Montag, 22. April 2024

Schoolwatch, Teil 1: Das Konzept

 

 

 Schoolwatch

1. Teil einer dreiteiligen Serie.*

 

Teil 1: Das Konzept

Im Jahr 2030 gibt es an vielen Schulen Elterninitiativen, die „Schoolwatch“ heißen. Die Eltern dieser Initiativen haben sich zusammengefunden, um gemeinsam etwas gegen das Schulleid ihrer Kinder und die Schultraumatisierung zu tun.

Die Schoolwatch-Idee hat sich herumgesprochen, die Medien haben darüber berichtet, in Fachzeitschriften wurden Artikel geschrieben, an den Hochschulen gibt es hierüber Seminare, kurz: aus einer Idee ist eine Bewegung geworden. Es gibt inzwischen Schoolwatch-Landesverbände und den Schoolwatch-Bundesverband und auch im Ausland existieren seit einiger Zeit Schoolwatch-Initiativen.

Alle Lehrer kennen Schoolwatch, sie werden bereits in ihrer Ausbildung damit befasst, und die meisten Eltern wissen, dass es so etwas wie Schoolwatch gibt, und viele engagieren sich darin. Und selbstverständlich weiß auch jedes Schulkind von Schoolwatch.

Der Einfluss, der von einer Schoolwatch-Initiative vor Ort auf das Geschehen einer Schule ausgeht, ist unterschiedlich groß und hängt von den jeweiligen Gegebenheiten ab. Oft wird die Arbeit von Schoolwatch von den Lehrern eines Kollegiums abgelehnt, aber es gibt auch immer wieder Zustimmung und Kooperation. Nichts ist mehr so, wie es einmal war – als es Schoolwatch noch nicht gab.

Allen Lehrern ist bewusst, dass sie durch diese Elterninitiativen unter Beobachtung stehen, ob sie es wollen oder nicht. Und auch die Kinder wissen darum, dass Ungerechtigkeiten und Demütigungen im Klassenzimmer nicht mehr als Selbstverständlichkeit des Schulalltags hingenommen werden müssen.

Angefangen hatte alles am 29. Januar 2000 – als eine Mutter in einer kleinen Stadt in Deutschland eine besonders drastische Herabsetzung ihres Kindes durch einen Lehrer nicht auf sich beruhen lassen will. Nachdem ein Gespräch mit dem Lehrer und dem Schulleiter nichts bewirkt, bringen die Eltern den Vorfall im Freundeskreis zur Sprache, und man ist sich einig, dass etwas getan werden muss.

Die Freunde treffen sich wiederholt, sie diskutieren, machen Vorschläge und verwerfen sie wieder, aber sie sind entschlossen, etwas in Gang zu setzen. Sie entwerfen ein Konzept und gründen eine Initiative gegen die Traumatisierung durch schulische Demütigungen.

Sie überlegen lange, welcher Name für ihre Initiative passt, er soll prägnant und aussagefähig sein. Diskutiert werden „Eltern vor Ort“ und „Aktion Schule ohne Angst“ und „Verein zur Förderung von Kinderfreundlichkeit an der Schule“ und andere Namen. Letztlich entscheiden sie sich für einen Begriff, der von den Kindern, die sie um Rat gefragt haben, bevorzugt wird – denn sie wollen vor allem die Akzeptanz ihrer Initiative durch die Kinder.

Sie nennen sich also „Schoolwatch“, in durchaus gewollter Anlehnung an das renommierte Worldwatch Institute und an Human Rights Watch. Und sie tragen ihre Idee in die Elternabende und werben um Mitstreiter.

Die Eltern erleben vielfältige Widerstände von allen Seiten (die Schultraumatisierung sitzt bei den Menschen tief und fest). Sie bekommen zu hören, dass sie den Schulfrieden stören, dass ihre Arbeit destruktiv sei, dass ein „gläsernes Klassenzimmer“ die Persönlichkeitsrechte des Lehrers missachte.

Viele Eltern stimmen in den Chor der Kritik ein, befürchten, dass durch diese Ideen das effektive Arbeiten in der Schule behindert wird und sehen den schulischen Erfolg ihrer Kinder gefährdet. Die Eltern der Initiative werden von vielen geschnitten und angefeindet. Aber sie lassen sich nicht beirren. Sie machen sich weiter bekannt und verteilen ihr inzwischen ausformuliertes Schoolwatch-Konzept.

In ihrem Konzept stellen sich die Eltern als eine Gruppe von Menschen vor, die das Leid der Schulkinder auffangen wollen, das durch persönliche Herabsetzung entsteht. Sie setzen sich außerdem zum Ziel, durch Präsenz, zunehmendes Gewicht und Öffentlichkeitsarbeit einen Bewusstseinswandel anzustoßen, so dass Demütigungen im Schulalltag weniger werden. Sie verstehen sich als eine parteiergreifende Instanz, die über die Unantastbarkeit der Würde der Schulkinder wacht.

Die Eltern bieten sich in konkreten Situationen – wenn ein Lehrer ein Kind herabsetzt – als Anlaufstelle an. Sie wollen dann zum einen mit dem betreffenden Lehrer ins Gespräch kommen und ihm das Geschehene aus der Sicht des Kindes zeigen. Zum anderen wollen sie dem gedemütigten Kind durch einen Anruf, Besuch oder Brief - den „Schoolwatch-Brief “– beistehen, Trost zusprechen und das Ich des Kindes stützen.

Teil 2 folgt im nächsten Post.


* Aus meinem Buch „Schule mit menschlichem Antlitz“, Münster 2001, S. 48 ff.



 



Montag, 15. April 2024

Durchsetzungspunkt Gummistiefel



Vortrag. Eine Mutter fragt mich: "Heute wollte meine dreijährige Tochter partout ihre Gummistiefel nicht ausziehen. Was soll ich machen?"

Beim Vortrag komme ich auf den Durchsetzungspunkt zu sprechen. Die Eltern wollen sich nicht so gern - genauer: extrem ungern - durchsetzen, wenn sie ihre Kinder dabei nicht "mitnehmen" können, wie das so schön heißt. Sie wollen, dass die Kinder bei den Elternentscheidungen mitmachen, mitziehen, einsehen, Widerstand aufgeben. Dass es also ohne Streit und Geschrei, Tränen und Leid ausgeht.

Noch mehr Gespräche, noch mehr Werben, noch mehr Mitnehmen. Die Eltern wollen von mir hören, wie es denn gelingen kann, dass die ganze Durchsetzerei gut ausgeht. "Ja Mama, dann zieh ich die Stiefel aus". So soll es sein.

Wenn alle Einigungsbemühungen nichts bringen... - klar, da kann man zulegen, Sonne scheinen lassen, Seminare besucht haben, grad gut drauf sein, schlau, listig, hinterlistig vorgehen. Wenn das aber alles nichts hilft, dann soll ich das Zaubermittel haben. Habe ich aber nicht.

Dann geht es um "Du oder ich", Stiefel aus oder Stiefel an. Und wenn die Mutter den Dreck nicht im Flur und auf dem Teppich haben will, muss sie - sich durchsetzen. Die Stiefel von den Füßen kriegen - wobei "kriegen" heißt: gegen den Willen des Kindes entfernen, von den Füßen abziehen bis runterreißen. 

Wie das geht? Mit dem entsprechendem Mittel. Machtmittel Körpermacht: handgreiflich, Kind und Fuß festhalten und ziehen. Mit dem Machtmittel Psychomacht könnte das Kind auch selbst tun, was es soll: Erfolg per Druckstimme, Ekelton, bösem Blick.

"Geht das nicht auch anders?" - und dann erzählen die anderen Eltern davon, wie sie es schaffen würden, friedlich, mit Einigung, "mitnehmend" eben. Ich halte dagegen: "Es ist aber grade nicht zu schaffen. Die Stiefel sind jetzt stellvertretend für alles Mögliche. Und es wird in Ihrem Alltag immer wieder passieren, dass es keinen Frieden gibt. Dass Sie sich durchsetzen, mit Ihren Machtmöglichkeiten, auch mit körperlicher Macht."

"Wobei, auch klar" - das sage ich dann schon noch - "Sie sich ja nicht immer durchsetzen müssen. Sie können auch nach- oder aufgeben und hinnehmen oder akzeptieren, dass das passiert, was Ihr Kind will. Also Dreck auf dem Teppich. Aber wer will das schon. Sie werden sich durchsetzen."

Ich sage dann, dass die Eltern sich keinen Vorwurf machen müssen. "Wenn Sie beim Durchsetzen Ihren Kindern auch Leid zufügen: das gehört dazu, das lässt sich nicht ändern, und dafür müssen Sie sich weder schämen noch schuldig fühlen." 

Ich wende das ins Allgemeine: Wenn man sich für seine Interessen, Ideale, Richtigkeiten einsetzt, und der andere dann nicht tun kann, was er will, bedeutet das meistens auch, dass der andere nicht begeistert ist und an uns leidet. Unseren Weg gehen heißt für andere dann, dass diese ihren Weg nicht gehen können.

Es braucht schon irgendwie ein großes Herz, sich annehmen zu können, sich zu mögen und die Selbstachtung nicht zu verlieren, wenn wir anderen Leid zufügen. Klar haben wir so ein Friedensbild von uns, dass wir durchs Leben gehen ohne dass wir Leid auslösen. Aber das ist einfach unrealistisch! Und genau das sage ich den Eltern.

Die Verbrämung "Das ist doch nur zu deinem Besten" ändert nichts wirklich am Leid des Kindes. Es soll uns beruhigen, dass wir doch gar nicht so schlimm und leidvoll für die Kinder sind. Sind wir aber! Und dem kann man ins Gesicht sehen. Auch Jesus, Sinnbild des Friedens und der Liebe, fügte Leid zu, als er seine Ideale verteidigte: Als er den Geldwechslern im Tempel die Tische umwarf und sie verprügelte.

Man kann dazu stehen, dass man - auch, immer wieder, auch den Kindern gegenüber - jemand ist, der Leid zufügt. Sich schlecht fühlen dabei - ist überflüssig. "Sie sind eine gute Mutter, ein guter Vater. Sie müssen nicht an sich zweifeln, wenn Sie sich durchsetzen und es dann Tränen bei den Kindern gibt."

Und ich sage auch "Sie können es aber lassen, den Kindern ihre Niederlage noch zusätzlich zu erschweren. Durch das Herabsetzen der Kinderposition mit dem ganzen Sieh ein, ich habe recht!-Theater."

"Ein klares Hier stehe ich, ich kann nicht anders!, eine authentische, ehrliche Botschaft zwischen den Zeilen ist von anderer Qualität. Sie machen dann Ihr Kind nicht schlecht, putzen es nicht runter, lassen ihm seine Würde in der Niederlage."

"Sie müssen den Glauben an sich nicht verlieren, wenn Ihnen keine gemeinsame und friedliche Lösung gelingt. Sie haben sich doch bemüht, mit Ihrem Kind geredet und versucht es mitzunehmen. Sie haben Ihre Bücher gelesen und Vorträge und Seminare besucht."

"Aber es kommt eben immer wieder vor, dass das alles nichts nutzt. Und dann stehen Sie halt zu sich, setzen sich durch, das Kind leidet - und Sie glauben an sich."

"Verboten ist das nicht!", schiebe ich hinterher. Ob die Gummistiefel beim nächsten Mal leichter von den Füßen gehen?

 

Montag, 8. April 2024

Forschungsbericht: Schwieriger Schreibanfang



Für meine Dissertation habe ich ein Zusammenfassung meiner Zeit mit den Kindern des Projekts geschrieben, den "Forschungsbericht"*. Ich hatte in unendlich vielen Nuancen erlebt, wie Kinder unterwegs sind. 2601 Stunden in zwei Jahren war ich "Gast im Kinderlkand". Das alles zuPapier zu bringen war eine mächtige Herausforderung, und der Anfang des Aufschreibens nach Abschluss der praktischen Phase des Projekts war schwer. Hier etwas vom Beginn der Aufzeichnungen:

*

Ich spüre jetzt nur ziemlich viel Verwicklung, Komplexität. Ich habe vor, einen großen Knoten, der sich mir im Laufe der Zeit, die ich mit ihnen zusammen war, gebildet hat, zu lösen. Das ist eine schwierige Sache. Ich habe mir keine Aufzeichnungen vom Zustandekommen des Knotens gemacht. Ich muß es vorsichtig versuchen. Ihn durchschlagen - oder einfach einen Knoten sein lassen: Das wäre prima, aber das ist jetzt nicht meine Aufgabe. 

Ich lese, was ich bisher geschrieben habe - und merke, dass ich einen Anfang gemacht habe. Ich spüre die Anstrengung. Ich bin freundlich zu mir: Ich habe etwas geschafft, und es ist nicht nötig, heute alles fertig zu bekommen. Ich habe das Gefühl, mit der Schreiberei langsam, langsam weiterzukommen. Es ist nicht nötig, noch heute fertig zu werden...

Der Knoten, die riesige Erfahrungskonzentration in mir, drängt, in jeder Einzelheit auf einmal aufgeschrieben zu werden. Ich fühle mich da total überfordert. Ich habe mit merkwürdigen Kräften in mir zu tun: Alles will auf einmal sein. Das Differenzieren, das Trennen, das feine Aufgliedern: Das steckt nicht in mir, jedenfalls nicht in dem komplexen Bild. Es kommt von woanders her.

Ich brauche einen langen Atem. Ich brauche Geduld - GEDULD. Ich brauche Zeit in mir, um behutsam, vorsichtig, zärtlich die Bilder deutlich werden zu lassen, die sich mir im Laufe der Zeit angesammelt haben. ICH HABE DOCH ZEIT- ich vergesse das immer wieder. Die Minuten, die ich jetzt zum Schreiben gebraucht habe - sie waren Stunden, Tage. Wenn ich jetzt gleich mit dem Schreiben aufhöre, bin ich viele Meilen gelaufen - hin zu den Erfahrungen, die in mir sind.

Ich entdecke ein altes Prinzip meiner Arbeit wieder: Das Treibenlassen. Nur so habe ich ja so viel mitbekommen - und ich fühle mich gut, wenn ich mich beim Schreiben auch einfach treiben lassen werde. Mal zum Schreiben, wie jetzt, mal zum Hören, mal zum Sichten der Notizen, der Bilder (Gedichte). Ich habe jetzt wieder eine Idee: Ich werde mich einfach so und so viele Stunden oder Minuten am Tag mit dem Projekt beschäftigen - einfach in den Dingen sein.

Was ich dabei im einzelnen tun werde, das wird sich zeigen. Jedenfalls nicht immer nur schreiben und schreiben, geordnet und logisch womöglich noch. Nein: Ich lasse mich in diesen riesigen Berg meiner Erfahrung hineintreiben. Dann notiere ich mal dies, mal nichts. Ich muss mit all dem erst mal richtig vertraut werden.

Ich brauche WU WEI in diesem Berg. Ich brauche Lächeln über dieses entdeckte Land - und es kommt NICHT durch abstrakt-intellektuelles "Schreiben der Dissertation". Ich brauche viel Zärtlichkeit, das ist ein wichtiger Brennstoff für das alles. Und ich habe auch viel davon - Zärtlichkeit zur Zeit, diesem sanften Verstreichen. Wer will mich da zwingen? Ich lebe und treibe. Meine Arbeit ist ein zärtliches Gebilde.

 

 * Der Forschungsbericht ist zu finden in meinem Blog "Amication Reader", dort: Dissertation / Gast im Kinderland, Gesamtbericht, S. 9 (11)



 

Montag, 1. April 2024

Draußen spielt sich gerade ein Wunder ab



"Draußen spielt sich gerade ein Wunder ab, für das man nicht einmal das Haus verlassen muss. Es genügt, das Ohr zu öffnen - und das Herz." Lese ich in einem wieder gefundenem Artikel der ZEIT*. Stimmt, denke ich, würde das aber nicht so hoch hängen. Es geht um den Gesang der Vögel, die jetzt zu Frühlingsanfang wieder zu singen beginnen. Einige sind hiergeblieben, andere kommen nach und nach aus dem Süden zurück.

Seit meiner Studentenzeit habe ich Verbindung zu ihnen, den Vögeln. Ich machte Exkursionen mit, hörte Schallplatten und hatte dann alle auf Tonband. Es war wirklich nicht leicht, die Stimmen den richtigen Vögeln zuzuordnen. Aber nach und nach kannte ich immer mehr. Ich war frühmorgens raus, hörte und staunte, erwischte mit dem Fernglas auch mal Seltenheiten wie Birkhuhn und Goldregenpfeiffer. Die Große Rohrdommel am Dümmer zu hören - das war schon was!

Eines Morgens um fünf auf Beobachtungsstation im Moor. Der Große Brachvogel bewachte Revier und Frau. Als ein schöner fremder Mann auftauchte, gab es großes Theater und eine wilde Verfolgungsjagd, die beiden waren weg. Da kam der Dritte fröhlich trillernd eingeschwebt und nutzte seine Chance. Ja mei!

Die Vögel begleiten mich durchs Leben. Und jetzt im Frühling nehme ich mein Fernglas, geh raus und schaue ihnen zu. Und trainiere weiter neue Arten, die ich noch nicht im Ohr habe. Den Schilfrohrsänger vom Sumpfrohrsänger zu unterscheiden... Drosselrohrsänger und Teichrohrsänger krieg ich schon hin. Aber Blaukehlchen und Braunkehlchen - abwarten.

Ich sinne darüber nach, wie man hobbymäßig seine Zeit verbringen will. Tausend Varianten! Mir ist das mit den Vögeln zugefallen. Und wie jeder sein Hobby schön findet, fühle ich mich auch rundum wohl, wenn ich draußen bin, auf Vogelstimmenexkursion. Ich mache das, weil - ja, da hab ich keine wirkliche Antwort. Oder zig Antworten. Es ist eben stimmig für mich. Weil halt! 

Meine Freude kommt aus einem Mitgenommenwerden und Mitgenommensein. Ich gerate in Resonanz mit all dem, was den Gesangskosmos um mich herum ausmacht. Die Musik, die Farben, die Lebenskraft, das Naturambiente drumrum, die große Harmonie. Und sie gehen ja auch miteinander, gründen eine Familie und ziehen die Kinder groß. Und dann auf große Fahrt übers Meer nach Afrika...

Vielleicht bin ich da auch zu pathetisch. Egal. "Der Luft wird Gesang verliehen"**, ja so ist es gut gesagt. "Ich liebe mich so wie ich bin", eins meiner Mottos und eins meiner Bücher: genau das höre ich von jedem Vogel, wenn er singt. Es ist einfach nur schön.




* Pfeifen, Zwitschern, Tiriliern. Fritz Habekuss, DIE ZEIT Nr. 14 vom 26.3.20, S. 37
** a.a.O., Fritz Habekuss zitiert den Schriftsteller David Haskell

 

Montag, 25. März 2024

Resonanz

 


Es ist Nacht. Ich bin draußen, in den Feldern. Ich liege auf meiner Isomatte und bin warm angezogen. Ich habe ein Kissen unter dem Kopf und sehe. Das Nachtdunkel, und darin die Sterne. Lichter, Punkte, größere, kleinere. Einige erkenne ich wieder, Orion, Plejaden, Wagen, Himmels-W. Jupiter ist nicht zu verfehlen. Halbmond. Von den Lichtpunkten über mir weiß ich, dass darunter unzählige Galaxien sind, die ich nur als Punkt wahrnehme. Milchstraßen, mit Übermillionen Sternen. Und dass es Übermillionen Milchstraßen gibt. Dann höre ich auf nachzudenken.

Ich lasse mich fallen in diese Dunkelheit mit den Lichtern. Wer bin ich – wer seid ihr? Was passiert in mir? Es ist eine grandiose Harmonie, die ich wahrnehme. Ich komme mehr und mehr zu mir. Meine Nähe zu mir ist meine Nähe zum Universum. Meine Nähe zu mir kommt als Selbstliebe daher, meine Nähe zum Universum als Vertrauen und Vertrautheit. Ich bin mit all diesem in Beziehung, Verbindung, Resonanz.

Es muß sich nichts ändern. Es kann sich alles ändern. Und es ändert sich ja auch immer wieder. Sterne vergehen und entstehen. Meine Wege lösen sich auf und beginnen neu. Meine Winzigkeit hier unten ist mein Universum, und ich nehme die Zuversicht der Sternenwelt gegen meine Verzagtheiten. Wo der Klang der Großen Liebe aus den unendlichen Tiefen des Kosmos meine Selbstliebe zum Schwingen bringt. 

Montag, 18. März 2024

Liebe Lehrer, ich habe ein Konzentrationslager überlebt... Mein Anliegen ist:

 

 

Ich ordne alte Akten und finde einen handgeschriebenen Brief, der uns vor langer Zeit zuging:


Liebe Lehrer, 

ich habe ein Konzentrationslager überlebt.

Meine Augen haben Dinge gesehen,

die kein menschliches Auge je erblicken sollte:

Gaskammern, gebaut von gebildeten Ingenieuren,

Kinder, vergiftet von wissenschaftlich ausgebildeten Ärzten,

Säuglinge, getötet von erfahrenen Krankenschwestern,

Frauen und Kinder, erschossen und verbrannt 

von ehemaligen Oberschülern und Akademikern.

Deswegen traue ich der Bildung nicht mehr.

Mein Anliegen ist:

Helfen Sie Ihren Schülern, menschlicher zu werden.

Ihr Unterricht und Ihr Einsatz sollte 

keine gelehrten Ungeheuer hervorbringen,

keine befähigten Psychopathen,

keine gebildeten Eichmanns.

Lesen, Schreiben und Arithmetik sind nur wichtig,

wenn sie dazu beitragen,

unsere Kinder

menschlicher

zu machen.


Haim G. Ginott

 




 

Montag, 11. März 2024

Ich verliere nicht gern Freunde

 


Ich erfahre von einem Freund, dass neulich jemand schlecht von mir geredet hat. Zu einer anderen Person, die das dann alles geglaubt hat und nun mit einem Bild von mir rumläuft, das ungut ist. Und mit mir nichts mehr zu tun haben will.

Soll ich bei der betreffenden Person intervenieren, zurechtrücken? Damit ich wieder gut dastehe? Und soll ich den Schlechtredner zur Rede stellen? Soll ich mich überhaupt in so etwas reinhängen?

Ich bin jemand, der sich da eher raushält. Mit Schmutz beschäftigen bringt nur schmutzige Hände. Wenn der Schlechtredner nicht erst mal mit mir redet über das, was er an mir schlecht findet, sondern gleich zu anderen geht und seine Sicht über mich kundtut - da komme ich doch gar nicht mehr an ihn ran. Klar, ich könnte auch energisch, empört oder freundlich auf ihn einreden, dass ich doch gar nicht so bin, wie er meint. Aber er hat mich ja schon hinter sich gelassen. Er hat sein Bild von mir, leider ein schlechtes. Stehe ich ihm zu.

Was also tun? Na ja, ich bin mein eigener Chef, ich kann auf alle mögliche Weise reagieren. Mein Motto ist eben: Null Reaktion, es auslaufen lassen. Den Schlechtredner nicht reizen, anheizen. Ich bin ihm dabei nicht mal böse, es ist ja sein Ding mit mir, das muss er so haben. Nur ich habe keine Lust, mich mit dieser seiner Schlechtsicht auf mich zu befassen. Ich finde mich nämlich sehr in Ordnung. Muss er ja nicht mitmachen.

Die Alternative ist: offensiv reinhängen. "Was hab ich da gehört? So redest Du über mich? Wie kommst Du denn darauf?" Mal sehen, was kommt. "Entschuldige, das habe ich nicht gewusst, Ja, wenn das so ist." Na prima. Das Geschmäckle aber bleibt, ich kann dem doch nicht die Seele richten.

"Tut mir echt leid, dass ich so von Dir gedacht habe." Ehrliches Innehalten, die Basis wiederfinden, Vertrauen, "Ok, Schwamm drüber!" Nanana, denk ich, das gibts doch nur im Märchen. Der Schlechtredner hat mich aufgegeben, mich nicht erst mal gefragt, sondern ist mit festem schlechten Bild von mir losgezogen.

Ich bin not amused, wenn schlecht über mich geredet wird. Aber was solls, kommt eben vor. Blöd sind nur die Auswirkungen auf andere. Na ja, das warte ich dann mal ab. Die betroffene Person hat sich von mir zurückgezogen. Aber demnächst mache ich doch noch einen Versuch, wieder gut gesehen zu werden. Weil mir diese Person wichtig ist. Ich verliere nicht gern Freunde.

 

Montag, 4. März 2024

Wutausbruch: Wer ist zuständig?

 



Das Erkennen der Selbstverantwortung bedeutet das Ende der Verstrickungen, die dadurch entstehen, dass jeweils der andere verantwortlich dafür gemacht wird, wie es einem geht.

Wenn ich gewohnt bin und nicht anders denken kann, als dass andere für mich verantwortlich sind, dann gilt in den Beziehungen das »Du bist schuld« und »Wegen Dir geht es mir schlecht«. Aber ich kann mich von dieser Sicht fremder Verantwortung fort und hin zur meiner eigenen Zuständigkeit orientieren.

Im Bereich der psychischen Wirklichkeit, der Bewertung und Gewichtung der Außenwelt, zu der auch das Verhalten des anderen gehört, erlebe ich dann meine ungeschmälerte Selbstverantwortung: »Was andere mit mir tun, unterliegt der Bewertung von mir«. Für die Innenseite der Beziehung gilt das Andere-sind-für-mich-verantwortlich-Muster nicht mehr.

Es gilt dann: »Auf Dein Verhalten kann ich mit Freude oder Schmerz reagieren – dies ist meine Zuständigkeit. Für meine Reaktionen auf Dein Tun bist nicht Du, sondern bin ich selbst verantwortlich.«

Und ebenso: »Auf mein Verhalten kannst Du mit Freude oder Schmerz reagieren – dies ist Deine Zuständigkeit. Für Deine Reaktionen auf mein Tun bin nicht ich, sondern bist Du selbst verantwortlich.« 

Auf einen Wutausbruch etwa kann der andere ebenfalls mit Wut oder auch gelassen reagieren, für beide Reaktionsmöglichkeiten wird er seine Gründe haben. Es gilt aber nicht mehr, den anderen für die eigene Reaktion verantwortlich zu machen.Und ebenso gilt nicht mehr, mich für die Reaktion des anderen zuständig zu machen.

 

Montag, 26. Februar 2024

Deutscharbeit 10:03 Uhr



deutscharbeit in der klasse 8c. angespannte ruhe liegt über den jungen leuten. ein stuhl wird gerückt. der lehrer blickt auf. ein schüler ist aufgestanden. "was ist los, kilian?" alle sehen jetzt auf. der schüler sieht zufrieden aus. er schaut zur tafel, durch sie hindurch. "kilian, was ist?" leicht irritiert steht der lehrer auf. "ich schreibe nicht weiter. ich schreibe keine aufsätze mehr." nach einer sekunde absoluter stille wird es sehr unruhig. der lehrer wird energisch. "lass den quatsch und setz dich. schreib weiter."

kilian richtet sich ganz auf. er sieht den lehrer an. "sie haben kein recht dazu. meine gedanken gehören mir. niemand hat das recht, meine gedanken auf sein papier zu befehlen. ich werde keine aufsätze mehr schreiben. nie mehr." seine entschlossenheit bewirkt noch einmal absolute stille im klassenraum. dem lehrer gelingt keine antwort. zwei, drei andere junge leute stehen ebenfalls auf. sie sagen nichts, sie schließen ihre hefte. der lehrer ist fassungslos, sprachlos. alle stehen jetzt, alle hefte sind geschlossen. "wollen sie einen kaffee?" fragt freya, "ich hole einen".

tagesschau: "überall im land haben sich heute vormittag zahlreiche schüler geweigert, ihre klassenarbeiten zu schreiben. lehrer berichten, dass die schüler mitten im unterricht aufstanden und die fortsetzung ihrer arbeiten ablehnten. lehrer, pädagogen, psychologen und eltern können sich diesen vorgang nicht erklären, zumal es an sehr vielen orten gleichzeitig gegen 10:00 uhr vormittags geschah. die entschiedenheit der ablehnung, klassenarbeiten zu schreiben, kam umso unvermuteter, als es keine vorherigen anzeichen für ein solches phänomen gab."

 

Montag, 19. Februar 2024

Vorfrühlingstag

 



an diesem vorfrühlingstag

sind die kinder im wald.

als teil der natur,

versunken in ihr spiel,

handfest glücklich.




am waldrand fällt ihr blick

einen moment nach draußen:

hinter der großen eiche,

dem letzten schutz,

über dem fluss,

dem bürgen des lebens,

harrt der kasten aus stein,

das monument ihrer

menschwerdung,

die schule.




absurd,

wirklich und unwirklich

zugleich

steht sie da drüben,

wie ein alien.




„wozu ist das gut?“

„wozu könnte es gut sein?“

sie flüstern.




dann folgen die kinder

wieder ihrem spiel,

das leben heißt,

in dieser vertrauten umgebung,

der großen harmonie,

die sie liebt und lehrt,

wer sie wirklich sind. 

 

 

 

*

Prolog meines Buches "Schule mit menschlichem Antlitz", 2001


 



Montag, 12. Februar 2024

Herzinfarkt und Sternennächte

 


Eine gute Freundin ruft an, sie kann nächste Woche nicht zum Geburtstagsbesuch kommen. Na gut, denke ich, o.k., ringe mich aber durch, nachzufragen: "Warum?" "Na, weil ich im Krankenhaus bin." Spärliche Mitteilung. "Was gibt es denn?" "Herzinfarkt, gestern, aber jetzt ist alles gut."

Ich bin sprachlos und sehr berührt. Das sagt sie so nebenbei, und wenn ich nicht nachgefragt hätte... Wir reden dann eine ganze Weile darüber – aber erst am nächsten Tag, als ich mich berappelt habe und denke, dass ihr mein Nachfragen und mein Mitfühlen gut tun könnte. So war es dann auch. Ich wollte schon die drei Stunden hinfahren und Wiesenblumen mitbringen. Aber ich kenne sie ja und weiß, dass ihr soviel Aufhebens nicht gefällt. Das Gespräch kam aber gut.

"Das kann ruck-zuck vorbei sein. Das war es dann." Sie sieht das nüchtern. Und ich? Na ja, recht hat sie ja. So kann es schon sein. Ich blicke auf und in den Sommer, mein Joggen, die Wiesengänge, meine immer wieder neuen schönen Alltäglichkeiten. Meine Lieben. Mein Lebensprojekt Amication. Und meine Sternennächte.

Dahin wird die Reise gehen, ins Unendliche, zu den Sternen eben. Wenn es soweit ist. Ist es aber noch nicht! Kann aber passieren, jederzeit. Ja klar. Soll dann so sein. Jetzt aber eben nicht. Jetzt höre ich beim Schreiben die Amsel singen. Und sehe das nachlassende Sonnenlicht in der Abendzeit. Und weiß, dass der Vollmond gleich über den Wiesen stehen wird. Ich bin hier, in dieser bunten Welt, mit ihren Geheimnissen. Es ist halt so viel los und alles ist so voll. Es soll nicht zu Ende sein.

Das Ende all dieser Dinge kann dann kommen, wenn es denn zu kommen hat. Das sehe ich auch nüchtern. Aber schade ist es dann doch ...


Montag, 5. Februar 2024

Verantwortung und Durchsetzen

 


Ich kümmere mich um meine Kinder, das ist so selbstverständlich wie was. Aber nicht deswegen, weil ich für sie verantwortlich bin. Was bedeutet das? Und warum kümmere ich mich dann? Und was passiert in der inneren Welt, wenn ich mich in der äußeren durchsetze?

*

Amication bedeutet in der Kommunikation mit den Kindern einen radikalen Bruch mit der Tradition. Die Botschaften der Kinder werden anders verstanden. Die Kinder sagen den Erwachsenen in ihren Herzen:

»Liebe mich, aber nimm mir nicht meine Verantwortung für mich selbst. Denn ich bin ein selbstverantwortliches Wesen von Anfang an. Hilf mir, unterstütze mich, sage ehrlich, wenn Dir etwas zu viel wird. Und auch wenn Du Dich durchsetzt: Maße Dir nicht an, besser zu wissen als ich, was für mich wirklich gut ist. Deine subjektive Wahrheit ist mir willkommen oder nicht willkommen und stets meiner subjektiven Wahrheit gleichwertig. Niemals aber kann Deine Wahrheit über meiner stehen.«

Es geht dabei nicht um das Handeln, sondern um das Spüren der Wahrheit.

Die amicative Antwort ist: »Ich liebe Dich, und ich bin nicht für Dich verantwortlich – denn dies bist Du selbst von Anfang an, zu 100 Prozent. Ich handele so, wie es mir und meiner Wahrheit entspricht, ohne dabei meine Wahrheit über Deine zu stellen – auch wenn ich mich durchsetze und Du dann tun musst, was ich für richtig halte.“

Liebe ja – Verantwortung nein. Durchsetzen ohne Herabsetzen.


Montag, 29. Januar 2024

Lass mir mein Bild

 


Vorgestern habe ich Amication in einer kleinen Eltern- und Studentengruppe im privaten Kreis vorgestellt. Zum Schluss sagte eine Teilnehmerin, Kerstin, sie habe ein Gedicht geschrieben, es passe gut zum dem, was ich grade erzählt hätte. Wir wollten es alle hören, und Kerstin trug es vor. Ich habe sie gefragt, ob ich ihr Gedicht in meinen Blog stellen könne. Kerstin war einverstanden und hat es mir zugeschickt. 

*

 

Lass mir mein Bild

 

Ich will, dass du mich hältst.

Und dass du sagst:
"ich tröst dich, wenn du fällst"
und "ich bin für dich da,
wenn du mich brauchst". 
Aber ich will auch,
dass du mich respektierst.
Und dein Vertrauen nie verlierst
darin, dass ich es schaffe.
Und dass ich, was ich tu,
am Ende richtig mache.
 
Ich will, dass du mich gehen lässt.
Mich ziehen und verstehen lässt,
wie dieses Leben funktioniert.
Das geht, indem man ausprobiert
und läuft - nicht nur geradeaus.
Mach ich nen Fehler
dann mach du
dir nichts daraus.

Und glaub nicht,

dass du wüsstest
was du an meiner Stelle
machen müsstest.
Lass mir den Pinsel in der Hand,
mal nicht das Bild für mich.
Klar, sind die Farben und die Linien
da nicht einheitlich,
aber ich muss es selber malen,
ganz allein.

Sag nichts dazu,

misch dich nicht ein,
ich muss all das bestreiten.
Also: ich bitte dich, versuch's,
sie nicht zu überschreiten:
die Linie des Respektes zwischen uns.
Die sagt "es ist dein Leben,
und ob ich's möchte oder nicht,
muss ich dir Freiraum geben".

Also versuch es zu versteh'n:

lass mich los und lass mich geh'n,
ich kann's allein.
Willst du behilflich sein,
dann tröst' mich, falls ich falle.
Denn letzten Endes tun das alle
ab und zu.
Doch sei dir sicher und bewusst
dass ich das, was ich tu,
zu guter Letzt
und jedes Mal
auf meine Weise löse.

Zieh ich das Bild aus deiner Hand,
sei mir dafür nicht böse.


Kerstin Mühlhäuser







 
























































Montag, 22. Januar 2024

Anne, Karin und die Rutsche

 



Die dreijährige Anne und ihr Vater Martin kommen im Winter zum Spielplatz. Anne will rutschen und klettert die Leiter hoch. Aber es liegt Schneematsch auf der Rutsche, und Martin sagt, dass sie nicht rutschen soll. Weil sie eine nasse Hose bekommt und sich erkälten kann. Anne will trotzdem rutschen. Martin steigt rasch die Leiter hoch und holt Anne nach unten.

Kurz darauf kommen die dreijährige Karin und ihr Vater Klaus zum Spielplatz. Karin will rutschen und klettert die Leiter hoch. Aber es liegt Schneematsch auf der Rutsche, und Klaus sagt, dass sie nicht rutschen soll. Weil sie eine nasse Hose bekommt und sich erkälten kann. Karin will trotzdem rutschen. Klaus steigt rasch die Leiter hoch und holt Karin nach unten.

Beide Väter lieben ihre Kinder. Beide Väter tun dasselbe. Und dennoch gibt es einen großen und hochwirksamen Unterschied. Diesen kann man nicht so ohne weiteres erkennen, er will erfühlt werden. Aber man kann ihn erklären. Ohne dass ein Vorwurf daraus entsteht – aber sehr wohl das Aufzeigen eines anderen Wegs.

Beide Kinder erleben, dass sie nicht tun können, was sie wollen. Was sie als das Beste für sich erkannt haben. Nämlich zu rutschen, auch wenn auf der Rutsche Schneematsch liegt und der Vater das nicht will. Beide Kinder sind Schneematsch-Rutsche-Kinder. Beide Kinder können nicht tun, was sie für richtig halten. Beide erleben den Vater als Verhinderer, als Stein in ihrem Weg.

Annes Vater Martin ist in der amicativen Welt zu Hause. Karins Vater Klaus ist in der traditionellen, der pädagogisch orientierten Welt zu Hause. Im Unterschied zu Martin trägt Klaus die Verantwortung für sein Kind. Für die Beziehung von Klaus und Karin gilt, dass der Vater im Herausfinden und Bewerten des Richtigen dem Kind übergeordnet ist. Es gilt, für Klaus gilt: Ich weiß besser als Du, was für Dich gut ist. 

Klaus liebt seine Tochter, und er ist in Sorge um sie. Die amicative Sicht auf Klaus ist ohne Vorwurf, seine Liebe und Sorge werden gesehen. Dennoch aber wird etwas Ungutes erkannt, etwas, das sich vermeiden lässt, wenn man amicativen Boden betritt. Dies geht so:

Aus amicativer Sicht erlebt Karin die Haltung ihres Vaters Klaus – ich weiß besser als Du, was für Dich gut ist – als Grenzüberschreitung, schärfer ausgedrückt: als einen psychischen Angriff auf ihre, Karins, Bewertung. Sie erlebt, dass sie nicht ein Schneematsch-Rutsche-Kind sein darf, dass ihr Wille nicht richtig sein, dass ihre Weltdeutung falsch sein soll. Die Anspruchshaltung ihres Vaters erreicht Karin im Tonfall der Stimme, in der Art, wie er die Leiter hochkommt, wie er sie anfasst, wie sein Gesicht aussieht, auf den psychischen Kommunikationskanälen. 

Karin setzt sich innerlich dagegen zur Wehr, dass sie nicht das Kind sein darf, das sie sein will. Sie ist verstrickt in psychischen Übergriff und Abwehr. Sie fühlt, dass ihre Position weniger wert sein soll. Insgesamt: sie fühlt sich demoralisiert. Zur Verhinderung im Außenbereich – sie kann nicht tun, was sie will – kommt die Grenzüberschreitung im Innenbereich, der psychische Angriff durch die pädagogische Anspruchshaltung.

Anne erlebt dies nicht, weil ihr Vater Martin keine pädagogische, sondern eine amicative Haltung hat. Nach amicativer Auffassung gibt es auf der Innenseite der Beziehung kein objektiv besseres Wissen eines Erwachsenen darüber, was gut für ein Kind ist. Annes Vater interveniert aus seinen subjektiven Gründen, die er nicht als objektiv wertvoller einstuft als die Gründe des Kindes. Es gilt, für Martin gilt: Jeder spürt selbst am besten, was für ihn gut ist.

Einerseits sind beide Väter gleich: Beide sind in Sorge, dass ihre Kinder sich erkälten können. Und deswegen greifen sie ein. Doch während Klaus meint, dass er objektiv Recht hat (und nicht ahnt, welche ungute Wirkung das auf Karin ausübt), interveniert Martin ohne den Anspruch, dass dies zum objektiv Besten des Kindes geschieht, besser als es das Kind, seine Tochter Anne, selbst wahrnimmt.  

Dies erspart Arme die Demoralisierung, die Karin erlebt. Anne bekommt mit, dass Martin ihre Bewertung nicht ändern will. Dass er zwar anders bewertet und dies auch mitteilt und sich wünscht, dass sie seiner Bewertung folgt. Dass er ihr aber ihre abweichende Bewertung wirklich lassen kann. Sie erlebt sich auf der psychischen Ebene als gleichwertig. Ihr inneres Königtum wird nicht angetastet. 

Der Vater geht entschlossen gegen sie vor im Außenbereich, er holt sie ohne Wenn und Aber von der Leiter. Und zwar aufgrund seiner eigenen Interessen (Angst und Sorge verringern). Doch im Innenbereich schwingt die Achtung gegenüber ihrer Fähigkeit mit, das eigene Beste selbst spüren zu können. So, wie Anne es sieht. Nur, dass er dies aus seinen Gründen jetzt nicht Wirklichkeit werden lassen kann.

Die äußere, physikalische Aktion ist dieselbe – die innere, psychische Dimension ist grundverschieden. Dadurch ist die erlebte Realität gänzlich anders. Väter und Töchter verlassen den Spielplatz, und was so zum Verwechseln ähnlich aussieht, ist doch so verschieden. Zwei Kinder können nicht tun, was sie wollen. Aber das eine Kind, Karin, wird – trotz väterlicher Liebe und Sorge – zusätzlich belastet mit einer seelischen Grenzüberschreitung, einem psychischem Angriff und Demoralisierung. 

Das andere Kind, Anne, erlebt sich trotz der Verhinderung seines Wunsches als geachtet und anerkannt.

Montag, 15. Januar 2024

Jenseits der Schulpflicht



Die Abschaffung der Schulpflicht bedeutet das Ende des Lernzwangs und das Ende der heutigen Schule. Doch die Gebäude lassen sich weiter nutzen, und das Personal, die Lehrer, können eine wichtige neue Aufgabe übernehmen. Was sollte die Kinder denn davon abhalten, in Gebäude voller Ressourcen zu gehen, wenn sie dies nicht müssen und wenn sie niemand daran hindern darf? Wenn es dort freundliche und achtungsvolle Leute gibt, die für sie da sind, als Personen und fachliche Experten? Deren Angebote interessant, ja faszinierend sind? Lernen ohne Sollen öffnet das Tor, das Schultor, hinter dem die Kinder heute gefangen sind.

Ob sie jemals wieder einen Fuß durch dieses Tor setzen werden, wenn sie es nicht mehr müssen, wird von vielem abhängen. Die Erwachsenen werden sich schon anstrengen müssen, wenn sie etwas von ihrem Wissen von der Welt weitergeben wollen. Aber nur so wird es gehen: Das Angebot einer neuartigen Schule steht in Konkurrenz zu allem anderen, was sich den Kindern anbietet, wenn die Schulpflicht aufgehoben ist.

Die Abschaffung des Zwangslernens vergrößert die Basis der Demokratie: junge Menschen werden als vollwertige Bürger – als Bürger, die über ihr Denken und Lernen selbst bestimmen – in der Gesellschaft willkommen geheißen. Wenn in der Aufhebung der Schulpflicht eine Gefahr für Kinder gesehen wird (Kinderarbeit, Ausbeutung u. a.), dann kann man etwas dagegen tun. Begleitende Gesetze sorgen dafür, dass das Recht der Kinder, über ihr Lernen selbst zu bestimmen, nicht zu ihrem Nachteil wird. „Wer ein Kind gegen seinen Willen... wird bestraft.“ Unzählige solcher Schutzbestimmungen lassen sich ersinnen und in Gesetze fassen. Und bei entsprechendem gesellschaftlichen Willen auch effektiv durchführen. Den Kindern das Recht auf selbstbestimmtes Lernen zu ihrem Schutz zu nehmen – diese Verdrehung ist gänzlich überflüssig.

Die Schulpflicht wird nicht morgen und auch nicht übermorgen aufgehoben. Sie wird erst dann beendet sein, wenn hierüber ein gesellschaftlicher Konsens besteht. In den Parlamenten der Bundesländer muss es dafür jeweils eine Mehrheit geben, und ein solches Gesetz muss vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof Bestand haben. Wann wird das sein? Unzählige Diskussionen werden vorausgehen, auf allen Ebenen, kreuz und quer durch die Gesellschaft. Die anthropologische Grundlage, das Menschenbild vom Kind, wird sich ändern müssen. Der gesamte Umgang mit Kindern wird sich wandeln, bevor die Schulpflicht als Konsequenz aus dieser grundsätzlichen Veränderung von selbst aufgehoben wird.

Montag, 8. Januar 2024

Werkzeuge der Schule des 20. Jahrhunderts

 


London, im Mai 2215. Sie sind in den Ferien in England und kommen nach einem erlebnisreichen Vormittag zum Tower. Seit langer Zeit ist in dieser ehemaligen Trutzburg ein Museum eingerichtet, unter anderem sind die Kronjuwelen des britischen Königshauses dort dauernd ausgestellt. Doch diesmal gastiert eine Sonderausstellung, die für viel Aufsehen sorgt und die Sie sich nicht entgehen lassen wollen. Dort lassen sich „Werkzeuge der Schule des 20. Jahrhunderts (1900-2000)“ besichtigen.

Wie immer sind die Räume abgedunkelt, und die Besucher können im Kreis um die Exponate herumgehen. Das Besondere dieses Museums ist, dass man nicht stehen bleiben darf, wegen des großen Andrangs. Wer länger schauen möchte, muss dazu auf den rückwärts gelegenen Balkon gehen, der ebenfalls kreisförmig die Exponate umgibt. Nun, Sie sind im inneren Kreis und sehen, was es zu sehen gibt, und gehen langsam vorwärts. Flüstern ist im Raum, gespannte Aufmerksamkeit.

Sie sehen hinter dem Panzerglas einen länglichen Gegenstand, etwa zwei Hände lang, mit vielen Symbolen versehen und anscheinend beweglich, ausziehbar. Sie haben keine Vorstellung davon, was das sein könnte. Sie lesen die kurze Beschreibung: „Mathematikunterricht - Rechenschieber“. Raunen umgibt Sie. Eine Frau liest aus dem Katalog: „Damit wurden die Kinder damals angehalten, ihre Gedanken in Zahlen zu zwingen und ihre Harmonie mit der Welt zu zerteilen. In Ad-die-ren und Sub-tra-hie-ren und Mul-ti-pli-zie-ren und Di-vi-die-ren.“ Und sie sagt, und damit spricht sie Ihnen aus dem Herzen: „Schrecklich!“

Sie wenden sich dem nächsten Exponat zu. Eine Stange. Sie ragt neben der Vitrine nach oben und ist fünf Meter lang. Was um alles in der Welt wurde denn damit gemacht? „Sportunterricht - Kletterstange“ steht auf dem Etikett. Was ist eine Kletterstange? Ihr Nachbar erklärt: „Damit wurden die Kinder gezwungen, ihre Arme und Beine so zu bewegen, wie der Lehrer es wollte. Die Kinder mussten da hinaufklettern.“ Sie sind entrüstet: „Die haben sie gezwungen, ihre Arme und Beine? Die Kinder konnten über ihren Körper nicht selbst bestimmen?“ „Schule“, sagt Ihr Nachbar, „Schule!“

Weiter geht es im Kreis. Nun sehen Sie ein Blatt Papier. Es enthält Sätze, aber diese Sätze sind voller Lücken. Was soll das? Sie lesen die Beschreibung für die Museumsbesucher: „Deutschunterricht - Arbeitsblatt zum Ausfüllen“. Wieder verstehen Sie nichts. Sie hören, wie zwei andere Besucher kommentieren: „Mit diesen Papieren wurden die Kinder in die vorgezeichneten Bahnen der Sprache gezerrt. Es gab besondere Regeln, wie die Sprache benutzt werden musste. Nichts erfolgte authentisch, so wie wir heute sprechen. Die Kinder mussten das, was sie sagten, analysieren und diesem System unterwerfen. Man nannte das 'Grammatik' und es gab so seltsame Teile wie 'Subjekt, Prädikat, Objekt'."

"Die Kinder mussten die gesamten Regeln kennen und durften ihre Sprache nicht einfach benutzen und lieben. Sie entwickelten Abscheu zu ihrer Sprache und zu ihren Gedanken, wegen all dieser Unterdrückung. Unvorstellbar!“ Ihnen schaudert, als Sie sich vorstellen, dass Kinder in das Korsett von Sprachregeln gezwungen wurden. „Und darin soll ein Gewinn gelegen haben?“ Ihr Nachbar stellt sich als Historiker vor und sagt: „Ja, es gab einen großen Vorteil - für die, die andere beherrschen wollten, die sie sich gefügig machen wollten. Ihr Mittel war, durch die Schule ihre Gedanken und ihre Sprache unter Kontrolle zu bekommen.“

Eigentlich reicht es Ihnen jetzt und Sie haben genug von der „Schule des 20. Jahrhunderts“. Aber noch müssen Sie im Kreis weiter. Nun sehen Sie einen hölzernen Gegenstand. Es ist ein Kasten, mit runden Kanten, und mit einer Stange am oberen Ende, versehen mit Drähten. Das Ganze etwa armlang. Was ist denn das und was wurde damit gemacht? „Musikunterricht - Geige“ lesen Sie. Sie schauen in Ihren Katalog;

„Die Geige war kein reguläres Werkzeug der Schule, sondern sie war der Disziplinierung von Kindern mit besonderer musischer und spiritueller Begabung vorbehalten und diente der 'Strategie der Demoralisierung'. Diese Kinder waren am Anfang ihres Geigentrainings stets vollauf begeistert und sie öffneten ihre Herzen. Doch diese Offenheit verflog rasch – aber sie hatten einmal eingewilligt und durften sich dann nicht mehr vom Geigespielen lösen. Denn mit diesem Gerät sollte die besondere Sensibilität dieser Kinder in die gewünschten Bahnen gelenkt werden.“

„Man bediente sich akustischer Impulse (Töne), die von den Kindern selbst hergestellt werden mussten. Sie hatten die Finger ihrer linken Hand und den rechten Arm mit einem 'Bogen' in ganz bestimmter Weise zu bewegen, um die gewünschten Frequenzen zu erzeugen. Fixiert wurde mit sogenannten 'Noten'. Und da die Experten auf diesem Gebiet derart schwierige Übungen vorschrieben, die von den allermeisten Kindern niemals korrekt ausgeführt werden konnten, war der Effekt die gewünschte Demoralisierung und das benötigte Minderwertigkeitsgefühl. Von der steten Unlusterfahrung, in einem hochsensiblen emotionalen Bereich etwas tun zu müssen, was man nicht will, ganz zu schweigen. Und die wenigen Begabten, die das wirklich konnten und gern machten, wurden all den anderen als Norm vorgehalten, und die Unerreichbarkeit dieser Vorbilder steigerte das Gefühl des Versagens.“

Nun graust es Ihnen endgültig: Strategie der Demoralisierung? Herzen und Finger der Kinder zwingen? Der Katalog weist über 200 Exponate aus – erst vier haben Sie gesehen. Aber Sie brauchen Licht und Luft und sind froh, als Sie das Schild „Ausgang“ sehen: Nichts wie raus hier! Draußen setzen Sie sich auf eine Bank und blättern im Katalog. Sie halten inne – und mit einem entschlossenen „Nein“ werfen Sie den Katalog in den Papierkorb. „Banause“ hören Sie jemanden rufen. Sie lächeln zurück.


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Der Text ist aus meinem Buch "Schule mit menschlichem Antlitz", Münster 2001, S. 75ff

 

Montag, 1. Januar 2024

Mit Schwung!

 

 

„Da nimmst Du Schwung und fährst durch!“

Beim Joggen auf Feldwegen kommen mir eine Dreijährige auf ihrem kleinen Fahrrad und ihre Mutter auf ihrem großen Rad entgegen. Matschstelle. Das Mädchen zögert, doch ihre Mutter macht ihr Mut, und es klappt auch. „Alles nicht so einfach!“ rufe ich, und weg sind die beiden.

Ich bin oft vor eigentlich unschaffbaren Dingen, Hindernissen aller Art, großen und kleinen. Verlorenes wiederfinden, doch noch pünktlich sein, Amtsgeschäfte hinbekommen, Einkaufssachen schaffen, Geo-Cache finden, Joggingzeit einrichten, Kinderwünsche erfüllen. Ach, es gibt so vieles, was ganz und gar unrealistisch ist: unrealistisch, dass es zu schaffen ist.

Atlantik. Ich bekomme mit, dass Felix, 10, es nicht aus der Brandung schafft. Also hin, fasse ihn am Handgelenk und schwimm mit ihm Richtung Strand. Voll Kraft! Aber wir kommen nicht voran. Sog. Wir kommen nicht voran!!! Gut, dass er nichts davon mitkriegt. „Das schaffst Du“, ich sauge mich dran fest. Und wenn nicht? „Mach weiter!“ Ich nehme Schwung um Schwung, bis ich den Sand unter den Füßen spüre.

In mir ist eine stille Kraft, die mich Schwung haben lässt. Unverzagt sein. Zuversicht. Wird schon. Ohne dabei einen Aufriss zu machen. „Und wenn es nicht klappt? Wenn das Rad kippt? Die Bauchschmerzen bleiben? Das Buch ausverkauft ist? Das Überholen zu eng scheint? Ein Freund mich im Stich lässt?" Klar schwingt so etwas in mir. Aber es bannt mich nicht, lähmt mich nicht, nimmt mir nicht den Mut. „Da nimmst Du Schwung und fährst durch!“

Ich will das nicht übertreiben. Es gelingt ja auch immer wieder etwas nicht. Doch ein Punkt in Flensburg, doch keine Kinokarte mehr, doch das Knie kaputt. Aber diese Nichtgelinge nehmen mir nicht den Schwung, dieses sicher Gefühl. Diese Basis, willkommen zu sein, hier im Leben. Matsch, welcher Art auch immer: Wegmatsch, Meermatsch, Papiermatsch, Herzmatsch... Ich nehme Schwung und fahre drauf los, auf das Nein los, und immer wieder teilt sich die Dornenhecke und gibt mir Zutritt ins Rosenland.