kindern gleichwertige Beziehungen realisieren will. Wo sind die Ecken und Kanten? Ich fand es heraus. Meine Doktorarbeit wurde anerkannt mit „magna cum laude“, sehr gut. Ich war Doktor der Philosophie.


 

 

Montag, 10. Juni 2024

Selbst-Verantwortungs-Training: Lernen in der Gruppensitzung


 

In den letzten Posts habe ich über das "Selbst-Verantwortungs-Training" geschrieben. Dabei ging es um Inhaltliches. Aber wie sieht das alles konkret aus?

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Lernen in der Gruppensitzung

Die Entfaltung der Selbstverantwortung findet in den Gruppensitzungen statt. Hier sind Menschen zusammengekommen, die mit Hilfe einer speziellen Psychodynamik lernen möchten, ihre Selbstverantwortlichkeit neu anzuwenden.

Das Zusammensein mit den anderen in der Gruppensitzung konfrontiert die einzelnen immer wieder mit diesen Fragen:

Was will ich hier eigentlich – in diesem Kreis?
Wie kann ich hier das tun, was ich will?
Was will ich wirklich?

Die vielen kleinen und großen Geschehnisse einer Gruppensitzung setzen jede und jeden Teilnehmenden einem Ansturm von Entscheidungssituationen aus. Dabei erleben sie immer aufmerksamer, dass tatsächlich jede und jeder einzelne für alles und jedes, was sie hier tun oder lassen, selbst die Verantwortung tragen:

Soll ich auf dem Stuhl oder auf dem Kissen sitzen?
Will ich, dass das Fenster offen oder geschlossen ist?
Soll das Licht ein oder ausgeschaltet sein?
Soll ich diese Frage stellen?
Diese Antwort geben?
Diesen Wunsch äußern?
Diesem Vorschlag folgen?
Diesem Gespräch weiter zuhören?
Diesen Dialog unterbrechen?
Dieses Gefühl mitteilen?
Was will ich wirklich?

Die Gruppensitzung ist voller Chancen, sich selbst immer wieder als die und den eigentlich Verantwortlichen für das eigene Verhalten zu entdecken: So wird die Selbstverantwortung in kleinen und kleinsten Schritten nebenbei und unthematisiert trainiert.

„Soll ich weiter an der Gruppe teilnehmen oder nicht?“ Jede und jeder legen den Umfang ihres Trainings selbst fest. Während die einen nicht genug von der Psychodynamik der Gruppe bekommen können und ihnen jede Sekunde wichtig ist, schätzen andere die Möglichkeit des Rückzugs und die Situation außerhalb der Gruppe. Und alle haben auch stets die Möglichkeit, das psychodynamische Lernen in der Gruppe wieder aufzunehmen.

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Das Selbst-Verantwortungs-Training habe ich ausführlich und im Detail auf meiner Website vorgestellt, www.amication.de

Das diesjährige Selbst-Verantwortungs-Taining findet vom15. bis 17. November 2024 in Sprockhövel bei Wuppertal statt. Ich werde dabei der Garant sein. Anmeldungen können über meine Website "amication.de" unter "Seminare" vorgenommen werden.


 

Montag, 3. Juni 2024

Selbstverantwortung und Selbst-Verantwortungs-Training

 

 

In diesem Post schreibe ich wieder etwas über das Selbst-Verantwortungs-Training. Es wird klar, warum ich diese Gruppendynamik "Selbst-Verantwortungs-Training" genannt habe.

Das Selbst-Verantwortungs-Training ist eine amicative Gruppendynamik, die in Gruppensitzungen durchgeführt wird, es ist auf meiner Website „amication.de“ ausführlich und im Detail beschrieben.

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Wie jeder Organismus hat auch der Mensch die Energie, sich in der Umwelt zu behaupten und sich für die eigenen Bedürfnisse einzusetzen. Und wie jedes Lebewesen spürt auch jeder Mensch selbst am besten, was für ihn gut ist und was ihm schadet. Diese Fähigkeiten werden dem Menschen von der Natur mitgegeben.

Von Anfang an entfaltet sich die von innen kommende Kraft, das Leben nach den eigenen Kriterien zu gestalten und für sich selbst Verantwortung zu tragen. Selbst Verantwortung für sich zu tragen ist den Menschen als wichtige Voraussetzung für eine sinnvolle und glückliche Lebensführung mitgegeben.

Doch die Tradition erkennt im Menschen nicht ein Wesen, das von Anfang an in der Lage ist, für sich verantwortlich zu sein. Die Wirklichkeit der Kinder ist voller Erwachsener, die sagen: „Ich weiß besser als Du, was für Dich gut ist!“

Das traditionelle „Ich bin für Dich verantwortlich“ verhindert die Entfaltung der mitgebrachten Selbstverantwortungsfähigkeit in der Kindheit. Den Menschen geht dadurch eine wichtige Zeit verloren, in der sie lernen können, diese innere Kraft wahrzunehmen und als Kompass für alle Situationen des Lebens zu benutzen.

Dieser Erfahrungsverlust bleibt nicht ohne Folgen. Wer ein Kinderleben lang gelernt hat, dass nicht er selbst für sein Leben die Verantwortung tragen könne, sondern dass andere für sein Glück und Leid zuständig seien, trägt diese Abhängigkeit in sein Erwachsenenleben. Er wird leicht zum Spielball fremder Interessen, Werte und Normen, und es fehlt ihm die Kraft, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und durchzusetzen.

Über diesen Zusammenhang klärt die postpädagogische Weltsicht (Amication) auf. Jeder kann dadurch bemerken und erkennen, dass er in der Kindheit am eigenen Ich vorbeigeschleust wurde. Und jeder kann heute die Verantwortung für sich selbst wieder zur uneingeschränkten Basis seines Lebens machen.

Das Selbst-Verantwortungs-Training unterstützt die Entfaltung der Selbstverantwortung durch eine besondere Form der psychodynamischen Gruppenarbeit und gehört zu den Hilfen, die es im Rahmen der Humanistischen Psychologie gibt.

Die postpädagogischen Aussagen zur Selbstverantwortung werden auf spezifische Art und Weise so in einen gruppendynamischen Prozess eingebracht, dass die Teilnehmenden intensiv erleben und fühlen können, was es bedeutet, für sich verantwortlich zu sein.

 

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Das diesjährige Selbst-Verantwortungs-Taining findet vom15. bis 17. November 2024 in Sprockhövel bei Wuppertal statt. Ich werde dabei der Garant sein. Anmeldungen können über meine Website "amication.de" unter "Seminare" vorgenommen werden.

 

 


Montag, 27. Mai 2024

Selbst-Verantwortungs-Training: Moralisierungsfrei sein

 

 

In den beiden letzten Posts habe ich über das Selbst-Verantwortungs-Training geschrieben. Das Selbst-Verantwortungs-Training ist eine amicative Gruppendynamik, die in Gruppensitzungen durchgeführt wird, es ist auf meiner Website „amication.de“ ausführlich und im Detail beschrieben. Es ging in den beiden Posts um die Figur des "Garanten". Heute stelle ich ein charakteristisches Element dieser amicativen Gruppendnamik vor: das Bemühen darum, moralisierungsfrei miteinander umzugehen.

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Moralisierungsfrei sein

Das objektiv gefärbte Urteil über den anderen enthält ein destruktives Element: es setzt den objektiven Urteiler über den Beurteilten. Der Beurteilte fühlt sich unten, klein gemacht, demoralisiert.

Wenn in der Gruppensitzung Urteilen mit objektivem Anspruch stattfindet, wird eine Erlebniswelt gestützt, die es aber gerade zu überwinden gilt. Nämlich das besserwisserische „Ich bin für Dich verantwortlich“ und „Ich weiß besser als Du, was für Dich gut ist“. 

Solche objektiven Aussagen über den anderen enthalten ein deutliches Element des Moralisierens: den erhobenen Zeigefinger, den Ton des Besseren, die Missachtung des Nicht-so-Guten, die überlegene Art des Aufgeklärten, Informierten,Toleranten, psychologisch Geschulten, des Klügeren, der nachgibt. Immer ein Element, das dem anderen die schlechtere Position zuschiebt.

Stets, wenn solches Moralisieren stattfindet, lässt sich eine spezifische Blockierung in der Gruppe wahrnehmen. Die tief eingeprägten, in der Kindheit erlernten Erstarrungen und Ohnmachtsgefühle schwappen heran, ungute Gefühle breiten sich in der Gruppe aus. 

Wenn andere Teilnehmende dann noch in das objektivierende Urteilen einfallen („das hast Du aber wirklich gesagt“), anderen jedoch die selbstverantwortliche, vom Moralisieren freie Art des Umgangs bewusst und wichtig ist, kommt es zur Polarisierung beider Systeme.

Das wird vor allem zu Beginn nicht immer offen ausgetragen. Es schwelt und kommt erst später zum Ausbruch. Es kann dann bei kleinstem Anlass ein wütendes Sich-Wehren gegen ein objektivierendes Urteilen erfolgen, das alle zunächst verwirrt und völlig überzogen erscheint.

Danach ist die Problematik des Moralisierens jedoch endgültig offengelegt, und die Teilnehmenden gehen sensibler mit dem Phänomen um. Sie bemühen sich, Moralisieren zu unterlassen beziehungsweise es sofort zurückzuweisen. Das Moralisieren ist dabei nicht an Formulierungen gebunden. Die können sich sehr freundlich geben. Moralisieren ist eine Sache der psychischen Begegnung, eine Sache des Tons, des Gefühls und der Einstellung.

Es kann auch geschehen, dass der eine oder andere am Moralisieren bewusst festhält, da er vom Urteilen über Menschen mit objektivem Anspruch nicht abrücken will. Im Unterschied zu denen, die unbeabsichtigt immer wieder in das erlernte Moralisieren zurückfallen und die sich Schritt für Schritt davon zu befreien beginnen.

Es wird dann klar, dass so jemand das Selbstverantwortungsprinzip nicht übernehmen kann und will. Entweder beendet er seine Teilnahme vorzeitig – bereichert um diese Erkenntnis – , oder er erlebt gemeinsam mit den anderen die Konfrontation oder auch Koexistenz beider Systeme.

 

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Das diesjährige Selbst-Verantwortungs-Taining findet vom15. bis 17. November 2024 in Sprockhövel bei Wuppertal statt. Ich werde dabei der Garant sein. Anmeldungen können über meine Website "amication.de" unter "Seminare" vorgenommen werden.






 

 

Montag, 20. Mai 2024

Garant im Selbst-Verantwortungs-Training

 

 

Das Selbst-Verantwortungs-Training ist eine amicative Gruppendynamik, die in Gruppensitzungen durchgeführt wird. Das Selbst-Verantwortungs-Training ist auf meiner Website „amication.de“ ausführlich und im Detail beschrieben. Hierbei kommt die Figur des „Garanten“ vor. Der Garant ist ein Teilnehmer, dem die Garanten-Funktion vom Veranstalter des Trainings übertragen wird. Seine Position und seine Aufgaben sind nicht leicht zu verstehen. Um eine bestimmte Funktion des Garanten besser verständlich zu machen, habe ich im letzten Post über den „Schnüffelfuchs“ geshrieben. Heute stelle ich die gesamte Aufgabe des Garanten vor.

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Selbst-Verantwortungs-Training - Der Garant

Niemand weiß mit Verbindlichkeit für einen anderen, was für ihn gut ist. Das Prinzip der Selbstverantwortung lässt keinen Besserwissenden für Wachstum und Entwicklung zu als den jeweils Betroffenen selbst. Jeder Teilnehmende ist also sein eigener Selbst-Verantwortungs-Trainer. Das schließt nicht aus, dass man sich von anderen helfen lassen kann, aber auch hierüber entscheidet ein jeder selbst. Und während des gesamten Hilfsprozesses bleibt jeder selbst am Regiepult, auch wenn er einem anderen grünes Licht gibt, hilfreiche Ideen einzubringen. Selbst-Verantwortungs-Training hat somit keinen Leiter, Moderator, Facilitator oder sonstigen Trainer.

Selbst-Verantwortungs-Training ist jedoch nicht nur eine Selbsthilfegruppe ohne Leiter. Beim Selbst-Verantwortungs-Training ist eine Person dabei, die das Selbstverantwortungsprinzip verinnerlicht hat. Sie wird „Garant“/„Garantin“ genannt. Der Garant fühlt die Selbstverantwortungsidee als existenzielle Größe in sich. Seine Anwesenheit bedeutet, dass durch eine (seine) Person das Selbstverantwortungsprinzip unter den hier zusammengekommenen Menschen präsent ist.

Der Garant ist nicht Garant in dem Sinn, dass er den anderen Teilnehmenden dafür einzustehen hätte, dass sie dies oder das lernen. Er ist nicht Garant für persönliches Wachstum und Entwicklung. Hierfür liegt die Kompetenz bei jedem einzelnen selbst. Er ist Garant für die Selbstverantwortungsidee: Wenn er teilnimmt, wird diese Idee verlässlich durch seine Person präsent sein. Auch andere Teilnehmende können sich als Garanten erweisen oder sich zu Garanten entwickeln.

Nur: Um ein Selbst-Verantwortungs-Training zu realisieren und nicht eine andere psychodynamische Gruppe muss (mindestens) von einer Person die Selbstverantwortungsidee verstanden und verinnerlicht worden sein.

Hierbei ist es nicht von Bedeutung, wie sich diese psychische Disposition in konkretem Verhalten äußert. Der Garant wird das tun oder nicht tun, was er gerade tun oder nicht tun will – hier ist er ein Teilnehmender wie jeder andere. Entscheidend ist seine (Selbstverantwortungs)Haltung.

Es ist gänzlich die Sache der anderen Teilnehmenden, wie sie mit dem Garanten, seiner Haltung und seinem Verhalten umgehen wollen. So wie es auch seine subjektive Sache ist, wie er mit ihnen umgehen will. Er ist nicht der Leiter der Gruppe: er ist ein Teilnehmender! Aber eben ein Teilnehmender, der diese spezifische Haltung verinnerlicht hat und der damit das psychische Klima der Gruppe um diese Dimension erweitert.

Erfahrungsgemäß gibt es in der Gruppe Probleme mit der Funktion des Garanten. Immer wieder wird er doch als Leiter gesehen, als jemand, der den anderen zu mehr Selbstverantwortlichkeit verhelfen kann und soll. Es lässt sich jedoch ebenfalls immer wieder feststellen, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt das Verständnis für die Funktion des Garanten spürbar vorhanden und damit die Sichtweise eines Leiters deutlich überwunden ist. Mal früher, mal später. Dies geht einher mit dem zunehmenden Gespür der Teilnehmenden für ihre Selbstverantwortung, die in Wirklichkeit ja niemals von einem anderen kommen kann, sondern nur in jedem selbst lebt und nur von jedem selbst erspürt werden kann.


 

Montag, 13. Mai 2024

Der Schnüffelfuchs

 


Das Selbst-Verantwortungs-Training ist eine amicative Gruppendynamik, die in Gruppensitzungen durchgeführt wird. Das Selbst-Verantwortungs-Training ist auf meiner Website „amication.de“ ausführlich und im Detail beschrieben. Hierbei kommt die Figur des „Garanten“ vor. Der Garant ist ein Teilnehmer, dem die Garanten-Funktion vom Veranstalter des Trainings übertragen wird. Seine Position und seine Aufgaben sind nicht leicht zu verstehen. Darüber hatte ich neulich ein längeres und nachdenkliches Gespräch. Um eine bestimmte Funktion des Garanten besser verständlich zu machen, kam ich auf den „Schnüffelfuchs“.

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Der Schnüffelfuchs

Das Selbst-Verantwortungs-Training hat ausdrücklich keinen Fachmann, Therapeuten, Leiter,Trainer, Facilitator vorgesehen oder installiert. Es gibt nur Teilnehmer auf gleicher Augenhöhe. Die Verantwortung für das Erleben beim Selbst-Verantwortungs-Training liegt voll und ganz – zu 100 Prozent – bei jedem einzelnen Teilnehmer selbst. Diese ungeschmälerte eigene Verantwortung für das Erleben ist das Herzstück der amicativen Gruppenarbeit, die Selbst-Verantwortungs-Training heißt.

Wenn alle Teilnehmer gleichwertigen Status haben: Wozu braucht es da noch einen „Garanten“?

Nun: Der Garant hat mehrere Funktionen (siehe Konzept). Er hat auch eine spezielle Aufgabe: Da ist er ... ein Schnüffelfuchs.

Dem Schnüffelfuchs fällt auf, wenn es beim Gruppengeschehen stark, sehr stark, zu stark nicht mehr amicativ riecht. Sondern zu sehr nach Oben-Unten, nach Moralisieren, nach objektiv daherkommendem Rechthaben, nach Missionieren, nach Pädagogik. Seine feine amicative Nase signalisiert es ihm. Das kann er eine Weile aushalten und dann sagt er nichts. Aber es kann ihm auch zu viel werden, subjektiv. Dann gibt er Laut und bellt. Dann verbellt er den nicht-amicativen Geruch und Geist im Gruppenraum:

„Ich rieche, erkenne, stelle fest, merke, dass hier kein ausreichender Platz mehr für den amicativen Geist ist. Die Luft ist jetzt zu voll von pädagogischem Geist und Geruch. Was bedeutet, dass hier kein amicatives Zusammentreffen mehr stattfindet. Das stelle ich mit meiner geschulten amicativen Nase fest.“

Das ist keine objektive Feststellung. Es ist eine persönliche, subjektive Wahrnehmung. Die aus seiner Erfahrung und Verwurzelung in der amicativen Welt kommt. Und genau so soll es sein.

Der Schnüffelfuchs sagt das nun nicht mit eigenen Worten, sondern mit dem dafür vorher festgelegten Formelsatz:

Ich spreche als Garant. Die amicative Übung ist beendet.“

Damit löst er nicht die Zusammenkunft auf. Er sagt damit nur: Dies hier ist keine amicative Zusammenkunft mehr.

Auch nach dieser Feststellung kann sich jeder Teilnehmer weiterhin als amicativ einstufen und erleben. Der Schnüffelfuchs spricht niemandem seine Selbsteinschätzung ab. Er stellt nur fest, dass die Zusammenkunft (Gruppe) jetzt keine amicative Zusammenkunft mehr ist. Das bedeutet: Es findet kein Selbst-Verantwortung-Training mehr statt. Sondern? Eine wie auch immer geartete Zusammenkunft, nur eben keine amicative.

Ob das wirklich so stimmt? Ob er „richtig“ gerochen hat? Das wird gar nicht erwogen. Es wird mit dem Schnüffelfuchs lediglich jemand installiert, der dieses Gebell vorzunehmen hat – wenn er das denn so subjektiv wahrnimmt und wenn er bellen will. Wenn dieser Fuchs also bellt, dann ist die Übung keine amicative Übung mehr. Egal, wie andere Teilnehmer das finden. Punktum!

Der Garant – der Schnüffelfuchs – wurde von mir unter anderem (der Garant hat noch andere Aufgaben) erdacht und installiert, um den Teilnehmenden diese Sicherheit zu geben: Jederzeit zu wissen, dass, ob und wie lange sie auf einer amicativen Veranstaltung sind – und wann sie das nicht mehr sind. Nach der Feststellung des Garanten, dass die Übung als amicative Übung beendet ist, können die Teilnehmenden bleiben oder nach Hause fahren – aber sie wissen Bescheid.

Kann man den pädagogischen Geist, den der Schnüffelfuchs festgestellt und verbellt hat, wieder vertreiben? Kann das Selbst-Verantwotungs-Training wieder aufgenommen werden? Das Konzept lässt das offen.

Wie könnte es weitergehen? Man kann eine Unterbrechung verabreden und alle beraten. Vielleicht soll nach einer Pause das amicative Üben wieder beginnen. Versuchen, ob das geht, mal sehen, was der Schnüffelfuchs dann riecht. Dann könnte das ganze Theater von vorn anfangen. Oder der Fuchs hält die Schnauze, und es ist mithin wieder ausreichend amicativer Geist im Raum. Vom Schnüffelfuchs so eingestuft. Er allein hat die Autorität. Ein „Es ist aber nicht amicativ“ oder "Es ist aber doch amicativ" von anderen Teilnehmenden ist irrelevant.

Vielleicht ist derjenige, der den pädagogischen Geruch verbreitet hat, ja auch abgereist. Oder er hat amicatives Kraut gefuttert oder sitzt einfach nur still dabei. Wie auch immer – das Leben ist bunt und vielfältig!

 

Montag, 6. Mai 2024

Schoolwatch, Teil 3: Der Brief

 


Schoolwatch

3. Teil einer dreiteiligen Serie.*

 

Teil 3: Der Brief

Doch meistens werden die Eltern von Schoolwatch das Kind nicht kennen. Und so ist es auch in diesem Fall. Niemand weiß, wie ein Telefonat von fremden Eltern bei Jana (und ihren Eltern) ankommen wird. Dasselbe würde für einen Besuch gelten, der anstelle eines Anrufs auch immer in Erwägung gezogen wird.

Doch neben der Möglichkeit, Jana anzurufen oder sie zu besuchen, gibt es ja den Schoolwatch-Brief. Es wird ein Gruß verschickt, ein paar Zeilen, die deutlich machen, dass Jana nicht allein steht und dass es Menschen gibt, die zu ihr halten und die aussprechen, dass das, was passiert ist, Unrecht war. 

Ein Anruf oder ein Besuch kommen nur dann in Betracht, wenn das Kind und seine Eltern der Schoolwatch-Gruppe bekannt sind. Dies ist schon Einmischung in persönliche Angelegenheiten genug. Mit einem Brief aber von den unbekannten Eltern der Initiative stellt sich die Frage nach der Einmischung eindringlich: Wie wird der Brief ankommen?

Was sind die Risiken und Chancen? Wusste Jana überhaupt etwas von dem Anruf ihrer Freundin bei Schoolwatch? Und wenn sie es wusste, war sie damit einverstanden? Wird Jana den Brief als Anmaßung und Bloßstellung zurückweisen und sich obendrein noch vorgeführt vorkommen? Oder erlebt Jana den Brief als Überraschung, die ihr hilft? Hat sie ihn erwartet, herbeigewünscht, und freut sie sich über dieses Symbol von Zuwendung und Trost?

Die Eltern der Initiative haben eine entschiedene, spezifische Grundposition: Sie sehen die Gleichwertigkeit des Erwachsenen und des Kindes. Sie wissen darum, dass personale Begegnungen auf einer gleichwertigen Basis stets die Chance des Gelingens und das Risiko des Scheiterns enthalten. Sie haben keine pädagogische Absicht bei ihrer Aktion. Sie bieten ihre Hilfe und ihren Trost an, weil sie nicht tatenlos zusehen können, wenn vor ihren Augen Leid geschieht.

Und sie wissen darum, dass ihre Intervention sowohl das Leid verringern als auch vergrößern kann. Sie haben sich diesem Dilemma gestellt und sich nach reiflichem Überlegen dafür entschieden, auf jeden Fall einen Versuch zu machen: Auf den gedemütigten Menschen zuzugehen. Hierzu fühlen sie sich um ihrer selbst willen verpflichtet, und es entspricht ihrer Vorstellung von Mitmenschlichkeit.

Der Schoolwatch-Brief wird also von Frau Burger geschrieben und verschickt:

    Liebe Jana,
    wir haben gehört, dass Dich Herr Meier ausgelacht
    hat. Wir finden das nicht richtig. Jeder kann mal eine
    Antwort nicht wissen, auch in Mathe. Es tut uns leid,
    was Dir da passiert ist. Ruf uns an, wenn Du willst.
    Wir stehen auf Deiner Seite.
    Herzliche Grüße!
    Reinhilde Burger von Schoolwatch

Wenn Jana den Schoolwatch-Brief ablehnt, wird ihr Leid vergrößert. Wenn sie jedoch einschwingt, kann sich ihre Belastung verringern. Bei diesem ersten Brief im Jahr 2000 waren sich alle Eltern der Initiative dieses Risikos bewusst. Würde ihr Brief helfen? Nun, Jana hatte sich gefreut, den Brief ihrer Freundin gezeigt und Frau Burger am nächsten Tag angerufen.

Die erste Intervention von Schoolwatch im September 2000 war ein Erfolg – und zigtausende solcher gelungenen Einmischungen sind seitdem geschehen. Die Briefe, Anrufe und Besuche von Schoolwatch sind eine feste Komponente im Schulleben geworden, von den Kindern heiß herbeigewünscht und immer voller Trost und heilender Wirkung.

Die Anfangsschwierigkeiten sind heute längst überwunden, Schoolwatch ist renommiert und hat sich zu einer wirksamen Kraft gegen das Schulleıd entwickelt. Und auch immer mehr Lehrer akzeptieren Schoolwatch – das Konzept von Schoolwatch, den Lehrern die Wahrheit der Kinder ohne Herabsetzung und Anschuldigung nahezubringen, ist aufgegangen.


* Aus meinem Buch „Schule mit menschlichem Antlitz“, Münster 2001, S. 53ff.





 


Montag, 29. April 2024

Schoolwatch, Teil 2: Der Anruf

 

 

Schoolwatch

2. Teil einer dreiteiligen Serie.*

 

Teil 2: Der Anruf

Die Eltern wissen, dass sie nicht im Konsens mit der Schule und der Lehrerschaft sein werden, sondern dass man sie als Ärgernis, ja als Bedrohung auffasst. Doch sie sind von der Wichtigkeit ihres Vorhabens überzeugt und lassen sich nicht aufhalten. Sie wollen von außen in die Schule wirken, denn nur darin sehen sie die Effektivität ihres Engagements gewährleistet, ihre Unabhängigkeit gewahrt, und nur so erwarten sie eine Akzeptanz ihrer Tätigkeit durch die Kinder.

Und wenn sie auch von außen kommen, so fühlen sie sich doch sehr wohl als Betroffene und der Schulgemeinde zugehörig. Sie sind dabei, eine anders orientierte Aufgabe für das Wohl der Kinder zu übernehmen, als dies jede Schultradition bislang vorsah.

Das alles ist für diese wie für jede andere Schule völlig neu, die Lehrer wehren sich heftig gegen eine Kontrolle durch Eltern. Immer wieder werden die Eltern aufgefordert, die schulischen Gremien einzuschalten, wenn sie Wünsche hätten. Und auch die Drohung der Schulverwaltung, man werde die Gerichte einschalten, um die Störung des Schulfriedens zu unterbinden, schreckt sie nicht.

Sie wollen etwas tun, sind entschlossen, risikobereit, lassen sich rechtlich beraten und wollen es darauf ankommen lassen. Und sie erfahren auch Unterstützung von anderen Eltern, auch von anderen Schulen und Städten und von Fachleuten. 

Ein halbes Jahr nach dem ersten Treffen steht ihre Initiative. „Schoolwatch Einstein-Gymnasium Neustadt“ ist ein eingetragener Verein, mit Satzung, Mitgliedern und Vorstand. Sie haben ein kleines Budget, und die Gemeinnützigkeit ist beantragt. Die Eltern haben sich in einen Dienstplan eingeteilt, für den Rest des Jahres ist bereits klar, wer an welchem Tag für die Kinder als Ansprech- und Anrufpartner da ist. Im neuen Schuljahr nach den Sommerferien sind sie startbereit.

Und dann kommt eines Nachmittags der erste Anruf: „Herr Meier hat die Jana aus der 6a ausgelacht, als sie eine Antwort in Mathe nicht wusste. Jana hat den Rest der Stunde auf ihrem Platz gesessen und geweint.“

Herr Meier wird von Frau Burger, der diensthabenden Mutter, angerufen. Ihr Anruf hat nicht das Ziel, ihm Vorhaltungen zu machen oder ihn bloßzustellen. Der Anruf soll möglich machen, dass der Lehrer das Vorgefallene mit den Augen des Kindes gezeigt bekommt, dass er hört, wie sein Verhalten bei Jana angekommen ist und gewirkt hat, und dass sein Auslachen aus der Sicht des Kindes und der Eltern von Schoolwatch eine unakzeptable Grenzüberschreitung war.

Es wird kein Vorwurf erhoben und es erfolgt keine Schuldzuweisung. Hierüber wurde bei den konzeptionellen Beratungen lange diskutiert und klar Position bezogen: Auch die Würde eines Lehrers wird geachtet, was immer er tut und was immer gegen sein Verhalten vorgebracht werden kann. Ohne einen Vorwurf zu erheben wird dieser Lehrer aber damit konfrontiert, der Realität – wie sie das Kind erlebt hat – ungeschminkt ins Gesicht zu sehen, und die erlittene Demütigung wird Demütigung und Unrecht genannt.

Frau Burger bittet nicht darum, dass Herr Meier sich entschuldigt – so etwas zu erwägen ist ganz und gar seine Sache. Sie überlässt es ihm, ob er am nächsten Tag überhaupt etwas zu Jana sagen will, und was das sein könnte. Ihre einzige Aufgabe im Gespräch mit dem Lehrer ist es, ihn das Vorgefallene mit den Augen des Kindes sehen zu lassen.

Und da Herr Meier sich nicht beschimpft und nicht unter Druck gesetzt fühlt, kann er sich für die höflichen, aber sehr wohl eindringlichen Worte der Mutter öffnen und sein Verhalten mit Janas Augen sehen. Wenn er erklärt, dass er das morgen in Ordnung bringt, und am nächsten Tag auf das Kind zugeht, etwas Freundliches sagt und hinzufügt, dass es ihm leid tut, dann steht der Heilung der seelischen Verletzung von Jana nichts mehr im Wege.  

Aber wenn Herr Meier das alles weit von sich weist und das Gespräch in Unfrieden endet?

Nun, der Anruf bei Herrn Meier ist nur der eine Teil der Schoolwatch-Aktion. Es soll ja auch Jana angerufen werden – in jedem Fall und unabhängig davon, wie der Lehrer reagiert. Wenn die Eltern der Initiative Jana und ihre Eltern kennen und wissen, dass so ein Anruf nicht zusätzlich belastend wirkt, wird dieses Gespräch geführt. Trost und Mitgefühl sollen ausgesprochen werden, und Janas Belastung kann sich vielleicht in einem erleichterten Lachen lösen.

Teil 3 im nächsten Post.


* Aus meinem Buch „Schule mit menschlichem Antlitz“, Münster 2001, S. 50 ff.