Montag, 22. Juli 2024

Universumsangestellter

 

 

„Es geschieht doch alles sowieso so, wie es geschehen soll. Da kann ich doch gar nichts beeinflussen.“ Ein Statement auf einer Vortrags-Aussprache, als es darum ging, dass jeder für sich selbst verantwortlich ist und dass jeder sein eigener Chef ist.

Na ja, dachte ich, bin ich nun die Marionette des Schicksals/Universums/höherer Mächte oder gehöre ich mir selbst? Die Amication ist da eindeutig: Ein jeder gehört sich selbst und ist für sich verantwortlich. Und Punkt.

Aber. Man kann es sich ja auch so zurechtlegen: Kann schon sein, dass alles so geschieht, wie es geschehen muss. Ich bin dann eingewoben in diesen Sowieso-Prozess. Meine Entscheidungen, mit Chefgefühl vor mir und für mich verantwortet, quellen irgendwie, auf geheimnisvolle Weise aus dem Universum hervor, „es“ durchdringt mich und dann handele ich so, wie ich handle (geht zum Beispiel rechts herum zum See). 

Ich hätte auch anders entscheiden können (links herum), habe ich aber nicht. Die Wahl habe ich schon, Chefgefühl. Aber kommen muss es so, wie es kommen muss, egal ob rechts oder links herum. Wenn rechts herum, dann eben rechts herum (meine Entscheidung), wenn links herum, dann eben links herum (meine Entscheidung).

Ich bin mir sicher, dass ich entscheide, und dass ich es bin, der entscheidet. Und wenn mein Entscheidungen (meine Chef-Entscheidungen) in Übereinstimmung mit irgendeinem großen Plan stehen, ok, egal, dann eben. Irritiert mich nicht, wenn das so sein sollte. Bricht mir keinen Zacken aus der Krone.

„Spielt es wirklich eine Rolle?“ habe ich geantwortet. Und gemerkt, dass es für mich keine Rolle spielt, ob ich Universumsangesteller bin oder Universumschef. Ich tu eh, was ich vor mir verantworte. Wenn sich dann irgendwann einmal rausstellen sollte, dass ich da nur machte, was sowieso gemacht werden musste - ja mei! Dann soll es so sein und stört mich nicht.

„Aber dann ist so ein amicatives Chefgefühl doch pure Illusion!“ Puh – und wenn schon. Wer will das denn wissen? Überhaupt, was für ein merkwürdiges Gedenke. Muss ich das haben? Muss ich nicht. Bin halt auf dem Vortrag drauf angesprochen worden. Und das will ich ja auch nicht schlechtreden und steig mal drauf ein.

Jedenfalls bin ich gerne mein eigener Chef und genieße meine Selbstverantwortung. Und wenn meine Entscheidungen in irgendeinen großen Plan passen oder mir von dort rübergereicht werden: Auch gut, ändert nichts an meiner Zufriedenheit. Sitze ich einer Illusion in Sachen freie Entscheidung, Chef und Co auf? Wenn man keine anderen Probleme hat! Ich mach mich da ein bisschen lustig drüber, über die Universumsspürer und spirituellen Pfadfinder, bei allem Respekt. „Bleiben Sie auf dem Teppich“ habe ich gesagt, „das spielt doch für unser kleines konkretes Leben im Hier und Jetzt keine wirkliche Rolle.“ Ist es so? 

So einfach? Warum denn nicht.

 

Montag, 15. Juli 2024

Gruni

 



Mit lauten Knall wachte Gruni auf. Er rieb sich die Augen und sah an sich herab. Sein Fell war schwarz, und seine fünf Füße waren gelb. Das war nichts Besonderes. Gruni sah aus wie eine Mischung aus Fuchs und Eichhörnchen, und er hatte fünf Beine und drei Ohren. Die Ohren waren rot, blau und orange.

Sein Freund, der grüne Prachtkäfer, war erschreckt hochgefahren, als Gruni mit dem Knall aufwachte. „Was ist los?“, fragte er verschlafen. „Es ist Mogudazeit“, antwortete Gruni. Er sprang von seinem Schlafast und huschte über die Höhle zur Quelle. Er tauchte ein, trank und spritzte den Prachtkäfer nass. Sie rannten über die Lichtung, und in der Radkappe machten sie halt.

 Das Wetter ist schön“, stellte Gruni zufrieden fest. Der Prachtkäfer nickte. Sie warfen den Stemmmast, und als er in die Richtung der Schwäne fiel, sahen sie sich bedeutungsvoll an. Sie klopften an die Radkappe, und schon flogen sie zu den Schwänen. Sie landeten bei Hofua, dem sechsten Schwan, und sie schenkten ihm rosa Farbe von dem vierten Ohr Grunis, das er im Rucksack bei sich führte.

Der Schwan nahm die rosa Farbe, bestrich damit eine alte Feder und hörte hinein. Die Feder berichtete ihm, dass hinter dem Glasberg ein Schwan abgestürzt sei und auf Hilfe wartete. Der Schwan bedankte sich sich bei Gruni und dem Prachtkäfer und flog fort.

Gruni warf die Radkappe in die grüne kleine Pfütze, und der Prachtkäfer zählte die Worte, die aus der Pfütze kamen. „Es sind siebenundvierzig“, sagte er zu Gruni. Sie spannen aus den siebenundvierzig Worten ein Floß und segelten mit ihm durch vier Zeitwinde. „Das liegt an der Mogudazeit“, vermutete der Prachtkäfer. Deswegen kamen sie nicht so rasch vorwärts. Es wurde dunkel, und als der dritte Mond untergegangen war, legten sie sich zum Schlafen.

Gruni wachte wieder mit einem lauten Knall auf. Sein Fell war schwarz und seine fünf Füße waren gelb. Seine Ohren leuchteten rot, blau und orange. Nur der grüne Prachtkäfer war nicht mehr da. „Suchst Du ihn?“, fragte die Eule. „Nein“, antwortet Gruni, „ich habe ihn.“ Er drehte sich immer schneller um sich selbst, und als sein Schlafast anfing, sich mitzudrehen, fiel er in den Ast und begegnete dem Prachtkäfer in seinem Gang. „Komm“, sagte der Prachtkäfer, „lass uns diesen Ausgang nehmen.“

Sie gelangten auf eine rosa Wiese, und sie sahen, dass der Schwan seinem kranken Artgenossen den Flügel verbunden hatte. Gruni gab wieder etwas rosa Farbe ab, und die Gräser der rosa Wiese begannen vor Freude zu niesen. Gruni setzte sich neben den grünen Prachtkäfer, und ihre Morgenquelle hielt die beiden Schwäne im Arm. Sie sahen zu, wie die Sonne den zweiten Mond ablöste, und sie begannen mit ihrem Frühstück. Sie verschenkten Tee an die Halme, und sie lachten im Morgenwind.

 

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Aus meinem Buch „Fuchs Schneeflocke. Zauberhafte Gute-Nacht-Geschichten“


 

Montag, 8. Juli 2024

Nicht erziehen - das soll das!



 

Mein Freund Bogdan, Pädagogik-Professor an der Universität Lodz in Polen, wird zu seinem 70. Geburtstag mit einer Festschrift geehrt. Ich kann mit einen Beitrag mitmachen. In meinen Texten finde ich etwas, das ich den dem Fachpublikum gern vorstellen möchte. 

Den ersten Teil meines Beitrags habe ich in den letzten Post gestellt. Hier der zweite Teil. 

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Nicht erziehen - das soll das!

Interpretationen, Bilder vom Menschen, können sich als überholt erweisen.

Zum Beispiel die Sicht, dass jemand mit schwarzer Haut ein nicht so richtiger und wertvoller Mensch ist wie jemand mit weißer Haut und dass er sich zum Sklaven
eignet. Oder die Sicht, dass Männer die richtigeren und wertvolleren Menschen sind, und dass man deswegen den Frauen das Wahlrecht nicht zubilligen darf. Oder die Sicht, dass nur der König die Staatsgeschäfte richtig führen kann, nicht das Volk. Oder, oder, oder. Menschenbilder gibt es viele, doch stets sind sie Hypothesen, Bilder – niemals jedoch bewiesene Tatsachen des Lebens.

Die pädagogische Sichtweise auf das Kind ist auch nichts anderes als eine solche anthropologische Hypothese. Sie ist nicht wirklich zu beweisen, aber sehr wohl als Grundlage für den Umgang mit Kindern geeignet und bewährt.

Bis eine neue anthropologische Hypothese auftritt und das alte Bild und die vertraute Basis in Frage stellt. Bis jemand kommt, der die pädagogische Sicht vom Kind nicht mehr akzeptiert und einen nicht pädagogischen Weg zu den Kindern sucht. Und findet. Und entsprechend seiner neuen Hypothese zu leben beginnt. Und nicht scheitert, sondern Erfolg hat. Und genau solche Menschen gibt es heutzutage.

Diese Menschen kommen aus der konstruktiven Postmoderne, in der die Gleichwertigkeit aller Phänomene als Grundlage erkannt wird. Niemals steht etwas wirklich über dem anderen, Weiße nicht über Schwarzen, Männer nicht über Frauen, Regierende nicht über Regierten, Menschen nicht über der Natur, Philosophien nicht über Philosophien, Religionen nicht über Religionen, Kulturen nicht über Kulturen. Und auch nicht Erwachsene über Kindern.

Wenn das Paradigma der Gleichwertigkeit ernst genommen und zur Grundlage gemacht wird, dann gibt es den Unterschied von einem vollwertigen Menschen (dem Erwachsenen) und einem noch nicht vollwertigen Menschen (dem Kind) nicht mehr – sondern es wird gesehen, dass beide auf einer gleichen Plattform stehen, der Plattform des vollwertigen Menschen. 

Und dann hat eine missionarische Haltung, wie sie jeglicher Erziehung zugrunde liegt, keinen Platz mehr. Dann werden Kinder nicht mehr erzogen, dann lebt etwas anderes als Erziehung zwischen Erwachsenen und Kindern: personale Beziehungen, wie bei allen anderen Menschen auch.

 



Montag, 1. Juli 2024

Nicht erziehen - was soll das?

 

 

Mein Freund Bogdan, Pädagogik-Professor an der Universität Lodz in Polen, wird zu seinem 70. Geburtstag mit einer Festschrift geehrt. Ich kann mit einen Beitrag mitmachen. In meinen Texten finde ich etwas, das ich dem Fachpublikum gern vorstellen möchte. 

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Nicht erziehen - was soll das?

Die Kinder sind da, die Erwachsenen sind da, die Gesellschaft ist da, voller Werte, Orientierungen, Grenzen, Herausforderungen. Es ist alles bereitet und bereit, wenn ein Kind geboren wird. Das Abenteuer Leben kann beginnen. Eltern lieben ihre Kinder, sind Ressource und Trost, Unterstützung und Stützpunkt, wozu um alles in der Welt braucht es da noch Erziehung?

Nun, Erziehung ist eben mehr als das Selbstverständliche. Erziehung ist etwas Besonderes. Erziehung ist die Aufgabe und der Auftrag, dafür zu sorgen, dass die Kinder gelingen. Dass sie richtige, vollwertige Menschen werden. Erziehung ist Sendung, eine kulturelle und zivilisatorische Mission: aus Kindern Menschen zu machen; sie zu bilden, formen, lenken, ihnen die richtigen Werte mitzugeben und sie an ein Verhalten zu gewöhnen, das sie überlebenstüchtig macht.

Erziehung ist unverzichtbar, ohne Erziehung gibt es Chaos und Unglück. Es braucht heutzutage mehr und vor allem bessere Erziehung, bessere Methoden, bessere Bücher, bessere Seminare. Sind daran Zweifel erlaubt? Jeder weiß, was passiert, wenn zu wenig erzogen wird ... wenn überhaupt nicht mehr erzogen wird – so etwas ist außerhalb des Vorstellbaren.

Wer sollte auch ernsthaft auf die Idee kommen, mit der Erziehung aufzuhören? Dieser Gedanke ist abwegig und ein schlechter Witz. Gegen diesen Gedanken stehen nicht nur die pädagogische Wissenschaft, die zigtausend Erziehungsbücher, das Engagement der unzähligen pädagogischen Professionellen, sondern auch die Lebenserfahrung und der Blick in die Geschichte. 

Aber genau dieser Gedanke soll hier gedacht werden. 

Nein, nicht der Gedanke vom Ende der Erziehung, der ins Chaos führt. Sondern ein anderer Gedanke vom Ende der Erziehung: ein Gedanke, der einen neuartigen und konstruktiven Weg für Erwachsene und Kinder öffnet.

Es beginnt mit einem Nachsinnen über das Bild vom Kind. Woher wissen Erwachsene, was Kinder sind und wie sie mit ihnen umgehen sollen? Wer kennt sich aus und wen kann man fragen?

Als die Erwachsenen selbst Kinder waren, haben sie von ihren Eltern gelernt, was es für ein Bild vom Kind gibt: das Bild von einem jungen Menschen, der Erziehung braucht, um ein richtiger Mensch zu werden.

Aber – und hier setzt das Nachsinnen ein – dies ist nur ein Bild, eine Vorstellung, eine Vermutung, eine Hypothese. Gewiss, diese Hypothese hat sich bewährt, alles läuft darauf hinaus, dass Kinder Erziehungsmenschen sind und Erziehung brauchen, und jeder verhält sich so. Aber Kinder tragen kein Schild auf der Stirn mit der Aufschrift »Ich brauche Erziehung«. Erwachsene sehen diese Aufschrift, aber sie ist nicht real da, sondern nur im gewohnten Blick, in der gewohnten Interpretation vom Kind.

Und Interpretationen, Bilder vom Menschen, können sich als überholt erweisen.

 

 

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Fortsetzung des Texts im nächsten Post.

 

Montag, 24. Juni 2024

Vortrag "Ich muss gar nichts!"

 

 

In meinen Vorträgen „Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen“ zeige ich einen neuen (amicativen) Blick auf die Kinder und unsere Beziehungen zu ihnen. Die amicative Position, dieser neue Blick, entlastet Eltern. Neulich bedankte sich eine Mutter, sie fand den Gedanken, dass sie ja eigentlich nichts wirklich muss – sondern kann und will, einfach befreiend. Ihre Souveränität war wieder da, all die Anforderungen an eine „gute“ Mutter hatten keine Macht mehr über sie. Sie selbst fühlte sich wieder als Chefin des Unternehmens „Kinder großziehen“.

Und ich dachte: „Vielleicht biete ich den Abend ja einmal offensiv unter dieser befreienden Überschrift an, egal, wie missverständlich bis utopisch sich das auf den ersten Blick ausnimmt. Außerdem könnte ich auch einen guten Text dazu schreiben.“ Der Gedanke nahm Gestalt an, und in einigen Kindergärten gibt es jetzt neben dem Klassiker „Kinder sind wunderbar“ schon den Elternabend „Ich muss gar nichts!“. Hier ist der Einladungstext, der in der Kita ausgehängt oder per Mail oder SMS verschickt wird.

 

 

 

Elternabend

Dienstag, 1. Oktober 2024

19:30 Uhr

 

Dr. Hubertus von Schoenebeck

Ich muss gar nichts!

Unterstützen statt erziehen

Vortrag mit Gespräch


Eltern sind immer wieder am Limit: „Mache ich das richtig? Die Kinder tun einfach nicht das, was sie sollen.“ Ja, Erziehung ist anstrengend. Hier kann ein neuer Blick auf das tägliche Theater helfen: „Unterstützen statt erziehen“. Seit Millionen Jahren haben Eltern ihre Kinder großgezogen, und selbstverständlich können Sie das auch.

Der Abend zeigt Ihnen, wie Sie mit einem großen Stück Gelassenheit und frechem Mut all den Zweifeln begegnen können: „Ich muss gar nichts!“. Sie lieben Ihre nervigen Kleinen, mehr muss doch gar nicht sein. Der Rest ergibt sich, ein Nein ist ein Nein, und wenn die Sonne scheint, gibt es ein Eis extra.

Lassen Sie sich nicht ins Bockshorn jagen: Sie sind eine wunderbare Mutter und ein wunderbarer Vater. Ich erzähle Ihnen von diesem Selbstvertrauen, es will nur einmal angedacht sein, dann wird das schon. Ich habe sechs Kinder und neun Enkel, lassen Sie sich an dem Abend zu der Kraft entführen, die in allen Eltern steckt. Nur Mut!

Dr. phil. Hubertus von Schoenebeck. Ich habe als Lehrer gearbeitet, bin Sachbuchautor zu Erziehungsfragen und seit über 30 Jahren in der Familienbildung tätig. Ich halte einen kurzweiligen Vortrag und freue mich auf Ihre Fragen.


Montag, 17. Juni 2024

Meine Doktorarbeit




Für meine Doktorarbeit (Dr. phil.) nahm mir zweieinhalb Jahre Zeit und führte eine Feldstudie über nichtpädagogische Beziehungen durch. Also eine praktische Arbeit mit Kindern. Die Forschungskinder waren drei bis 18 Jahre alt. In kleinen Gruppen, jeweils im gleichen Alter. Also zwei Dreijährige, drei Vier- bis Sechsjährige, dann Sieben- bis Neunjährige und so weiter. Wir trafen uns nachmittags, an Wochenenden und in den Ferien in meinem Ferienhaus.

Wie realisierte ich das? Nach dem Prinzip des „Einfach-So“, wie ich das nannte. Ich kam mit meinem Käfer zur festgesetzten Zeit zu den Treffpunkten. „Was machen wir heute?“ Sie hatten Vorschläge. Wenn nichts kam, hatte ich welche. Irgendetwas passierte dann. Ab in den Wald, Baggerloch, alter Steinbruch, Felsenklettern, Abenteuerböschung, Kanal, Fluss, Geländespiel, Bumerangwerfen, meine Wohnung, Monopoly, Jugendzentrum, Rudern, Bäumeklettern, Zoo, Pferde, Disco, sonst was. 

Rumfahren im Auto und dabei Quatschen war sehr beliebt, ich chauffierte und hörte zu. Und immer wieder einfach Abhängen, passte immer. Mit was zu Futtern aus meinem Picknickkorb. Oder aus der Pommesbude. Von nachmittags um drei bis abends um sechs, sieben, acht oder neun, das Ende setzten sie selbst fest.

Die Kinder machten ihr Ding, ich war dabei, als „Gast im Kinderland“, machte mit oder auch nicht. Ich war akzeptiert und gemocht und störte sie nicht. Vor allem: Ich war nicht distanziert, ich beobachtete sie nicht mit weißem Forscherkittel. Ich war eingebunden, ich erlebte mit. Ich war ganz da, die Person, die ich bin. Ich dirigierte sie nicht, ich nahm mich aber auch nicht zurück. Und wenn mir etwas nicht passte, dann sagte ich das auch. 

Kurzum, ich ging mit ihnen so um, wie ich mit meinen erwachsenen Freunden auch umgehe: auf gleicher Augenhöhe. Es war ein großes Abenteuer in einem fremden und zugleich vertrautem Land.

Ich nahm das alles in mich auf. Und nach und nach wurde es klarer und dichter: So – so sind sie, die Kinder. Und so – so komme ich mit ihnen zurecht, wenn ich sie nicht pädagogisch sehe und angehe, sondern authentisch mit ihnen unterwegs bin. 

Was das „so“ bedeutet? Tja! Was bedeutete das „so“ im gleichwertigen Umgang mit Afrikanern? Mit Frauen? Mit einer anderen Religion? Mit der Natur? Das lässt sich nicht in drei Worte fassen. Ich notierte dazu 782 „Determinanten“, Orientierungen für unser gleichwertiges Miteinander. Das „so“ ist eine besondere Qualität des Miteinanders.

Ich lernte also, worauf man achten muss, wenn man mit Kindern gleichwertige Beziehungen realisieren will. Wo sind die Ecken und Kanten? Ich fand es heraus. Meine Doktorarbeit wurde anerkannt mit „magna cum laude“, sehr gut. Ich war Doktor der Philosophie.


 

 

Montag, 10. Juni 2024

Selbst-Verantwortungs-Training: Lernen in der Gruppensitzung


 

In den letzten Posts habe ich über das "Selbst-Verantwortungs-Training" geschrieben. Dabei ging es um Inhaltliches. Aber wie sieht das alles konkret aus?

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Lernen in der Gruppensitzung

Die Entfaltung der Selbstverantwortung findet in den Gruppensitzungen statt. Hier sind Menschen zusammengekommen, die mit Hilfe einer speziellen Psychodynamik lernen möchten, ihre Selbstverantwortlichkeit neu anzuwenden.

Das Zusammensein mit den anderen in der Gruppensitzung konfrontiert die einzelnen immer wieder mit diesen Fragen:

Was will ich hier eigentlich – in diesem Kreis?
Wie kann ich hier das tun, was ich will?
Was will ich wirklich?

Die vielen kleinen und großen Geschehnisse einer Gruppensitzung setzen jede und jeden Teilnehmenden einem Ansturm von Entscheidungssituationen aus. Dabei erleben sie immer aufmerksamer, dass tatsächlich jede und jeder einzelne für alles und jedes, was sie hier tun oder lassen, selbst die Verantwortung tragen:

Soll ich auf dem Stuhl oder auf dem Kissen sitzen?
Will ich, dass das Fenster offen oder geschlossen ist?
Soll das Licht ein oder ausgeschaltet sein?
Soll ich diese Frage stellen?
Diese Antwort geben?
Diesen Wunsch äußern?
Diesem Vorschlag folgen?
Diesem Gespräch weiter zuhören?
Diesen Dialog unterbrechen?
Dieses Gefühl mitteilen?
Was will ich wirklich?

Die Gruppensitzung ist voller Chancen, sich selbst immer wieder als die und den eigentlich Verantwortlichen für das eigene Verhalten zu entdecken: So wird die Selbstverantwortung in kleinen und kleinsten Schritten nebenbei und unthematisiert trainiert.

„Soll ich weiter an der Gruppe teilnehmen oder nicht?“ Jede und jeder legen den Umfang ihres Trainings selbst fest. Während die einen nicht genug von der Psychodynamik der Gruppe bekommen können und ihnen jede Sekunde wichtig ist, schätzen andere die Möglichkeit des Rückzugs und die Situation außerhalb der Gruppe. Und alle haben auch stets die Möglichkeit, das psychodynamische Lernen in der Gruppe wieder aufzunehmen.

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Das Selbst-Verantwortungs-Training habe ich ausführlich und im Detail auf meiner Website vorgestellt, www.amication.de

Das diesjährige Selbst-Verantwortungs-Taining findet vom15. bis 17. November 2024 in Sprockhövel bei Wuppertal statt. Ich werde dabei der Garant sein. Anmeldungen können über meine Website "amication.de" unter "Seminare" vorgenommen werden.


 

Montag, 3. Juni 2024

Selbstverantwortung und Selbst-Verantwortungs-Training

 

 

In diesem Post schreibe ich wieder etwas über das Selbst-Verantwortungs-Training. Es wird klar, warum ich diese Gruppendynamik "Selbst-Verantwortungs-Training" genannt habe.

Das Selbst-Verantwortungs-Training ist eine amicative Gruppendynamik, die in Gruppensitzungen durchgeführt wird, es ist auf meiner Website „amication.de“ ausführlich und im Detail beschrieben.

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Wie jeder Organismus hat auch der Mensch die Energie, sich in der Umwelt zu behaupten und sich für die eigenen Bedürfnisse einzusetzen. Und wie jedes Lebewesen spürt auch jeder Mensch selbst am besten, was für ihn gut ist und was ihm schadet. Diese Fähigkeiten werden dem Menschen von der Natur mitgegeben.

Von Anfang an entfaltet sich die von innen kommende Kraft, das Leben nach den eigenen Kriterien zu gestalten und für sich selbst Verantwortung zu tragen. Selbst Verantwortung für sich zu tragen ist den Menschen als wichtige Voraussetzung für eine sinnvolle und glückliche Lebensführung mitgegeben.

Doch die Tradition erkennt im Menschen nicht ein Wesen, das von Anfang an in der Lage ist, für sich verantwortlich zu sein. Die Wirklichkeit der Kinder ist voller Erwachsener, die sagen: „Ich weiß besser als Du, was für Dich gut ist!“

Das traditionelle „Ich bin für Dich verantwortlich“ verhindert die Entfaltung der mitgebrachten Selbstverantwortungsfähigkeit in der Kindheit. Den Menschen geht dadurch eine wichtige Zeit verloren, in der sie lernen können, diese innere Kraft wahrzunehmen und als Kompass für alle Situationen des Lebens zu benutzen.

Dieser Erfahrungsverlust bleibt nicht ohne Folgen. Wer ein Kinderleben lang gelernt hat, dass nicht er selbst für sein Leben die Verantwortung tragen könne, sondern dass andere für sein Glück und Leid zuständig seien, trägt diese Abhängigkeit in sein Erwachsenenleben. Er wird leicht zum Spielball fremder Interessen, Werte und Normen, und es fehlt ihm die Kraft, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und durchzusetzen.

Über diesen Zusammenhang klärt die postpädagogische Weltsicht (Amication) auf. Jeder kann dadurch bemerken und erkennen, dass er in der Kindheit am eigenen Ich vorbeigeschleust wurde. Und jeder kann heute die Verantwortung für sich selbst wieder zur uneingeschränkten Basis seines Lebens machen.

Das Selbst-Verantwortungs-Training unterstützt die Entfaltung der Selbstverantwortung durch eine besondere Form der psychodynamischen Gruppenarbeit und gehört zu den Hilfen, die es im Rahmen der Humanistischen Psychologie gibt.

Die postpädagogischen Aussagen zur Selbstverantwortung werden auf spezifische Art und Weise so in einen gruppendynamischen Prozess eingebracht, dass die Teilnehmenden intensiv erleben und fühlen können, was es bedeutet, für sich verantwortlich zu sein.

 

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Das diesjährige Selbst-Verantwortungs-Taining findet vom15. bis 17. November 2024 in Sprockhövel bei Wuppertal statt. Ich werde dabei der Garant sein. Anmeldungen können über meine Website "amication.de" unter "Seminare" vorgenommen werden.

 

 


Montag, 27. Mai 2024

Selbst-Verantwortungs-Training: Moralisierungsfrei sein

 

 

In den beiden letzten Posts habe ich über das Selbst-Verantwortungs-Training geschrieben. Das Selbst-Verantwortungs-Training ist eine amicative Gruppendynamik, die in Gruppensitzungen durchgeführt wird, es ist auf meiner Website „amication.de“ ausführlich und im Detail beschrieben. Es ging in den beiden Posts um die Figur des "Garanten". Heute stelle ich ein charakteristisches Element dieser amicativen Gruppendnamik vor: das Bemühen darum, moralisierungsfrei miteinander umzugehen.

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Moralisierungsfrei sein

Das objektiv gefärbte Urteil über den anderen enthält ein destruktives Element: es setzt den objektiven Urteiler über den Beurteilten. Der Beurteilte fühlt sich unten, klein gemacht, demoralisiert.

Wenn in der Gruppensitzung Urteilen mit objektivem Anspruch stattfindet, wird eine Erlebniswelt gestützt, die es aber gerade zu überwinden gilt. Nämlich das besserwisserische „Ich bin für Dich verantwortlich“ und „Ich weiß besser als Du, was für Dich gut ist“. 

Solche objektiven Aussagen über den anderen enthalten ein deutliches Element des Moralisierens: den erhobenen Zeigefinger, den Ton des Besseren, die Missachtung des Nicht-so-Guten, die überlegene Art des Aufgeklärten, Informierten,Toleranten, psychologisch Geschulten, des Klügeren, der nachgibt. Immer ein Element, das dem anderen die schlechtere Position zuschiebt.

Stets, wenn solches Moralisieren stattfindet, lässt sich eine spezifische Blockierung in der Gruppe wahrnehmen. Die tief eingeprägten, in der Kindheit erlernten Erstarrungen und Ohnmachtsgefühle schwappen heran, ungute Gefühle breiten sich in der Gruppe aus. 

Wenn andere Teilnehmende dann noch in das objektivierende Urteilen einfallen („das hast Du aber wirklich gesagt“), anderen jedoch die selbstverantwortliche, vom Moralisieren freie Art des Umgangs bewusst und wichtig ist, kommt es zur Polarisierung beider Systeme.

Das wird vor allem zu Beginn nicht immer offen ausgetragen. Es schwelt und kommt erst später zum Ausbruch. Es kann dann bei kleinstem Anlass ein wütendes Sich-Wehren gegen ein objektivierendes Urteilen erfolgen, das alle zunächst verwirrt und völlig überzogen erscheint.

Danach ist die Problematik des Moralisierens jedoch endgültig offengelegt, und die Teilnehmenden gehen sensibler mit dem Phänomen um. Sie bemühen sich, Moralisieren zu unterlassen beziehungsweise es sofort zurückzuweisen. Das Moralisieren ist dabei nicht an Formulierungen gebunden. Die können sich sehr freundlich geben. Moralisieren ist eine Sache der psychischen Begegnung, eine Sache des Tons, des Gefühls und der Einstellung.

Es kann auch geschehen, dass der eine oder andere am Moralisieren bewusst festhält, da er vom Urteilen über Menschen mit objektivem Anspruch nicht abrücken will. Im Unterschied zu denen, die unbeabsichtigt immer wieder in das erlernte Moralisieren zurückfallen und die sich Schritt für Schritt davon zu befreien beginnen.

Es wird dann klar, dass so jemand das Selbstverantwortungsprinzip nicht übernehmen kann und will. Entweder beendet er seine Teilnahme vorzeitig – bereichert um diese Erkenntnis – , oder er erlebt gemeinsam mit den anderen die Konfrontation oder auch Koexistenz beider Systeme.

 

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Das diesjährige Selbst-Verantwortungs-Taining findet vom15. bis 17. November 2024 in Sprockhövel bei Wuppertal statt. Ich werde dabei der Garant sein. Anmeldungen können über meine Website "amication.de" unter "Seminare" vorgenommen werden.






 

 

Montag, 20. Mai 2024

Garant im Selbst-Verantwortungs-Training

 

 

Das Selbst-Verantwortungs-Training ist eine amicative Gruppendynamik, die in Gruppensitzungen durchgeführt wird. Das Selbst-Verantwortungs-Training ist auf meiner Website „amication.de“ ausführlich und im Detail beschrieben. Hierbei kommt die Figur des „Garanten“ vor. Der Garant ist ein Teilnehmer, dem die Garanten-Funktion vom Veranstalter des Trainings übertragen wird. Seine Position und seine Aufgaben sind nicht leicht zu verstehen. Um eine bestimmte Funktion des Garanten besser verständlich zu machen, habe ich im letzten Post über den „Schnüffelfuchs“ geshrieben. Heute stelle ich die gesamte Aufgabe des Garanten vor.

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Selbst-Verantwortungs-Training - Der Garant

Niemand weiß mit Verbindlichkeit für einen anderen, was für ihn gut ist. Das Prinzip der Selbstverantwortung lässt keinen Besserwissenden für Wachstum und Entwicklung zu als den jeweils Betroffenen selbst. Jeder Teilnehmende ist also sein eigener Selbst-Verantwortungs-Trainer. Das schließt nicht aus, dass man sich von anderen helfen lassen kann, aber auch hierüber entscheidet ein jeder selbst. Und während des gesamten Hilfsprozesses bleibt jeder selbst am Regiepult, auch wenn er einem anderen grünes Licht gibt, hilfreiche Ideen einzubringen. Selbst-Verantwortungs-Training hat somit keinen Leiter, Moderator, Facilitator oder sonstigen Trainer.

Selbst-Verantwortungs-Training ist jedoch nicht nur eine Selbsthilfegruppe ohne Leiter. Beim Selbst-Verantwortungs-Training ist eine Person dabei, die das Selbstverantwortungsprinzip verinnerlicht hat. Sie wird „Garant“/„Garantin“ genannt. Der Garant fühlt die Selbstverantwortungsidee als existenzielle Größe in sich. Seine Anwesenheit bedeutet, dass durch eine (seine) Person das Selbstverantwortungsprinzip unter den hier zusammengekommenen Menschen präsent ist.

Der Garant ist nicht Garant in dem Sinn, dass er den anderen Teilnehmenden dafür einzustehen hätte, dass sie dies oder das lernen. Er ist nicht Garant für persönliches Wachstum und Entwicklung. Hierfür liegt die Kompetenz bei jedem einzelnen selbst. Er ist Garant für die Selbstverantwortungsidee: Wenn er teilnimmt, wird diese Idee verlässlich durch seine Person präsent sein. Auch andere Teilnehmende können sich als Garanten erweisen oder sich zu Garanten entwickeln.

Nur: Um ein Selbst-Verantwortungs-Training zu realisieren und nicht eine andere psychodynamische Gruppe muss (mindestens) von einer Person die Selbstverantwortungsidee verstanden und verinnerlicht worden sein.

Hierbei ist es nicht von Bedeutung, wie sich diese psychische Disposition in konkretem Verhalten äußert. Der Garant wird das tun oder nicht tun, was er gerade tun oder nicht tun will – hier ist er ein Teilnehmender wie jeder andere. Entscheidend ist seine (Selbstverantwortungs)Haltung.

Es ist gänzlich die Sache der anderen Teilnehmenden, wie sie mit dem Garanten, seiner Haltung und seinem Verhalten umgehen wollen. So wie es auch seine subjektive Sache ist, wie er mit ihnen umgehen will. Er ist nicht der Leiter der Gruppe: er ist ein Teilnehmender! Aber eben ein Teilnehmender, der diese spezifische Haltung verinnerlicht hat und der damit das psychische Klima der Gruppe um diese Dimension erweitert.

Erfahrungsgemäß gibt es in der Gruppe Probleme mit der Funktion des Garanten. Immer wieder wird er doch als Leiter gesehen, als jemand, der den anderen zu mehr Selbstverantwortlichkeit verhelfen kann und soll. Es lässt sich jedoch ebenfalls immer wieder feststellen, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt das Verständnis für die Funktion des Garanten spürbar vorhanden und damit die Sichtweise eines Leiters deutlich überwunden ist. Mal früher, mal später. Dies geht einher mit dem zunehmenden Gespür der Teilnehmenden für ihre Selbstverantwortung, die in Wirklichkeit ja niemals von einem anderen kommen kann, sondern nur in jedem selbst lebt und nur von jedem selbst erspürt werden kann.


 

Montag, 13. Mai 2024

Der Schnüffelfuchs

 


Das Selbst-Verantwortungs-Training ist eine amicative Gruppendynamik, die in Gruppensitzungen durchgeführt wird. Das Selbst-Verantwortungs-Training ist auf meiner Website „amication.de“ ausführlich und im Detail beschrieben. Hierbei kommt die Figur des „Garanten“ vor. Der Garant ist ein Teilnehmer, dem die Garanten-Funktion vom Veranstalter des Trainings übertragen wird. Seine Position und seine Aufgaben sind nicht leicht zu verstehen. Darüber hatte ich neulich ein längeres und nachdenkliches Gespräch. Um eine bestimmte Funktion des Garanten besser verständlich zu machen, kam ich auf den „Schnüffelfuchs“.

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Der Schnüffelfuchs

Das Selbst-Verantwortungs-Training hat ausdrücklich keinen Fachmann, Therapeuten, Leiter,Trainer, Facilitator vorgesehen oder installiert. Es gibt nur Teilnehmer auf gleicher Augenhöhe. Die Verantwortung für das Erleben beim Selbst-Verantwortungs-Training liegt voll und ganz – zu 100 Prozent – bei jedem einzelnen Teilnehmer selbst. Diese ungeschmälerte eigene Verantwortung für das Erleben ist das Herzstück der amicativen Gruppenarbeit, die Selbst-Verantwortungs-Training heißt.

Wenn alle Teilnehmer gleichwertigen Status haben: Wozu braucht es da noch einen „Garanten“?

Nun: Der Garant hat mehrere Funktionen (siehe Konzept). Er hat auch eine spezielle Aufgabe: Da ist er ... ein Schnüffelfuchs.

Dem Schnüffelfuchs fällt auf, wenn es beim Gruppengeschehen stark, sehr stark, zu stark nicht mehr amicativ riecht. Sondern zu sehr nach Oben-Unten, nach Moralisieren, nach objektiv daherkommendem Rechthaben, nach Missionieren, nach Pädagogik. Seine feine amicative Nase signalisiert es ihm. Das kann er eine Weile aushalten und dann sagt er nichts. Aber es kann ihm auch zu viel werden, subjektiv. Dann gibt er Laut und bellt. Dann verbellt er den nicht-amicativen Geruch und Geist im Gruppenraum:

„Ich rieche, erkenne, stelle fest, merke, dass hier kein ausreichender Platz mehr für den amicativen Geist ist. Die Luft ist jetzt zu voll von pädagogischem Geist und Geruch. Was bedeutet, dass hier kein amicatives Zusammentreffen mehr stattfindet. Das stelle ich mit meiner geschulten amicativen Nase fest.“

Das ist keine objektive Feststellung. Es ist eine persönliche, subjektive Wahrnehmung. Die aus seiner Erfahrung und Verwurzelung in der amicativen Welt kommt. Und genau so soll es sein.

Der Schnüffelfuchs sagt das nun nicht mit eigenen Worten, sondern mit dem dafür vorher festgelegten Formelsatz:

Ich spreche als Garant. Die amicative Übung ist beendet.“

Damit löst er nicht die Zusammenkunft auf. Er sagt damit nur: Dies hier ist keine amicative Zusammenkunft mehr.

Auch nach dieser Feststellung kann sich jeder Teilnehmer weiterhin als amicativ einstufen und erleben. Der Schnüffelfuchs spricht niemandem seine Selbsteinschätzung ab. Er stellt nur fest, dass die Zusammenkunft (Gruppe) jetzt keine amicative Zusammenkunft mehr ist. Das bedeutet: Es findet kein Selbst-Verantwortung-Training mehr statt. Sondern? Eine wie auch immer geartete Zusammenkunft, nur eben keine amicative.

Ob das wirklich so stimmt? Ob er „richtig“ gerochen hat? Das wird gar nicht erwogen. Es wird mit dem Schnüffelfuchs lediglich jemand installiert, der dieses Gebell vorzunehmen hat – wenn er das denn so subjektiv wahrnimmt und wenn er bellen will. Wenn dieser Fuchs also bellt, dann ist die Übung keine amicative Übung mehr. Egal, wie andere Teilnehmer das finden. Punktum!

Der Garant – der Schnüffelfuchs – wurde von mir unter anderem (der Garant hat noch andere Aufgaben) erdacht und installiert, um den Teilnehmenden diese Sicherheit zu geben: Jederzeit zu wissen, dass, ob und wie lange sie auf einer amicativen Veranstaltung sind – und wann sie das nicht mehr sind. Nach der Feststellung des Garanten, dass die Übung als amicative Übung beendet ist, können die Teilnehmenden bleiben oder nach Hause fahren – aber sie wissen Bescheid.

Kann man den pädagogischen Geist, den der Schnüffelfuchs festgestellt und verbellt hat, wieder vertreiben? Kann das Selbst-Verantwotungs-Training wieder aufgenommen werden? Das Konzept lässt das offen.

Wie könnte es weitergehen? Man kann eine Unterbrechung verabreden und alle beraten. Vielleicht soll nach einer Pause das amicative Üben wieder beginnen. Versuchen, ob das geht, mal sehen, was der Schnüffelfuchs dann riecht. Dann könnte das ganze Theater von vorn anfangen. Oder der Fuchs hält die Schnauze, und es ist mithin wieder ausreichend amicativer Geist im Raum. Vom Schnüffelfuchs so eingestuft. Er allein hat die Autorität. Ein „Es ist aber nicht amicativ“ oder "Es ist aber doch amicativ" von anderen Teilnehmenden ist irrelevant.

Vielleicht ist derjenige, der den pädagogischen Geruch verbreitet hat, ja auch abgereist. Oder er hat amicatives Kraut gefuttert oder sitzt einfach nur still dabei. Wie auch immer – das Leben ist bunt und vielfältig!

 

Montag, 6. Mai 2024

Schoolwatch, Teil 3: Der Brief

 


Schoolwatch

3. Teil einer dreiteiligen Serie.*

 

Teil 3: Der Brief

Doch meistens werden die Eltern von Schoolwatch das Kind nicht kennen. Und so ist es auch in diesem Fall. Niemand weiß, wie ein Telefonat von fremden Eltern bei Jana (und ihren Eltern) ankommen wird. Dasselbe würde für einen Besuch gelten, der anstelle eines Anrufs auch immer in Erwägung gezogen wird.

Doch neben der Möglichkeit, Jana anzurufen oder sie zu besuchen, gibt es ja den Schoolwatch-Brief. Es wird ein Gruß verschickt, ein paar Zeilen, die deutlich machen, dass Jana nicht allein steht und dass es Menschen gibt, die zu ihr halten und die aussprechen, dass das, was passiert ist, Unrecht war. 

Ein Anruf oder ein Besuch kommen nur dann in Betracht, wenn das Kind und seine Eltern der Schoolwatch-Gruppe bekannt sind. Dies ist schon Einmischung in persönliche Angelegenheiten genug. Mit einem Brief aber von den unbekannten Eltern der Initiative stellt sich die Frage nach der Einmischung eindringlich: Wie wird der Brief ankommen?

Was sind die Risiken und Chancen? Wusste Jana überhaupt etwas von dem Anruf ihrer Freundin bei Schoolwatch? Und wenn sie es wusste, war sie damit einverstanden? Wird Jana den Brief als Anmaßung und Bloßstellung zurückweisen und sich obendrein noch vorgeführt vorkommen? Oder erlebt Jana den Brief als Überraschung, die ihr hilft? Hat sie ihn erwartet, herbeigewünscht, und freut sie sich über dieses Symbol von Zuwendung und Trost?

Die Eltern der Initiative haben eine entschiedene, spezifische Grundposition: Sie sehen die Gleichwertigkeit des Erwachsenen und des Kindes. Sie wissen darum, dass personale Begegnungen auf einer gleichwertigen Basis stets die Chance des Gelingens und das Risiko des Scheiterns enthalten. Sie haben keine pädagogische Absicht bei ihrer Aktion. Sie bieten ihre Hilfe und ihren Trost an, weil sie nicht tatenlos zusehen können, wenn vor ihren Augen Leid geschieht.

Und sie wissen darum, dass ihre Intervention sowohl das Leid verringern als auch vergrößern kann. Sie haben sich diesem Dilemma gestellt und sich nach reiflichem Überlegen dafür entschieden, auf jeden Fall einen Versuch zu machen: Auf den gedemütigten Menschen zuzugehen. Hierzu fühlen sie sich um ihrer selbst willen verpflichtet, und es entspricht ihrer Vorstellung von Mitmenschlichkeit.

Der Schoolwatch-Brief wird also von Frau Burger geschrieben und verschickt:

    Liebe Jana,
    wir haben gehört, dass Dich Herr Meier ausgelacht
    hat. Wir finden das nicht richtig. Jeder kann mal eine
    Antwort nicht wissen, auch in Mathe. Es tut uns leid,
    was Dir da passiert ist. Ruf uns an, wenn Du willst.
    Wir stehen auf Deiner Seite.
    Herzliche Grüße!
    Reinhilde Burger von Schoolwatch

Wenn Jana den Schoolwatch-Brief ablehnt, wird ihr Leid vergrößert. Wenn sie jedoch einschwingt, kann sich ihre Belastung verringern. Bei diesem ersten Brief im Jahr 2000 waren sich alle Eltern der Initiative dieses Risikos bewusst. Würde ihr Brief helfen? Nun, Jana hatte sich gefreut, den Brief ihrer Freundin gezeigt und Frau Burger am nächsten Tag angerufen.

Die erste Intervention von Schoolwatch im September 2000 war ein Erfolg – und zigtausende solcher gelungenen Einmischungen sind seitdem geschehen. Die Briefe, Anrufe und Besuche von Schoolwatch sind eine feste Komponente im Schulleben geworden, von den Kindern heiß herbeigewünscht und immer voller Trost und heilender Wirkung.

Die Anfangsschwierigkeiten sind heute längst überwunden, Schoolwatch ist renommiert und hat sich zu einer wirksamen Kraft gegen das Schulleıd entwickelt. Und auch immer mehr Lehrer akzeptieren Schoolwatch – das Konzept von Schoolwatch, den Lehrern die Wahrheit der Kinder ohne Herabsetzung und Anschuldigung nahezubringen, ist aufgegangen.


* Aus meinem Buch „Schule mit menschlichem Antlitz“, Münster 2001, S. 53ff.





 


Montag, 29. April 2024

Schoolwatch, Teil 2: Der Anruf

 

 

Schoolwatch

2. Teil einer dreiteiligen Serie.*

 

Teil 2: Der Anruf

Die Eltern wissen, dass sie nicht im Konsens mit der Schule und der Lehrerschaft sein werden, sondern dass man sie als Ärgernis, ja als Bedrohung auffasst. Doch sie sind von der Wichtigkeit ihres Vorhabens überzeugt und lassen sich nicht aufhalten. Sie wollen von außen in die Schule wirken, denn nur darin sehen sie die Effektivität ihres Engagements gewährleistet, ihre Unabhängigkeit gewahrt, und nur so erwarten sie eine Akzeptanz ihrer Tätigkeit durch die Kinder.

Und wenn sie auch von außen kommen, so fühlen sie sich doch sehr wohl als Betroffene und der Schulgemeinde zugehörig. Sie sind dabei, eine anders orientierte Aufgabe für das Wohl der Kinder zu übernehmen, als dies jede Schultradition bislang vorsah.

Das alles ist für diese wie für jede andere Schule völlig neu, die Lehrer wehren sich heftig gegen eine Kontrolle durch Eltern. Immer wieder werden die Eltern aufgefordert, die schulischen Gremien einzuschalten, wenn sie Wünsche hätten. Und auch die Drohung der Schulverwaltung, man werde die Gerichte einschalten, um die Störung des Schulfriedens zu unterbinden, schreckt sie nicht.

Sie wollen etwas tun, sind entschlossen, risikobereit, lassen sich rechtlich beraten und wollen es darauf ankommen lassen. Und sie erfahren auch Unterstützung von anderen Eltern, auch von anderen Schulen und Städten und von Fachleuten. 

Ein halbes Jahr nach dem ersten Treffen steht ihre Initiative. „Schoolwatch Einstein-Gymnasium Neustadt“ ist ein eingetragener Verein, mit Satzung, Mitgliedern und Vorstand. Sie haben ein kleines Budget, und die Gemeinnützigkeit ist beantragt. Die Eltern haben sich in einen Dienstplan eingeteilt, für den Rest des Jahres ist bereits klar, wer an welchem Tag für die Kinder als Ansprech- und Anrufpartner da ist. Im neuen Schuljahr nach den Sommerferien sind sie startbereit.

Und dann kommt eines Nachmittags der erste Anruf: „Herr Meier hat die Jana aus der 6a ausgelacht, als sie eine Antwort in Mathe nicht wusste. Jana hat den Rest der Stunde auf ihrem Platz gesessen und geweint.“

Herr Meier wird von Frau Burger, der diensthabenden Mutter, angerufen. Ihr Anruf hat nicht das Ziel, ihm Vorhaltungen zu machen oder ihn bloßzustellen. Der Anruf soll möglich machen, dass der Lehrer das Vorgefallene mit den Augen des Kindes gezeigt bekommt, dass er hört, wie sein Verhalten bei Jana angekommen ist und gewirkt hat, und dass sein Auslachen aus der Sicht des Kindes und der Eltern von Schoolwatch eine unakzeptable Grenzüberschreitung war.

Es wird kein Vorwurf erhoben und es erfolgt keine Schuldzuweisung. Hierüber wurde bei den konzeptionellen Beratungen lange diskutiert und klar Position bezogen: Auch die Würde eines Lehrers wird geachtet, was immer er tut und was immer gegen sein Verhalten vorgebracht werden kann. Ohne einen Vorwurf zu erheben wird dieser Lehrer aber damit konfrontiert, der Realität – wie sie das Kind erlebt hat – ungeschminkt ins Gesicht zu sehen, und die erlittene Demütigung wird Demütigung und Unrecht genannt.

Frau Burger bittet nicht darum, dass Herr Meier sich entschuldigt – so etwas zu erwägen ist ganz und gar seine Sache. Sie überlässt es ihm, ob er am nächsten Tag überhaupt etwas zu Jana sagen will, und was das sein könnte. Ihre einzige Aufgabe im Gespräch mit dem Lehrer ist es, ihn das Vorgefallene mit den Augen des Kindes sehen zu lassen.

Und da Herr Meier sich nicht beschimpft und nicht unter Druck gesetzt fühlt, kann er sich für die höflichen, aber sehr wohl eindringlichen Worte der Mutter öffnen und sein Verhalten mit Janas Augen sehen. Wenn er erklärt, dass er das morgen in Ordnung bringt, und am nächsten Tag auf das Kind zugeht, etwas Freundliches sagt und hinzufügt, dass es ihm leid tut, dann steht der Heilung der seelischen Verletzung von Jana nichts mehr im Wege.  

Aber wenn Herr Meier das alles weit von sich weist und das Gespräch in Unfrieden endet?

Nun, der Anruf bei Herrn Meier ist nur der eine Teil der Schoolwatch-Aktion. Es soll ja auch Jana angerufen werden – in jedem Fall und unabhängig davon, wie der Lehrer reagiert. Wenn die Eltern der Initiative Jana und ihre Eltern kennen und wissen, dass so ein Anruf nicht zusätzlich belastend wirkt, wird dieses Gespräch geführt. Trost und Mitgefühl sollen ausgesprochen werden, und Janas Belastung kann sich vielleicht in einem erleichterten Lachen lösen.

Teil 3 im nächsten Post.


* Aus meinem Buch „Schule mit menschlichem Antlitz“, Münster 2001, S. 50 ff.







Montag, 22. April 2024

Schoolwatch, Teil 1: Das Konzept

 

 

 Schoolwatch

1. Teil einer dreiteiligen Serie.*

 

Teil 1: Das Konzept

Im Jahr 2030 gibt es an vielen Schulen Elterninitiativen, die „Schoolwatch“ heißen. Die Eltern dieser Initiativen haben sich zusammengefunden, um gemeinsam etwas gegen das Schulleid ihrer Kinder und die Schultraumatisierung zu tun.

Die Schoolwatch-Idee hat sich herumgesprochen, die Medien haben darüber berichtet, in Fachzeitschriften wurden Artikel geschrieben, an den Hochschulen gibt es hierüber Seminare, kurz: aus einer Idee ist eine Bewegung geworden. Es gibt inzwischen Schoolwatch-Landesverbände und den Schoolwatch-Bundesverband und auch im Ausland existieren seit einiger Zeit Schoolwatch-Initiativen.

Alle Lehrer kennen Schoolwatch, sie werden bereits in ihrer Ausbildung damit befasst, und die meisten Eltern wissen, dass es so etwas wie Schoolwatch gibt, und viele engagieren sich darin. Und selbstverständlich weiß auch jedes Schulkind von Schoolwatch.

Der Einfluss, der von einer Schoolwatch-Initiative vor Ort auf das Geschehen einer Schule ausgeht, ist unterschiedlich groß und hängt von den jeweiligen Gegebenheiten ab. Oft wird die Arbeit von Schoolwatch von den Lehrern eines Kollegiums abgelehnt, aber es gibt auch immer wieder Zustimmung und Kooperation. Nichts ist mehr so, wie es einmal war – als es Schoolwatch noch nicht gab.

Allen Lehrern ist bewusst, dass sie durch diese Elterninitiativen unter Beobachtung stehen, ob sie es wollen oder nicht. Und auch die Kinder wissen darum, dass Ungerechtigkeiten und Demütigungen im Klassenzimmer nicht mehr als Selbstverständlichkeit des Schulalltags hingenommen werden müssen.

Angefangen hatte alles am 29. Januar 2000 – als eine Mutter in einer kleinen Stadt in Deutschland eine besonders drastische Herabsetzung ihres Kindes durch einen Lehrer nicht auf sich beruhen lassen will. Nachdem ein Gespräch mit dem Lehrer und dem Schulleiter nichts bewirkt, bringen die Eltern den Vorfall im Freundeskreis zur Sprache, und man ist sich einig, dass etwas getan werden muss.

Die Freunde treffen sich wiederholt, sie diskutieren, machen Vorschläge und verwerfen sie wieder, aber sie sind entschlossen, etwas in Gang zu setzen. Sie entwerfen ein Konzept und gründen eine Initiative gegen die Traumatisierung durch schulische Demütigungen.

Sie überlegen lange, welcher Name für ihre Initiative passt, er soll prägnant und aussagefähig sein. Diskutiert werden „Eltern vor Ort“ und „Aktion Schule ohne Angst“ und „Verein zur Förderung von Kinderfreundlichkeit an der Schule“ und andere Namen. Letztlich entscheiden sie sich für einen Begriff, der von den Kindern, die sie um Rat gefragt haben, bevorzugt wird – denn sie wollen vor allem die Akzeptanz ihrer Initiative durch die Kinder.

Sie nennen sich also „Schoolwatch“, in durchaus gewollter Anlehnung an das renommierte Worldwatch Institute und an Human Rights Watch. Und sie tragen ihre Idee in die Elternabende und werben um Mitstreiter.

Die Eltern erleben vielfältige Widerstände von allen Seiten (die Schultraumatisierung sitzt bei den Menschen tief und fest). Sie bekommen zu hören, dass sie den Schulfrieden stören, dass ihre Arbeit destruktiv sei, dass ein „gläsernes Klassenzimmer“ die Persönlichkeitsrechte des Lehrers missachte.

Viele Eltern stimmen in den Chor der Kritik ein, befürchten, dass durch diese Ideen das effektive Arbeiten in der Schule behindert wird und sehen den schulischen Erfolg ihrer Kinder gefährdet. Die Eltern der Initiative werden von vielen geschnitten und angefeindet. Aber sie lassen sich nicht beirren. Sie machen sich weiter bekannt und verteilen ihr inzwischen ausformuliertes Schoolwatch-Konzept.

In ihrem Konzept stellen sich die Eltern als eine Gruppe von Menschen vor, die das Leid der Schulkinder auffangen wollen, das durch persönliche Herabsetzung entsteht. Sie setzen sich außerdem zum Ziel, durch Präsenz, zunehmendes Gewicht und Öffentlichkeitsarbeit einen Bewusstseinswandel anzustoßen, so dass Demütigungen im Schulalltag weniger werden. Sie verstehen sich als eine parteiergreifende Instanz, die über die Unantastbarkeit der Würde der Schulkinder wacht.

Die Eltern bieten sich in konkreten Situationen – wenn ein Lehrer ein Kind herabsetzt – als Anlaufstelle an. Sie wollen dann zum einen mit dem betreffenden Lehrer ins Gespräch kommen und ihm das Geschehene aus der Sicht des Kindes zeigen. Zum anderen wollen sie dem gedemütigten Kind durch einen Anruf, Besuch oder Brief - den „Schoolwatch-Brief “– beistehen, Trost zusprechen und das Ich des Kindes stützen.

Teil 2 folgt im nächsten Post.


* Aus meinem Buch „Schule mit menschlichem Antlitz“, Münster 2001, S. 48 ff.



 



Montag, 15. April 2024

Durchsetzungspunkt Gummistiefel



Vortrag. Eine Mutter fragt mich: "Heute wollte meine dreijährige Tochter partout ihre Gummistiefel nicht ausziehen. Was soll ich machen?"

Beim Vortrag komme ich auf den Durchsetzungspunkt zu sprechen. Die Eltern wollen sich nicht so gern - genauer: extrem ungern - durchsetzen, wenn sie ihre Kinder dabei nicht "mitnehmen" können, wie das so schön heißt. Sie wollen, dass die Kinder bei den Elternentscheidungen mitmachen, mitziehen, einsehen, Widerstand aufgeben. Dass es also ohne Streit und Geschrei, Tränen und Leid ausgeht.

Noch mehr Gespräche, noch mehr Werben, noch mehr Mitnehmen. Die Eltern wollen von mir hören, wie es denn gelingen kann, dass die ganze Durchsetzerei gut ausgeht. "Ja Mama, dann zieh ich die Stiefel aus". So soll es sein.

Wenn alle Einigungsbemühungen nichts bringen... - klar, da kann man zulegen, Sonne scheinen lassen, Seminare besucht haben, grad gut drauf sein, schlau, listig, hinterlistig vorgehen. Wenn das aber alles nichts hilft, dann soll ich das Zaubermittel haben. Habe ich aber nicht.

Dann geht es um "Du oder ich", Stiefel aus oder Stiefel an. Und wenn die Mutter den Dreck nicht im Flur und auf dem Teppich haben will, muss sie - sich durchsetzen. Die Stiefel von den Füßen kriegen - wobei "kriegen" heißt: gegen den Willen des Kindes entfernen, von den Füßen abziehen bis runterreißen. 

Wie das geht? Mit dem entsprechendem Mittel. Machtmittel Körpermacht: handgreiflich, Kind und Fuß festhalten und ziehen. Mit dem Machtmittel Psychomacht könnte das Kind auch selbst tun, was es soll: Erfolg per Druckstimme, Ekelton, bösem Blick.

"Geht das nicht auch anders?" - und dann erzählen die anderen Eltern davon, wie sie es schaffen würden, friedlich, mit Einigung, "mitnehmend" eben. Ich halte dagegen: "Es ist aber grade nicht zu schaffen. Die Stiefel sind jetzt stellvertretend für alles Mögliche. Und es wird in Ihrem Alltag immer wieder passieren, dass es keinen Frieden gibt. Dass Sie sich durchsetzen, mit Ihren Machtmöglichkeiten, auch mit körperlicher Macht."

"Wobei, auch klar" - das sage ich dann schon noch - "Sie sich ja nicht immer durchsetzen müssen. Sie können auch nach- oder aufgeben und hinnehmen oder akzeptieren, dass das passiert, was Ihr Kind will. Also Dreck auf dem Teppich. Aber wer will das schon. Sie werden sich durchsetzen."

Ich sage dann, dass die Eltern sich keinen Vorwurf machen müssen. "Wenn Sie beim Durchsetzen Ihren Kindern auch Leid zufügen: das gehört dazu, das lässt sich nicht ändern, und dafür müssen Sie sich weder schämen noch schuldig fühlen." 

Ich wende das ins Allgemeine: Wenn man sich für seine Interessen, Ideale, Richtigkeiten einsetzt, und der andere dann nicht tun kann, was er will, bedeutet das meistens auch, dass der andere nicht begeistert ist und an uns leidet. Unseren Weg gehen heißt für andere dann, dass diese ihren Weg nicht gehen können.

Es braucht schon irgendwie ein großes Herz, sich annehmen zu können, sich zu mögen und die Selbstachtung nicht zu verlieren, wenn wir anderen Leid zufügen. Klar haben wir so ein Friedensbild von uns, dass wir durchs Leben gehen ohne dass wir Leid auslösen. Aber das ist einfach unrealistisch! Und genau das sage ich den Eltern.

Die Verbrämung "Das ist doch nur zu deinem Besten" ändert nichts wirklich am Leid des Kindes. Es soll uns beruhigen, dass wir doch gar nicht so schlimm und leidvoll für die Kinder sind. Sind wir aber! Und dem kann man ins Gesicht sehen. Auch Jesus, Sinnbild des Friedens und der Liebe, fügte Leid zu, als er seine Ideale verteidigte: Als er den Geldwechslern im Tempel die Tische umwarf und sie verprügelte.

Man kann dazu stehen, dass man - auch, immer wieder, auch den Kindern gegenüber - jemand ist, der Leid zufügt. Sich schlecht fühlen dabei - ist überflüssig. "Sie sind eine gute Mutter, ein guter Vater. Sie müssen nicht an sich zweifeln, wenn Sie sich durchsetzen und es dann Tränen bei den Kindern gibt."

Und ich sage auch "Sie können es aber lassen, den Kindern ihre Niederlage noch zusätzlich zu erschweren. Durch das Herabsetzen der Kinderposition mit dem ganzen Sieh ein, ich habe recht!-Theater."

"Ein klares Hier stehe ich, ich kann nicht anders!, eine authentische, ehrliche Botschaft zwischen den Zeilen ist von anderer Qualität. Sie machen dann Ihr Kind nicht schlecht, putzen es nicht runter, lassen ihm seine Würde in der Niederlage."

"Sie müssen den Glauben an sich nicht verlieren, wenn Ihnen keine gemeinsame und friedliche Lösung gelingt. Sie haben sich doch bemüht, mit Ihrem Kind geredet und versucht es mitzunehmen. Sie haben Ihre Bücher gelesen und Vorträge und Seminare besucht."

"Aber es kommt eben immer wieder vor, dass das alles nichts nutzt. Und dann stehen Sie halt zu sich, setzen sich durch, das Kind leidet - und Sie glauben an sich."

"Verboten ist das nicht!", schiebe ich hinterher. Ob die Gummistiefel beim nächsten Mal leichter von den Füßen gehen?

 

Montag, 8. April 2024

Forschungsbericht: Schwieriger Schreibanfang



Für meine Dissertation habe ich ein Zusammenfassung meiner Zeit mit den Kindern des Projekts geschrieben, den "Forschungsbericht"*. Ich hatte in unendlich vielen Nuancen erlebt, wie Kinder unterwegs sind. 2601 Stunden in zwei Jahren war ich "Gast im Kinderlkand". Das alles zuPapier zu bringen war eine mächtige Herausforderung, und der Anfang des Aufschreibens nach Abschluss der praktischen Phase des Projekts war schwer. Hier etwas vom Beginn der Aufzeichnungen:

*

Ich spüre jetzt nur ziemlich viel Verwicklung, Komplexität. Ich habe vor, einen großen Knoten, der sich mir im Laufe der Zeit, die ich mit ihnen zusammen war, gebildet hat, zu lösen. Das ist eine schwierige Sache. Ich habe mir keine Aufzeichnungen vom Zustandekommen des Knotens gemacht. Ich muß es vorsichtig versuchen. Ihn durchschlagen - oder einfach einen Knoten sein lassen: Das wäre prima, aber das ist jetzt nicht meine Aufgabe. 

Ich lese, was ich bisher geschrieben habe - und merke, dass ich einen Anfang gemacht habe. Ich spüre die Anstrengung. Ich bin freundlich zu mir: Ich habe etwas geschafft, und es ist nicht nötig, heute alles fertig zu bekommen. Ich habe das Gefühl, mit der Schreiberei langsam, langsam weiterzukommen. Es ist nicht nötig, noch heute fertig zu werden...

Der Knoten, die riesige Erfahrungskonzentration in mir, drängt, in jeder Einzelheit auf einmal aufgeschrieben zu werden. Ich fühle mich da total überfordert. Ich habe mit merkwürdigen Kräften in mir zu tun: Alles will auf einmal sein. Das Differenzieren, das Trennen, das feine Aufgliedern: Das steckt nicht in mir, jedenfalls nicht in dem komplexen Bild. Es kommt von woanders her.

Ich brauche einen langen Atem. Ich brauche Geduld - GEDULD. Ich brauche Zeit in mir, um behutsam, vorsichtig, zärtlich die Bilder deutlich werden zu lassen, die sich mir im Laufe der Zeit angesammelt haben. ICH HABE DOCH ZEIT- ich vergesse das immer wieder. Die Minuten, die ich jetzt zum Schreiben gebraucht habe - sie waren Stunden, Tage. Wenn ich jetzt gleich mit dem Schreiben aufhöre, bin ich viele Meilen gelaufen - hin zu den Erfahrungen, die in mir sind.

Ich entdecke ein altes Prinzip meiner Arbeit wieder: Das Treibenlassen. Nur so habe ich ja so viel mitbekommen - und ich fühle mich gut, wenn ich mich beim Schreiben auch einfach treiben lassen werde. Mal zum Schreiben, wie jetzt, mal zum Hören, mal zum Sichten der Notizen, der Bilder (Gedichte). Ich habe jetzt wieder eine Idee: Ich werde mich einfach so und so viele Stunden oder Minuten am Tag mit dem Projekt beschäftigen - einfach in den Dingen sein.

Was ich dabei im einzelnen tun werde, das wird sich zeigen. Jedenfalls nicht immer nur schreiben und schreiben, geordnet und logisch womöglich noch. Nein: Ich lasse mich in diesen riesigen Berg meiner Erfahrung hineintreiben. Dann notiere ich mal dies, mal nichts. Ich muss mit all dem erst mal richtig vertraut werden.

Ich brauche WU WEI in diesem Berg. Ich brauche Lächeln über dieses entdeckte Land - und es kommt NICHT durch abstrakt-intellektuelles "Schreiben der Dissertation". Ich brauche viel Zärtlichkeit, das ist ein wichtiger Brennstoff für das alles. Und ich habe auch viel davon - Zärtlichkeit zur Zeit, diesem sanften Verstreichen. Wer will mich da zwingen? Ich lebe und treibe. Meine Arbeit ist ein zärtliches Gebilde.

 

 * Der Forschungsbericht ist zu finden in meinem Blog "Amication Reader", dort: Dissertation / Gast im Kinderland, Gesamtbericht, S. 9 (11)