Montag, 27. Dezember 2021

Liebe ohne Gift





Es reicht völlig aus, ein Kind zu lieben. Mehr ist nicht nötig. Ist es so? Da geht mir das Herz auf bei so einem Urbild: Die Mutter, der Vater, die Oma, der Opa, die/der wer auch immer nimmt ein Kind in den Arm, hält es und die Liebe flutet. Was soll da mein ganzes Gerede von Souveränität und Selbstverantwortung, Königskrone und Würde, Adultismus und Erwachsenen-Chauvinismus? Was sollen da all meine Bilder von Schweineschnauze, Büffel, Schokohasen, Gesundkraut, Amazonas, Bahnhofsweg und Co? Liebe reicht.

Ja, wenn es denn so wäre. Die so wachgerufene Liebe, die von dem Bild der Mutter mit ihrem Kind im Arm ausstrahlt, überdeckt alles. Wir sind gefangen und erfüllt von so einem Bild. Nur, dass ich dabei nicht vergesse, übersehe, wegdrücke, dass auch die Liebe, die lebt, geschenkt wird, erlebt wird, ja nicht im luftleeren Raum daherkommt, sondern eingebettet ist oder hervorgebracht wird in historischem und gesellschaftlichem Zusammenhang. Und auf der Zusammenhangs-Spurensuche und Zusammenhangs-Entdeckungsreise bin ich unterwegs.

Ich rede auf meinen Vorträgen nicht zum Thema "Liebe reicht" oder "Wie sich Kinder lieben lassen". Ich rede nicht zum Thema Liebe. Jedenfalls nicht direkt. Dass alles, was ich an so einem Abend auffalte, mit Liebe zu tun hat, ist schon klar. Aber ich bin untergründlicher, hintergründlicher unterwegs.

Die weiße australische Krankenschwester nimmt das Aboriginibaby liebevoll in den Arm. Das Kind, das den Eltern weggenommen wird, damit es „zivilisiert“ aufwächst. Die Mutter in Gambia nimmt ihre Tochter liebevoll in den Arm, deren Klitoris gerade beschnitten wurde, damit sie integriert in ihrem Dorf aufwachsen kann. Der KZ-Aufseher nimmt sein eigenes Kind abends liebevoll in den Arm, nachdem er den ganzen Tag lang die jüdischen Kinder in die Gaskammer geschickt hat. Diese Grusel lassen sich fortsetzen, lange fortsetzen. Liebe reicht eben nicht.

Es geht mir nicht darum, wie man richtig liebt. Es geht mir darum, was für ein Umfeld um die Liebe herum existiert. Und da habe ich entdeckt, dass – bei aller aller Liebe – Demütigung, Herabsetzung, Unliebe gang und gäbe sind in unserer Kultur. Nicht weit weg, damals in Australien oder im KZ oder fern in Gambia. Sondern nah und heute, hier bei uns. In Deutschland, Europa, der westlichen Welt, der Welt schlechthin, überall.

Da nämlich, wo Kinder noch nicht als ganz richtige, vollwertige Menschen gesehen, bedacht, gehändelt, gebüchert, gewissenschaftet werden. Wo die Weltformel von der Erziehung gilt. Adultismus nennt sich das. Oder spitzer: Erwachsenen-Chauvinismus.

„Sieh ein, ich habe recht“ und „Ich will doch nur Dein Bestes“ sind Statements, die diese Erwachsene-Oben/Kinder-Unten-Grundhaltung zum Ausdruck bringen. Das thematisiert mein Abend. Diese Hintergründlichkeit mache ich bewusst, erzähle davon, lade ein, dort einmal hinzusehen. Dort einmal in sich hineinzuhorchen.

„Mama hat Dich lieb“ ist eine Supersache. Aber: „Aber musst Du Dich dabei so betonselbstverständlich über mich setzen? Musst Du Dich bei all Deiner unendlich willkommenen Liebe so chauvinistisch über mich emporschwingen? Meine Souveränität: Nicht einmal bemerken? Musst Du mich denn wirklich erst zu einem Menschen machen, mit Deinem missionarischen Erziehungsanspruch? Deine Liebe tut gut, aber sie ist auch so giftig. Sie hält mich fest im Unten, als unzivilisierten Untermenschen. Der – welche Gnade – durch Deine Hilfe, die Du 'Erziehung' nennst, zu einem richtigen Menschen werden kann. Kannst Du mich nicht lieben ohne dieses Zeug? Versuch es – Du schaffst das."

Ich zeige den Besuchern meiner Vorträge diesen Zusammenhang, mit vielen Bildern, behutsam, nehme sie mit, lade sie ein. Es erfüllt mich, wie es immer wieder geschieht, dass sie angerührt sind, den Pfad der oben-unten-freien, der ungiftigen Liebe erkennen und sich dieser Liebe zuwenden. Sie bedanken sich nach dem Vortrag, sie ahnen. Und Ihre eigenen Kindverletzungen beginnen zu heilen.



 

Montag, 20. Dezember 2021

Meine sieben Kreise


 

 

Ich bin ganz für mich. Dort, wo ich ungestört bin und mich wohlfühle. Wo ich mich meinem Nachsinnen und In-Mich-Hören hingeben kann. Nachts, im Wald, umgeben von den vielen Gestalten des Lebens, in tiefer Ruhe und Frieden.

Ich will in all dieser wundermagischen Dunkelheit jetzt nur positive Welten in mir aufsteigen lassen. Ich bin in Sachen Selbstliebe unterwegs und will in die große Konstruktivität. Also lasse ich mich treiben in meine Sieben Kreise. Ich lasse diese Kreise in mir „sein“: ich bin sie und sie sind in mir.


Liebe sein

Dies ist die Essenz des Universums, die alles bewegt und durchdringt. Ich bin erfüllt und dankbar, dass ich Liebe sein kann, und ich bin mir sicher, dass ich Liebe bin. Ich schenke mir selbst dieses Geschenk, ich spüre in und vor meiner Stirn diese Wahrheit. Wenn ich die Augen schließe, weiß ich es.


Vertrauen sein

Die Natur um mich herum ist in einem unerschütterlichen Vertrauen. Vertrauen in sich selbst und die eigene Richtigkeit. Ich vertraue, mir, meinem Weg, dem Leben, dem Ganzen. Ich vertraue mich an, überhaupt. Ich lasse mich tragen von dieser Hingabe, sanft rückwärts fallen in die Sicherheit.


Willkommen sein

Ich fühle mich willkommen, hier auf dieser winzigen Kugel im Unendlichen. Willkommen geheißen vom Unendlichen. „Du bist willkommen!“ Jeder Baum und Strauch und Halm, jedes Tier und Tierchen um mich herum tragen diese Botschaft zu mir. Girlanden des Lebens.


Zuversicht sein

Hier muss ich mich sehr konzentrieren. Was ich gerne tue. Aber dann gelingt es, dieses Gefühl, dass da Grund ist und dass es eben gut ausgeht, alles. Und dass ich die seltsamen Pfade des Lebens und ihre unvorhersehbaren Biegungen mit freundlicher Gelassenheit passieren werde. Es wird schon!


Freude sein

Liebe – Vertrauen – Willkommen – Zuversicht. Ich halte diese Reihenfolge ein und es beginnt Freude in mir aufzusteigen. Ein warmes Gefühl, erlaubt und begrüßt. Eingeladen, mich zu freuen. Ich bin so vieles, Freude auch. Die ganze Natur um mich herum ist in freudigem Selbst. Ich gehöre dazu.


Glück sein

Es wird noch intensiver. Eine vorsichtige Bewegung, ich will es nicht übertreiben. Ahnung vom Glück, ein offenes Tor, ein Land dahinter, mit allen Dimensionen. Die Illusion löst sich wie Wolken auf und Glück wird meine Realität. Ich bin ergriffen von diesem meinem Mut. Glück ist immer da, und ich lerne es zu sehen.


Harmonie sein

Umfasst alles. Ist das große Schwingen. Die Einigkeit mit mir selbst und dem Kosmos. Nichts anderes ist gegeben. Es ist die Wahrnehmung meiner frühesten Kindheit, Erinnerung, meiner selbst sicher, ungefragt, einfach da. Ich ruhe in mir und atme. Ich lasse es gut sein. Es ist erreicht und strömt und strömt.

 

*

Nach einer großen oder kleinen Weile lasse ich das alles. Ich wache auf und bin jetzt sehr bei mir. Ich wandere noch ein wenig durch die Nacht. Ich will dieses Meditieren ja nicht übertreiben, aber es ist schön und tut gut. Die Alltäglichkeiten melden sich wieder in meinen Gedanken. Ja – ist schon gut. Ich bin noch da! „Du kannst einfach gehen“, höre ich die Sieben Kreise. „Und wiederkommen.“ Das werde ich.






Montag, 13. Dezember 2021

Und die Kinder? Erziehungswesen?


 
Und die Kinder? Erziehungswesen? Oder von Geburt an vollwertige Menschen, die nicht erst dazu gemacht werden müssen? Die Erziehungssicht ist eine Sicht auf die Kinder. Sie hat eine lange Tradition, auch wir haben sie in unserer Kindheit erlebt. Und glauben, dass es so ist. Nur, dass es heute auch eine andere Sicht auf die Kinder gibt. Die Sicht ohne oder jenseits der Erziehung: Kinder sind keine Erziehungswesen. 

Für neue Sichtweisen braucht es Beweise. Oder neue Ideen, wenn sich da nichts beweisen lässt im handfesten naturwissenschaftlichen Sinn. Die Kinder sehe ich auf der psychologischen Ebene anders als die Tradition, erziehungsfrei, vollwertig, und sie müssen für mich nicht erst zu selbstverantwortlichen und vollwertigen Menschen gemacht werden. 

Henry wird vor 200 Jahren auf einer großen Baumwollplantage am Mississippi geboren. Er ist der Sohn der Plantagenbesitzer, es gibt dort 1000 Sklaven. Henry erlebt von klein auf, wie mit den Schwarzen umgegangen wird. Er erfährt es von Mama, Papa, Onkel, Tante, Oma, Opa, Freunden seiner Eltern, Besuchern. Welches Menschenbild entsteht in Henry? 

Nun, diese schwarzen Menschen sind minderwertige Menschen, Sklaven eben und haben keine Rechte. Es ist nichts dabei, ihnen Befehle zu erteilen, sie anzufahren oder auszupeitschen. Das Kind lernt: Nur Weiße sind vollwertige Menschen. Henrys Haltung und seine Einstellung und auch seine Sprache sind so: Weiße oben – Schwarze unten. 

Henry ist 20 Jahre alt geworden und verkauft für seine Eltern die Baumwolle in New York. Der junge Mann kommt nach erfolgreichem Verkauf bei einem Umtrunk im Saloon mit Bürgerrechtlern in Kontakt. Sie erzählen allen Ernstes, dass Schwarze vollwertige Menschen sind und dass die Sklaverei beendet werden muss. Unvorstellbare Gedanken! 

Aber auf der langen Planwagenfahrt zurück kommt er immer mehr ins Grübeln. Freundliche Bilder aus seinen Erlebnissen mit Schwarzen tauchen auf, er denkt an die Nanny und an die Köchin, ihren Sohn Tom, seinen Spielkameraden. Das Herz geht ihm auf. Als er zu Hause ankommt, sieht er alle Sklaven anders – gleichwertig, mit der Krone auf dem Kopf. Er wird es anders machen als seine Eltern. 

Geänderte psychische Sichtweisen und Gefühlswelten sind nicht ungewöhnlich und kommen immer wieder vor. Im Kleinen: Aus Abneigung wird Zuneigung. Im Großen: Gleichwertigkeit von Frauen statt patriarchalischer Unterdrückung, Gleichwertigkeit von Schwarzen statt Sklaverei.  

Wir machen eine Zeitreise und landen auf dem Marktplatz vor 500 Jahren. Jemand hat behauptet, die Erde fährt um die Sonne und ist deshalb zum Tode verurteilt. Eine große Menschenmenge ist zusammengekommen. Der Verurteilte wird mit Armen und Beinen an vier Pferde gespannt und auf „Hü hott“ zerreißen ihn die Pferde. Die Leute sind begeistert, große Show! Uns wird kotzübel, wir sind entsetzt. Wir leben in einer ganz anderen Gefühlswelt.  

Wir haben eine Fotosafari in Afrika gebucht. Abends sitzen wir in der Lodge, es gibt ein Gewitter. Als es wieder so richtig mächtig blitzt und donnert, sagt unser Safariführer allen Ernstes: „Das ist die Stimme Gottes!“ Ja spinnt der? 

„Willst Du uns Angst machen? Das Gewitter ist doch schon blöd genug. Noch nie etwas von Elektrizität gehört?“ Nun, wir werden dem afrikanischen Guide nicht so über den Mund fahren. Aber es ist schon erstaunlich, wie er denkt. Er spricht von Gott, ich spreche von Elektronen und Luftschwingungen. 

Als das Gewitter vorbei ist, kommen wir darüber ins Gespräch. „Wieso sagst Du das mit der Stimme Gottes?“ „Ja, ich kenne natürlich die naturwissenschaftliche Sicht. Nur, ich liebe den Glauben meiner Vorfahren.“ „Bist Du denn davon überzeugt?“ „Schon, bin ich. Für mich hat es etwas Transzendentes, wenn es ein Gewitter gibt.“ 

Wir interpretieren, wie immer. Wir können die Dinge so oder so sehen. Und was bei Blitz und Donner gilt, das gilt auch für die Sicht auf die Kinder.



Montag, 6. Dezember 2021

Schein der Freiheit

 


Es ist alles nicht so einfach … das trügerische Eis der zeitgemäßen achtsamen Pädagogik in all seiner Brüchigkeit und verletzenden Wucht zu erkennen. Auf dem letzten Vortrag wurde ich wieder einmal damit konfrontiert. Hier Grundsätzliches dazu, angereichert mit einem Zitat von Rousseau.

In der modernen Pädagogik wird auf sanfte Durchsetzungstechniken Wert gelegt, um dem Kind die „Einsicht“ in die "Notwendigkeiten“ – das heißt allemal Erwachsenenvorstellungen – zu „erleichtern“. Wie „freundlich“, „demokratisch“, „partnerschaftlich“ es dann in „Augenhöhe“ mit „Ich-Botschaften“ in „Kreisgespräch“ und „Rollenspiel“ und in der „Familienkonferenz“ und der „Lehrer-Schüler-Konferenz“ „menschenkundlich“ und in „vorbereiteter Umgebung“ auch zugehen mag: 

Die verheerende psychische Herabsetzung des Kindes bleibt, da der pädagogische Erwachsene nach wie vor – aus seinem Selbstverständnis heraus – die innere Führung beansprucht. Und dabei dem Kind die Fähigkeit, das eigene Beste selbst wahrzunehmen, abspricht. Die heutigen „Freundlichkeiten“ und „Achtsamkeiten“ kaschieren lediglich die bestehende grundlegende Oben-Unten-Struktur, die Angriffe auf das Selbst des Kindes und die psychische Missions-Aggression des Erwachsenen. Und entziehen sie effektvoll der Thematisierung und Diskussion.

Diese „sanfte“ Pädagogik hat lange Tradition. Schon der französische Philosoph und Pädagoge Jean-Jacques Rousseau forderte 1760 in seinem Buch „Emile oder Über die Erziehung“ *:

„Lasst ihn (den Zögling, H.v.S.) immer im Glauben, er sei der Meister, seid es in Wirklichkeit aber selbst. Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, der man den Schein der Freiheit zugesteht. So bezwingt man sogar seinen Willen … Zweifellos darf es (das Kind, H.v.S.) tun, was es will, aber es darf nur das wollen, von dem ihr wünscht, dass es es tut.“



* Reclam UB 901, 1963/2001, S. 265f.



Montag, 29. November 2021

PferdeKinder


  

Seit einigen Jahren gibt es einen neuen Weg für den Umgang mit Pferden. Dabei will man in die Welt eines Pferdes eintauchen, ein Pferd von innen heraus verstehen, mit ihm sein statt es beherrschen. Einem Jährling wird nicht mehr der Willen gegen seine Natur gebrochen, indem er mit Gewalt eingeritten wird. Es wird eine Kommunikation auf gleicher Augenhöhe hergestellt von Geschöpf Mensch zu Geschöpf Pferd. Und siehe da, ein Pferd, das einen Menschen so gleichwertig erlebt, lässt ihn nach einer Zeit des Vertrauens bereitwillig auf seinen Rücken steigen. Immer mehr Menschen gelingt dieser neue Weg, und etwas ungläubig nennen wir solche Menschen Pferdeflüsterer.

Die Kinder von innen heraus verstehen, ihre innere Souveränität überhaupt erst einmal erkennen, sie nicht mit erzieherischer Missionierung brechen – und ein Kind lässt uns teilhaben an seiner Welt, von Geschöpf zu Geschöpf. Doch wie viele können so etwas denken? Wer erkennt diesen Weg und kann ihn gehen? Wir sind im Umgang mit Pferden weiter als in unseren Beziehungen zu Kindern.

"Setz Dich! Steh auf! Steh still! Sitz ruhig! Sitz gerade! Sitz ordentlich! Hampel nicht! Wackel nicht! Kippel nicht! Füße runter! Knie zusammen! Zeig auf! Finger runter! Finger weg! Schreib schneller! Andere Hand! Hand geben! Hand auf! Zeig her! Gib her! Leg weg! Komm her! Geh weg! Geh langsam! Trampel nicht! Schlurf nicht! Renn nicht! Schlag nicht! Box nicht! Tritt nicht! Kratz nicht! Beiß nicht! Spuck nicht! Spuck aus! Kaugummi weg! Pust nicht! Mund auf! Mund zu! Iss nicht! Iss jetzt! Trink nicht! Trink jetzt! Schmatz nicht! Schlürf nicht! Sieh her! Sieh weg! Lach nicht! Grins nicht! Sing nicht! Pfeif nicht! Kreisch nicht! Kicher nicht! Nase putzen! Schnief nicht! Jetzt nicht aufs Klo! Schrei nicht! Heul nicht! Red lauter! Red leiser!" 

Schon klar. Nur dass die Kinder das anders sehen. Ganz anders. 












Montag, 22. November 2021

Medizin


 

Ich bin in einer großen Buchhandlung und sehe mir an, was es grade so gibt an pädagogischen Fachbüchern und Erziehungsratgebern. Ich bin auf der Suche nach Verlagen solcher Bücher, um ihnen das Manuskript meines neuen Buches vorzustellen. Die ungewohnte Konfrontation mit all den Experten erinnert mich an eine spezielle Kritik an meinen Vorträgen.

„Du übersiehst das Bemühen von Eltern und Fachleuten, neue kinderfreundliche Wege zu erkunden, erste Schritte zu tun weg vom Oben-Unten hin zur Beziehung auf gleicher Augenhöhe. Du bist so pauschal und so schwarz-weiß: Nur Amication ist richtig. Irgendwie arrogant und kontraproduktiv, denn Du willst doch Menschen für die Amication gewinnen.“

Also: Da übersehe ich nichts. Auf meinen Veranstaltungen erlebe ich immer wieder Eltern und Fachleute, die sich zu lösen beginnen vom traditionellen Erziehungs-Oben-Unten. Intuitiv, ohne Theorie, mit dem Herzen fühlend, absprungbereit, erste Schritte wagend, oder schon voll im (nicht)pädagogischen Neuland unterwegs. Dies ist für mich anrührend zu sehen, und ich wünsche mir viele viele solcher Erwachsener.

Meine Texte und meine Vorträge und Seminare sind voll Klarheit und Wahrheit: Erziehung hier - Nicht-Erziehung/Amication/Postpädagogik dort. Mit intellektueller Kraft sehe ich den Unterschied, und ich trage diesen Erkenntnisimpuls gern und beschwingt weiter und male freudig meine Wortbilder. Ohne Intuitives herabzusetzen, ohne das Suchen, Fragen, Beginnen, Zweifeln abzutun!

Und bei all meiner intellektuellen Klarheit nehmen meine Zuhörerinnen und Zuhörer auch meine Herzenswärme wahr, aus der heraus ich all dies überhaupt erst hervorhole. Ich bin als Botschafter unterwegs, als Kind im Erwachsenenland. Meine intellektuelle Trennschärfe wird von den meisten Menschen, die mir zuhören, gern angenommen, durchaus auch staunend, dass das, was sie spüren, bereits einen solchen fulminanten Überbau hat.

Das hätten sie nicht gedacht! Und sie sagen, dass ihnen das hilft, weiter auf ihrem Weg zu den Kindern zu gehen, dem Weg, den sie als für sich richtig erfühlt haben. Und sie bedanken sich für diese Hilfe beim Emanzipieren von all den Normen eines „richtigen“ Umgangs mit Kindern, die in ihnen rumspuken und die so viel Macht über sie haben. Und die von so vielen einflussreichen und renommierten Persönlichkeiten zustimmungsfordernd daherkommen, von

Aebli, Böhm, Bosco, Brezinka, Brunner, Cohn, Comenius, Dewey, Diesterweg, Dilthey, Flitner, Freinet, Fröbel, Ftenakis, Gagné, Gordon, Herbart, Humboldt, Jegge, Juul, Kant, Kerschensteiner, Klafki, Korczak, Hentig, Litt, Makarenko, Meves, Mollenhauer, Montessori, Neill, Nohl, Pestalozzi, Piaget, Pikler, Pawlow, Petersen, Platon, Prekop, Reich, Rousseau, Roth, Schleiermacher, Skinner, Sokrates, Spranger, Steiner, Uschinski, Wild, Wyneken, Ziller, Zulliger, Hinzius und Kunzius.

Forderungen, die in all den Fachbüchern und Erziehungsratgebern stecken, dass den Müttern und Vätern ganz schwindelig wird. Ganz abgesehen davon, was sich in ihnen angebraut hat, wie sie sein sollten, als ihr erstes Kind kam. Sie wollen sich davon lösen, weil sie das alles ungut finden. Und da komm ich ins Spiel und biete ihnen halt etwas Medizin an, damit sie ihr Gleichgewicht besser halten können. Eine spezielle Mixtur aus Intellekt und Emotion, Emanzipation und Gelassenheit, Selbstliebe und Empathie, Zweifellosigkeit und Überzeugtheit.

Diese amicative Medizin ist dem einen süß, dem anderen bitter. Ich aber freue mich, wenn sie hilft.


 

Montag, 15. November 2021

Mika und David

 

 

Ich bin zum Arbeitsbesuch in meiner alten Wohnung. Ich räume die beiden Kammern auf dem Dachboden aus, es sind unzählige aussortierte Bücher, Teppiche, Matratzen und viel Haushaltskram von früher durchzusehen. Morgen soll endlich das zur Müllstation, was nicht mehr zu gebrauchen ist. Aber wie schaffe ich es, die vielen schweren Kartons und Co aus dem dritten Stock nach unten zu bringen? Alles soll dort im Parterreflur parat stehen, morgen habe ich einen Transporter, mit dem ich die Sachen wegbringen kann.

Ich mache eine Pause und fahre ein bisschen durch die Felder. Zwei Jungen, so um die 16, 17 fahren vor mir auf ihren Rädern, ich überhole sie. Tja, wenn die mir die Kartons tragen würden... Da halte ich auch schon an. „Hallo Ihr zwei, ich habe mal eine Frage...Kartons...3. Etage…halbe Stunde Arbeit...50 Euro...“ Sie verstehen mein Problem, sehen sich kurz an, dann sagen sie spontan ja. Ich bin begeistert! Und erkläre ihnen den Weg, sie kennen sich aus, sind aus dem Dorf.

Gehört sich das? Fremde Kinder ansprechen? 50 Euro anbieten? Tja, eigentlich nicht. Aber ich habe meinem Gefühl vertraut, wie immer, wenn ich etwas Außernormiges vorhabe. Es dennoch probiert. Ich brauchte Hilfe – ich habe mich an jemanden gewandt. Nicht leicht, aber ich habe mich getraut und die Etikette beiseite geschoben. „Könnt Ihr mir helfen?“

Nicht nur die Jungen anhalten und anquatschen, auch die 50 Euro waren eigentlich zu viel. Man kann Kinder doch nicht mit Geld anlocken... Auch da habe ich die Etikette beiseite geschoben. Die 50 Euro waren stimmig. Und ich will ihnen auch eine Freude machen. Unverhoffte 50 Euro sind für junge Burschen schon eine kleine Ansage, für eine halbe Stunde Arbeit am Sonntag Nachmittag.

Es hat alles gepasst. Sie waren achtsam mit meinem Kram, alles war dann gut unten verstaut.

Zu Beginn der Aktion, als sie mit ihren Rädern am Haus ankommen, habe ich mich vorgestellt. „Ich heiße Hubertus, wie heißt Ihr?“ Mika und David waren erst befangen, dann unkompliziert. „Wir duzen uns, ok?“ Auch das ging. Und die 100 Jahre Altersunterschied? Welcher Unterschied?

Zufrieden fuhren sie nach getanem Werk und dem 50er von dannen. Und zufrieden ging ich wieder auf den Speicher, es gab noch viel zu kramen.

 

 

Montag, 8. November 2021

Blumen für den Klassenlehrer

 

 

Zu meinem diesjährigen Klassentreffen kam auch unser damaliger Klassenlehrer der Abschlussjahre. Beim letzten Treffen hatte ich ihm kurz etwas von Amication erzählt und dann ein Buch (Amication – Themensammlung) geschickt. Er hatte es gelesen und war überhaupt nicht einverstanden! Bevor das Essen in unserem Stammlokal kam, hatte ich 15 Minuten – ich wollte ihm den Kern der Sache, das, was Amication ausmacht, gern vermitteln. Es hat nicht geklappt!

Ich habe darüber nachgedacht, als ich nach Hause fuhr. Warum konnte ich ihn nicht erreichen? Ich bin doch erfolgreich auf den Elternabenden. Ja, da habe auch auch zwei Stunden Zeit, davon hören die Eltern eine Stunde lang erst einmal konzentriert zu (was bei der schwierigen Thematik erstaunlich genug ist). Und ich merke an den Fragen und Reaktionen, dass viele Eltern eine Ahnung davon bekommen, was mit Amication gemeint ist. Sie sind zum Schluss angerührt und bedanken sich.

Die Eltern kommen mit dem Fragehaltung: Was ist eigentlich mit „Unterstützen statt erziehen“ gemeint? „Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen“ - so (und etwas mehr an Inhaltlichem) steht es in den Flyern, die sie im Kindergarten oder im Volkshochschulprogramm lesen. Sie wollen es verstehen. Mein Klassenlehrer dagegen war auf einem anderen Trip: Dem Ablehnungskurs. Er wollte mir klar machen, dass das so nicht geht, was ich da geschrieben hatte. Er wollte nicht verstehen, er wollte korrigieren. Sein Impuls war gänzlich anders.

Er hatte die üblichen Einwände: man muss doch Grenzen setzen (als täte ich das nicht), man weiß es besser als die unwissenden Kinder. Tja, das weiß ich auch, natürlich ist es unten an der Wand eine Steckdose und keine Schweineschnauze. Aber mein Wissen – nach dem ich auch handle – stellt mich auf der psychologischen Ebene jedoch nicht über das Wissen eines anderen, und sei er noch so anders/jung.

Der Unterschied von Handlungsebene und psychologischer Ebene war meinem Klassenlehrer nicht präsent als goldener Weg zum Verstehen von Amication. Mein Erklären der verschiedenen Ebenen brachte nichts. Da warf ich eine Gabel auf einen Teller, dass es nur so schepperte! Alle sahen auf, die Bedienung erstarrte. „Werner, das Werfen und das Geräusch ist die Handlungsebene. Dein Erschrecken und peinliches Berührtsein ist die psychologische Ebene. Und ich bin nur in der psychologischen Ebene anders als erzieherische Eltern“. Half nichts, kam nicht an. Meine Gabelwerferei im vornehmen Restaurant war einfach nur daneben. Vermitteln konnte ich nichts.

Auch das Beispiele vom achtungsvollen Töten des Büffels zog nicht: auf der Handlungsebene klares Oben (erfolgreicher Jäger) und Unten (getöteter Büffel), auf der gleichzeitigen psychologischen Ebene klare Gleichwertigkeit (Jäger „Ich danke Dir für dein Fleisch“, Büffel „Du setzt mich nicht herab, auch wenn Du mich tötest“). Und meine Vergleiche vom früheren chauvinistischem Oben-Unten der Männer zum heutigen gleichwertigen Zusammensein mit Frauen auch nicht. „Lass das mal, den Vergleich mit den Frauen“.

Es fehlte einfach der Funke, das Aufblitzen einer Erkenntnis. Es kamen ganz andere Statements von ihm als ich sie auf den Elternabenden zu hören bekomme. Er: „Wie lange warst Du eigentlich Lehrer?“ „Wie hast Du Deine eigenen Kinder großgezogen?“ Immerhin vermied er „erziehen“, es war ihm klar, dass ich da etwas dagegen hatte. Was ich dagegen hatte, war aber eben nicht klar. Jedenfalls wollte er mich einem Praxistest unterziehen, die Legitimation einsehen, ob ich überhaupt in pädagogischen Belangen mitreden könne. Dass es um ein strukturelles Problem ging, um eine postpädagogische Haltung im Gegensatz zu einer pädagogischen Haltung, dass es um Erwachsenen-Chauvinimus ging, Adultismus genannt – das verfing nicht.

Er konterte meinen 5-Minuten-Theorie-Redeschwall („Hör mir erst mal 5 Minuten einfach zu“) mit „Das geht nicht“ auf der praktischen Ebene. Ich konnte ihm nicht klar machen, dass es um Existentielles, Menschenbild und Co ging. Obwohl ich das ja sagte – es verfing eben nicht.

Ich habe mir dann auf der Rückfahrt gesagt, dass er eben wie alle, die ich im Laufe der vielen Jahre Öffentlichkeitsarbeit mit Amication nicht erreicht habe, in einer anderen Welt, einem anderen Narrativ oder Erzählung unterwegs ist. In der pädagogischen Welt eben. Wenn ich da nicht irgendwie dazwischenkomme, mit viel ruhiger Erzählzeit, ohne Opposition und mit offenen Ohren und Resonanz mit eigenen Kindheitserfahrungen, dann geht da nichts.

Und außerdem wollte ich etwas erklären – Erklären hatte er aber nicht bestellt. Er wollte selbst etwas erklären, mir nämlich: dass es mit der Amication nicht geht. Er hat mich nicht gefragt: „Wie meinst Du das alles eigentlich mit der Amication?“ Da bin ich halt übers Ziel hinausgeschossen. Es hat mich mitgerissen, ich wollte meinem Lehrer etwas zeigen. Ein Schüler, der etwas entdeckt hat. Ich wollte ihm meine wunderschönen neuen Blumen zeigen und habe nicht gemerkt, dass er meinen Blumenstrauß für eine Ansammlung von Unkraut hielt.

Wir sind friedlich auseinandergegangen. Das Essen kam, und die anderen hatte auch genug von meiner Beschlagnahme unseres Klassenlehrers. Schick ich ihm noch ein Buch hinterher? Vielleicht mein „Schule mit menschlichem Antlitz“ oder mein Schultagebuch? Immerhin war er doch lange Zeit Lehrer... Ich werde es lassen. Er hat nicht danach gefragt. Ich will ihn doch nicht missionieren.

Und: Ich mag ihn sehr.


(Über mein erstes Wiedersehen mit meinem Klassenlehrer habe ich im Post vom 25.2.2018 etwas geschrieben.)


Montag, 1. November 2021

Warten am Zwischentor


 

Ich warte.“ Die Kinder sollen bitte sehr aus dem Auto steigen, es geht zum Einkaufen. Aber sie spielen weiter mit einem alten Handy rum. Ich bin ausgestiegen und warte. Ungern. Ungerner. Noch ungerner. Ich öffne unsanft ihre Aussteigetür. Dann kommt endlich Bewegung ins Feld. Einer steigt aus. Der andere noch nicht. Mein Warten wird schwer, explosiv. Dann kommt auch der zweite. Der Weg zum Geschäft ist lastig, wartelastig. Jedenfalls nicht unbeschwert und heiter. Die Sonne scheint zwar, aber nur am Himmel.

Wieso kann ich nicht warten? Einfach da sein und warten? Was bremst mich aus? Ich bin heute Vormittag gern mit den Kindern in der Stadt. Wir haben etwas vor, Einkaufen und mal sehen. Doch ihr Nichtaussteigen vertreibt die Leichtigkeit des Seins.

Warten - welch grandioses Thema. Eine Lebensthema. Auf alles und jedes und jede und jeden wird gewartet. Dass er/sie/es kommen möge. Nicht kommen möge. Dass es vorbei ist. Dass es nicht vorbei ist. Endlos, uferlos. Und immer wieder mit diesem unangenehmen Ton dabei.

Wenn ich gut bei mir bin, mit den Wolken fliege oder die Sonne genieße, dann gelingt das Warten. Dann könnte ich die Kinder in ihrem Spiel sehen, auch jetzt, wo sie nicht aussteigen. Sie sind doch in der Freude, in ihrem Spiel eben. Was muss ich das stören, zerstören durch meine Pläne, meine Eile, meine Ungeduld? Warum muss es jetzt nach mir gehen („raus jetzt, sofort“) und nicht nach ihnen („gleich, wir sind noch nicht fertig“)?

Ich bin da irgendwie auf ein ungutes Gleis geraten. Wirklich eilig ist es nämlich natürlich sowieso und niemals nicht. Ich sinne nach. Und merke, dass ich mich nicht ernst genommen fühle. Dass ich mich von ihrem Spiel herabgesetzt fühle. Ausgebremst fühle. Blöd dastehe. So neben der offenen Autotür, mit dem Einkaufsbeutel in der Hand. Das ist ganz schön absurd, skurril, grotesk. Was macht sich da in mir breit?

Alte selbst erlittene Kindersachen. Gedrängt zu werden. Dauernd gedrängt zu werden. Von den Wichtigkeiten und Notwendigkeiten und Sowiesoigkeiten der Erwachsenen. Alles hatte aufzuhören, wenn die Großen am Zug waren. Sie warteten nicht. Sie erwarteten. Dass ich nämlich in die Spur komme. So, wie sie sich das wünschten, so ganz selbstverständlich, als Umgangsform von Groß und Klein. Wenn die Großen sagten, was zu passieren hatte, dann war ich am Zug, das auch zu tun. Sofort.

So gingen und gehen Erwachsene mit Kindern eben um, als banale Basis. Erwachsene warten nicht auf Kinder. Es ist der Grundstandard. Ohne Worte. Wenn das Auto anhält, ich aussteige, dann steigen die Kinder auch aus. Handy aus und raus. Jedes Warten ist da unpassend, öffnet die Tür zum Unterordnen der eigenen Wichtigkeiten unter den Kram der Kinder. Kann man nicht durchgehen lassen. Führt ins Chaos. Ist völlig alltagsuntauglich.

Ich bin immerhin heute auf einer Zwischenstation angekommen. Ich kann es aushalten, bis sie kommen. Werde nicht massiv und so. Aber es ist sehr schwer. Immerhin kann ich sehen, was sie tun: sie spielen, sie spielen ja. Sie sind nicht irgendwie aufsässig. Sie spielen ja nur. Und genau dieses Merken erreicht mich dann beim Gehen zum Geschäft, wie der Zauberglanz der Sonne.

Es kommt an. Die Freude des Spielens, die Schmetterlinge aus dem Auto, das Glück des Handyspiels. Die Melodie des Lebens dringt bis zu mir vor, lacht mich an. Ich beruhige mich. Und dann kann ich stehen bleiben, als sie sich einem Bettler zuwenden, der am Boden sitzt. Ich warte. Er spricht sie an, sie sehen zu mir, und ich gebe ihnen etwas für ihn. Sie freuen sich über sein „Danke“ und seinen freundlichen Blick.

Habe ich es nicht eilig? Das hat sich erledigt. Ich warte. Und genieße die drei Menschen vor mir, wie sie miteinander zu tun haben, die Kinder und der Bettler. Ich werde beschenkt. Das Warten öffnet Zwischentore für Orte, die nicht vorgesehen aber dennoch da sind, voller Wunder und Geschenke.




Montag, 25. Oktober 2021

Ich bin nicht für Kinder verantwortlich...

 


...weil die Kinder das selbst sind.

Auf dem Vortrag neulich ging es mal wieder um die Verantwortung, die Eltern für ihre Kinder haben. Mein „Ich bin nicht für Kinder verantwortlich“ kam nicht so gut. Ich stand als jemand da, der sich nicht um Kinder kümmert. Lieblosigkeit und unrealistisches Hängenlassen standen im Raum. Da habe ich dann klar gemacht, wie ich das meine und was es mit der Verantwortung und der Selbstverantwortung so auf sich hat. 

Ich unterscheide in „Verantwortlich für“ und „Verantwortlich für“. Das sind zwar dieselben Worte, aber sie haben je nach dem, was mitschwingt und was ausgesagt werden soll, unterschiedliche Bedeutungen. Dieselben Worte – doch verschiedene Bedeutungen: das ist das Problem. Die Zuhörer – und nicht nur die auf den Vorträgen – sind bei der Verantwortungsthematik in einem anderen Nachdenken unterwegs als ich, wenn ich vom „Ich bin nicht für Kinder verantwortlich“ spreche.

Zwei Räume also. Das kann ich thematisieren, aussprechen, klarmachen, und das sollte ich auch, damit das Gespräch überhaupt richtig funktioniert. Was ich oft aber nicht tue. Wieso? Weil mir mein eigener Raum so präsent ist, dass ich den anderen Raum – den üblichen, in dem die Zuhörer unterwegs sind – ausblende. Und weil ich diesen anderen, diesen üblichen Raum, in dem fast alle unterwegs sind, unwürdig finde. Und weil ich mich bei meinem Vortrag „Unterstützen statt erziehen“, also bei einem Gespräch über meine Welt, damit nicht beschäftigen will. Was aber ziemlich uneffektiv ist, denn die Gesprächspartner bekommen dann meistens nicht mehr mit, was ich vermitteln will. Aber keine Sorge, ich schaffe das im Laufe eines Vortragabends schon.

„Ich erziehe Kinder nicht“ – auch so ein Satz, der in die Irre führt, wenn ich seinen konstruktiven Hintergrund nicht gleich mit vermittele.“Unrealistisch, antiautoritär, der spinnt doch“ ist dann ein schnelles Urteil. Dabei ist es weder unrealistisch noch antiautoritär noch gesponnen, sondern etwas sehr Sinnvolles. Bei der Verantwortungsproblematik ist es genau so.

Also Klarstellung:

„Verantwortlich für“ Nummer 1, die Kümmer-Verantwortung. Die ich selbstverständlich praktiziere.

Die Kümmer-Verantwortung: Ich kümmere mich um alles möglich: die Kinder, das Fahrrad, den Arzttermin, die Katze, endlos. Da passt das "Ich bin verantwortlich für" gut: Ich bin für die Kinder verantwortlich (kümmere mich um sie), damit sie sich wohl fühlen. Ich bin für das Fahrrad verantwortlich (kümmere mich um es), damit es sicher fährt. Ich bin für den Arzttermin verantwortlich (kümmere mich um ihn), damit ich ihn nicht verpasse. Ich bin für die Katze verantwortlich (kümmere mich um sie), damit sie was zu futtern hat. Ich bin für Endlos verantwortlich (kümmere mich darum), damit es gut endet. – Hier gehen alle mit.

„Verantwortlich für“ Nummer 2, die Anmaß-Verantwortung. Die ich selbstverständlich ablehne.

Sie ist nicht leicht zu verstehen und zu erfühlen. Sie taucht nicht auf am Horizont der Wahrnehmung, wenn es um die Kinder (und auch andere) geht. Wegen eines hintergründlichen Machtwillens und eines gouvernantenmäßigen Herrschaftsanspruchs, der so ganz selbstverständlich ist. Vor lauter Unterwegssein in der Kümmer-Verantwortung wird die Anmaß-Verantwortung nicht bemerkt. Es gibt keine Sensibilität dafür, dass im „Ich bin für Kinder verantwortlich“ etwas Übergriffiges, Verletzendes, Herabsetzendes stecken kann. Diese Anmaß-Verantwortung gehört in unserer Kultur ganz automatisch zu uns, wird aber nicht als Anmaßung erlebt – sondern als sinn- und liebevolle Fürsorge – und ist in langer Tradition verwurzelt. Die sich überwinden lässt.

Beispiel für eine solche Anmaßung und ihre Überwindung: „Männer sind für Frauen verantwortlich, weil die Frauen das nicht selbst sind. Männer sind in bester Absicht und voll Fürsorge für die Frauen unterwegs. Männer wissen, was für Frauen gut ist.“ Diese patriarchalische Position ist heute von den Männer überwunden. Nicht bei allen, aber immerhin. Männer haben verstanden: Frauen sind selbstverantwortlich.

Wenn das „Ich weiß, was für Dich gut ist“ mit einem Macht- und Herrschaftsimpuls daherkommt, wie richtig ein solches Wissen auch sein mag, dann ist so ein Gutwissen vergiftet. „Ich weiß, was für Dich gut ist, denn ich bin für Dich verantwortlich und kümmere mich um Dich“ – wenn diese Denkwelt mit einem Drüberstehen über dem anderen daherkommt – dann kann man sagen: das geht ja auch nicht anders. Oder man kann sagen, und das sage ich: das geht sehr wohl anders. Und dann beginnt meine Argumentationswelt:

Jedes Lebewesen trägt für sich selbst Verantwortung, von Anfang bis Ende. Wer das nicht so sieht, wird von dem Lebewesen, von dem er das nicht sieht, als Übergriffiger, Herabsetzer und Unterdrücker erlebt. Wenn jedes Lebewesen eine solche Selbstverantwortung denn hat – was aber meine Position ist. Ich sage: Jedes Lebewesen hat diese Selbstverantwortung – mithin auch menschliche Lebewesen, von Beginn (Zeugung) bis Ende (Tod). Mithin auch Embryos, Neugeborene, Säuglinge, Kleinkinder, Kinder, Jugendliche, Heranwachsende, Erwachsene, Senioren, Pflegebedürftige, Sterbende. Und von daher ist ein „Ich bin für Dich verantwortlich“, bei dem das „Du bist es nicht (noch nicht, nicht mehr)“ mitschwingt, ungut und destruktiv. Was ich nicht mitmache. Von daher kommen Respekt vor und Achtung für die Selbstverantwortung des Kindes. Ich bringe das mit dem Statement „Ich bin nicht für Kinder verantwortlich“ zum Ausdruck. „Weil die Kinder das selbst sind.“

Dabei nicht übersehen: ich kümmere mich um Kinder, bei allem und jedem, was gekümmert sein will. Von der Windel bis zur Hustenmedizin. „Ich bin für Dich verantwortlich - Deine Windelhygiene, Deine Hustengesundheit.“ Klar. „Ich bin nicht für Dich verantwortlich - Deine Windelhygiene, Deine Hustengesundheit“. Auch klar. Passt das zusammen? Solche widersprüchlichen Sätze? Es passt, es kommt auf das an, was im Hintergrund mitgedacht wird.

Somit: „Ich bin nicht für Kinder verantwortlich, weil die Kinder das selbst sind.“ Menschenkinder sind selbstverantwortliche Wesen wie alle lebenden Organismen, von Anfang an.

Wie sie das dann alles so hinbekommen, diese Selbstverantwortlichen? Sie nutzen – in ihrer Verantwortung – ihre Ressourcen: Plazenta, Mama, Papa, Gesellschaft. Und Plazenta, Mama, Papa, Gesellschaft geraten in Resonanz und geben den Kindern, was diese brauchen und einfordern.

Eigentlich doch ganz einfach!



Montag, 26. Juli 2021

Sommerferien




Ich bin in den Sommerferien, der nächste Post kommt Mitte September. Habt alle eine schöne Zeit!

Montag, 19. Juli 2021

Die Abschlussrede

 

 


Überall beginnen die Sommerferien, und viele Kinder werden aus der Schule entlassen. Als ich Lehrer war, wurde ich einmal von einer Klasse zur ihrer Abschlußfete eingeladen. Aus meinem Schultagebuch:

*

Heute ist Abschlußfete der 9. Klasse, zu  der ich eingeladen bin. Ein Picknickplatz im Wald. Es sind außer mir nur noch zwei Kollegen da, die anderen wollten nicht. Viel Reden, viel Kontakt, viel "einfach so".

Nach drei Stunden, als alle im Kreis sitzen, fängt Mani an und liest seine Abschlußrede vor, mit vielen Kommentaren und Zurufen. Sie ist nicht für Eltern oder Lehrer gemacht, sondern für seine Leute. Was ich höre, geht mir sehr nahe: Er sagt das, was ich über die Situation der Kinder in der Schule herausgefunden habe. Was aber nur verschwindend wenige von den Erwachsenen, die in der Schule arbeiten, als die Realität der Kinder bemerken. Für die anderen ist eine solche Aussage nur "dummes Kindergerede".

Ich spüre, dass das, was so leicht dahergesagt wird, wirklich ihre Erfahrung ist, ihre Wahrheit eben. Sie gehen alle mit der Rede leicht um. Aber es wird deutlich, worum es geht. Um tiefes Verletztsein. Umd um Betrogensein um die Jahre, die sie in der Schule verbringen mussten. Die Rede ist die Wahrheit der Kinder.

Mani verbrennt seine Rede im Lagerfeuer. Ich bitte ihn dann, sie noch einmal für mich aufzuschreiben. Er tut es gern, und die anderen helfen ihm dabei. Als ich von Veröffentlichung rede und ihn frage, ob er einverstanden sei, ist das für ihn in Ordnung. Aber ich merke auch, dass ihn das gar nicht mehr so interessiert. Es ist doch alles so klar. Und: Sie stehen vor Neuem ...


            Die Abschlußrede

            Freunde, es ist geschafft.
            Neun lange Jahre sind vorbei.
            Mein herzlichstes Beileid möchte
            ich allerdings all denen wünschen, die
            noch länger in den sogenannten Schulen
            gefoltert werden.
            Die letzten neun Jahre waren die schlimmsten
            in unserem Leben.
            Und werden es wohl auch bleiben.
            Die Pauker haben uns dermaßen geschafft,
            dass manche einer sie gern vor ein Kriegsgericht
            stellen möchte.
            Ich bin auch dafür, dass die Schulen, die Gebäude
            des Schreckens -
            Schule, das Wort, das bei Kindern wie ein Brechmittel
            wirkt -
            abgeschafft werden.
            Aber nein, die Schulen werden noch von Staat
            unterstützt.
            Doch freut Euch, die Ihr es geschafft habt.
            In Zukunft dürft Ihr mit Euren Bossen über Lohn-
            erhöhungen und seine Tochter streiten.
            Freut Euch, es wird eine herrliche Zeit.
            Vergesst all das Böse, was Euch in der Schule geschah.
            Haltet die Ohren steif.
            Tschüs!
         

Montag, 12. Juli 2021

Die Krocketkugel

 

 

Nach der Beeerdigung der Urgroßmutter sind wir zusammen im ihrem Haus mit großem Garten. Die Erwachsenen in Gesprächen und Erinnerungen bei Kaffee und Kuchen, die Kinder spielen Krocket auf der Wiese unter den Apfelbäumen. Das Krocketspiel ist uralt, schon wir Kinder haben damit gespielt.

Auf einmal kommt Miriam (8) zur Kaffeerunde. "Schaut mal, die Kugel ist kaputt gegangen, genau in der Mitte durch. Ich hab wohl zu fest draufgeschlagen". Fröhlich hält sie die beiden Hälften der gelben Krocketkugel hoch. Nach einer kurzen erstaunten Schweigesekunde gehen die Gespräche weiter. Aber ich höre doch noch den einen Satz aus dem Erwachsenenstrom, der an Miriam gerichtet ist:

"Da wollte die Urgroßmutter wohl nicht, dass Du mit ihrer gelben Lieblingskugel spielst."   

Miriam erstarrt, sagt nichts und läuft zurück zum Spiel auf der Wiese.

Echt jetzt, das geht doch wohl gar nicht! Auch ich bin erstarrt. Was soll denn so ein Satz mit dem Kind machen? Locker dahergesagt, scherzhaft gemeint, aber ohne Scherzton gesagt, ernsthaft, einfach absurd. Was gräbt sich da in die Seele und in das Gedächtnis ein? Ich bin angefasst, sage erst nichts und mache dann Miriams Mutter darauf aufmerksam, dass da etwas gewaltig aus dem Ruder gelaufen ist. Später sehe ich, dass sie mit Miriam darüber spricht.

Ich will aber sofort gegensteuern. Das Spiel ist bald zu Ende, ich hole Miriam: "Komm, wie reparieren die Kugel." Ich habe Holzleim geholt. Miriam streicht auf die eine Hälfte vorsichtig die weiße Heilsalbe, sie drückt die Hälften aufeinander, ich wickle Klebestreifen drumrum. "Morgen ist die Kugel wieder okay", sage ich. Miriam strahlt. "Das hab ich ja nicht extra gemacht", sagt sie. "Klar doch, natürlich nicht", sage ich. 

Und ich sage noch etwas: "Weiß Du, die Kugel ist uralt, das hätte mir genauso passieren können. Und der Satz vorhin, dass Urgroßmutter nicht will, dass Du damit spielst, war Banane. Sie freut sich bestimmt, dass Du ihre Kugel hattest und dass wir sie repariert haben." Miriam sieht mich von innen an, blickt erleichtert und trollt sich. Und ich wünsche, dass die weiße Salbe auch die Schramme in ihrer Seele heilt.


Montag, 5. Juli 2021

Das Wiederfinden der psychosozialen Macht

 

 

Die Erkenntnis, dass die Verantwortung für das, was sich psychisch in einem Menschen ereignet, bei diesem selbst liegt, bedeutet neben vielem anderen auch, dass niemandwirklich psychisch gezwungen werden kann, zu nichts. Wie man die Welt und ihre Erscheinungen deutet, bewertet und gewichtet, ist einzig die Sache des einzelnen. Ob ein Freiheitskämpfer dem Exekutionskommando entgegenruft "Es lebe die Revolution!" oder ob er apathisch und demoralisiert auf das Ende wartet - das ist seine Sache, seine Verantwortung für sich.

Eine Kultur, die Herrschaft zur Grundlage hat, muss den Menschen diese gesellschaftlich hochwirksame Potenz nehmen. Denn nur der ist beherrschbar, der dem Beherrschtwerden auch zustimmt, der sich auch unterwerfen will. Es gibt immer gute Gründe, lieber seinen Nacken zu beugen als sich den Kopf abschlagen zu lassen - aber ein jeder hat tatsächlich die Wahl zu leben oder zu sterben, jeden Augenblick. Es ist immer die Frage, wo man für sich den größeren Vorteil erkennt. Hierüber trifft man selbst die Entscheidung, niemand sonst.

Es ist leicht, Menschen zu beherrschen, die das Gefühl für ihre Selbstverantwortung verloren haben, die daran gewöhnt sind, andere für ihr Schicksal verantwortlich zu machen: die Eltern, die Gesellschaft, die Verhältnisse. Das Wiederfınden der Selbstverantwortung bedeutet im gesellschaftlichen Bereich das Wiederfinden der psychosozialen Macht des einzelnen. Es ist dies eine Macht, die durch nichts wirklich ausgehebelt werden kann und die jedem, der herrschen will, seine Grenze zeigt.


Montag, 28. Juni 2021

Umsiedeln in den Großraum Positiv

 


 

Wir sind in Großräumen unterwegs. In großen Resonanzen, die uns durchdringen. Wer weiß, wie viele solcher Hintergrundmelodien es in uns gibt. Aber es lässt sich rasch überlegen, dass es da ein Paar gibt, zwei Seelenräume, die entgegengesetzt sind und doch zusammengehören. Der mit dem Pluszeichen und der mit dem Minuszeichen, der positive und der negative Großraum.

Es mag ja eine Zeit und eine Welt geben, in der diese Gegensätze nicht existieren. Wo Gegensätze zwar existieren, aber nebensächlich sind. Weil alles grundsätzlich konstruktiv gesehen wird, also auch das ganze Theater mit dem Minuszeichen zur Welt der Konstruktivität gehört. So was ist ja bekannt genug, und das bekommen wir ja auch immer wieder mal hin. Oder glauben, dass es so etwas gibt wie ein nicht in Gegensätze aufgeteiltes Universum, monumental, Liebe, wie auch immer.

Aber diese gegensätzlichen Großräume mit Plus und Minus sind auch unsere Wirklichkeit. Wo immer das auch herkommt, aus Kultur oder Genen. Und auf diesen Ozeanen sind wir im Alltag unterwegs. Wer steuert unser Schiff? Haben wir eine Chance, Einfluss zu nehmen? Den Raum zu verlassen, den wir nicht mögen, den negativen Großraum?

Wer entscheidet das? Wir gehören uns selbst. Was ja die Frage ist. Aber wenn man mal davon ausgeht, oder dies für einen gewissen Prozentsatz annimmt, dann liegt es auch an uns, aus dem Minusraum zum Plusraum zu wechseln. Wenn es sich so zusammenreimt. Wenn wir das nicht übersehen. Wenn wir das für möglich halten. Wenn wir umschwingen können. Wenn wir uns vom bösen Blick befreien.

Wer kann das schon? Alles, was wir als unangenehm erleben, wird ja nicht durch einen Psychoumschwung der besonderen Art jetzt irgendwie ent-unangenehmisiert. Vielleicht sogar zu einer angenehmen Wohligkeit. Unangenehmes - also Ärger, Enttäuschung, Ängstlichkeit, Leid, Verzagtheit, Verstimmtheit, usw. usw. - durch eine psychische Großbewegung verlassen können: das wäre es ja.

Diese Zauberei gelingt aber immer mal wieder. Mit den dazugehörenden Kopfsprüchen wie „ist ja nicht so schlimm“ oder „mach mal halblang“ oder „das kann man ja auch anders sehen“. Und wenn das immer mal wieder gelingt, gibt es dann nicht auch eine Möglichkeit, solche Umschwingerei oft herbeizuleben, auch: immer öfter? Sie als Hintergrundmelodie nicht mehr zu überhören? Oder etwas weniger anspruchsvoll: immer wieder aufsteigen zu lassen, nach einer gewissen Zeit des Versackens im zähen Sumpf?

Sehr utopisch und unrealistisch, das Ganze. Negatives macht ja auch erst die Erfahrung und das Erleben des Positiven möglich. Und gehört dazu. Zum Leben und zu allem. Ja ja, die Sprüche sind bekannt. Aber sollen sie mich endlos begleiten in der Zeit meines langen Lebens? Es wird so viel auf dem Basar der Deutungsmöglichkeiten angeboten. Wem wollen wir glauben, wem folgen, wo uns festmachen?

Es gibt die Einladung, sich im positiven Großraum aufzuhalten. Mehr noch: es gibt die Botschaft, sich dort ansiedeln zu dürfen. Und wenn man das will, dort auch zu bleiben. Dort zu wohnen. Wir haben etliche Symbole dafür gefunden: „Jeder tut jederzeit sein Bestes“, „Ich liebe mich so wie ich bin“, „Ich bin Ebenbild Gottes“, „Ich bin Konstruktivität und Liebe“.

Wo will ich wohnen? Als Kinder haben wir von der Möglichkeit, im Plusraum zu Hause zu sein, kaum etwas gehört. „Was hast Du wieder angestellt!“ Schimpfkultur, Fehlerhaftigkeit, Mängelwesen: nicht schön, aber wahr. Wahr? Alles ist Interpretation. Wer aber interpretiert? Wer hat die Welt im Griff? Wer hat uns im Griff? Welche Schriften und welche Schriftgelehrten? Schon gut - natürlich können wir das erkennen und uns emanzipieren, uns als Deuter unseres Lebens und unserer Welt einsetzen. Zumindest können wir uns das vorsagen und dann auch glauben, dass das geht.

Das ist alles ja nicht so einfach, und die Widersprüche, die sich aus so einer Umsiedlung in den positiven Großraum ergeben, wollen ja auch wieder positivgroßräumig, also liebevoll gesehen werden. Wenn jemand mich als Leidzufüger erlebt, und ich das Leid des anderen, das durch mich bei ihm entsteht, wie er sagt, auch sehe („Wegen Dir geht es mir schlecht“) - wie lässt sich das als „Ausdruck meiner Liebe“ schönreden? Man kann das ja machen und sich die Wirklichkeit so verdrehen, wie und bis es passt. Aber ist das erstrebenswert? Und auch noch voll Mitgefühl und Anteilnahme?

Klar ist es das! Wir können uns alles schönreden, wer will uns hindern? Warum Misstrauen in diese Kunst? Wir bleiben bei uns und unserem Glauben an uns und unsere konstruktive und mitmenschliche Kraft. „Ich lass mir das nicht schlechtreden - ich lass mich nicht mehr schlechtreden“. Man muss ja nicht gleich abheben mit so einem Höhenflug. Man kann ja einfach ganz erdverbunden und realistisch in dieser Höhe leben, im Großraum Positiv. Jedenfalls ist das nicht verboten ... Es ist eine Option, die mein Nachdenken über mich und die Welt gefunden hat. Eine Option, die mich gefunden hat. Von der ich mich habe finden lassen.

Es ist immer die Frage, welcher Wahrheit oder welchem Schnickschnack man folgen will. Kräuter-Medizin, Hybridauto, Ökostrom, Mülltrennung, Smartphone, Antivirenprogramm, Bergtour, Flussfahrt - endlose Verlockungen. Oder wie bodenständig man sein will. Unterstützen statt erziehen. Statt erziehen? Geht’s noch? Gruselig oder seeligmachend. Wer will ich sein in dieser unendlichen Vielfalt postmoderner Gleichwertigkeit?

Wir entscheiden über unsere Wege. Was soll mich also davon abhalten, meinen Wohnsitz im positiven Großraum anzumelden? Bei der zuständigen Behörde des Universums? Man kann zum Amt gehen und sich dort anmelden. Wohnt man dann dort auch? Als zweiter Wohnsitz gelingt mir das jedenfalls, ab und zu, immer öfter. Obwohl es ja mein erster Wohnsitz sein soll. Ich lege keinen Wert mehr auf dieses andere Land.

Es gelingt mir zu meiner Überraschung einfach immer wieder, Unangenehmes umzudeuten (in den positiven Großraum). Es bleibt dann zwar unangenehm, aber es fühlt sich anders an. Es hat nicht mehr diese Wucht. Es verliert seine Dramatik. Es verliert seinen nachhaltigen Einfluss auf mein Wohlbefinden. Ich kann Unangenehmes ruhiger sehen, mich entspannen und auch mit meiner Unangenehm-Reaktion nachsichtiger umgehen. Ich rufe mich dabei nicht zur Ordnung, es ist mir einfach möglich.

Darunter ist die Gewissheit, dass alles von einer grandiosen Konstruktivität ist. Dass alles seinen offenen liebevollen Weg geht. Grundidee: diese Konstruktivität. Die jeder so ausfüllt, wie er das kann und leben will. Das kann auch das Umsiedeln in den positiven Großraum sein, manchmal, öfter oder auf Dauer.


Montag, 21. Juni 2021

Entwicklungskonferenz

 



Was ist gut für die kindliche Entwicklung? Die Frage ist – mit Vorsicht zu genießen! 

Zunächst das Jahr 1900. Es gibt eine Konferenz zur weiblichen Entwicklung. Die (männlichen) Experten tragen vor, diskutieren, machen Vorschläge, erarbeiten eine Resolution. Die Männer sind in ihrem Element. 

Plötzlich Unruhe, Lärm, Getöse. Die Frauen haben mitbekommen, was da passiert. Sie sind empört. „Ihr wisst, was für unsere Entwicklung gut ist?“ Die Anmaßung der Männer macht sie wütend. Sie treten die Türen ein, vertreiben die Männer. „Wir wissen selbst, was für uns und unsere Entwicklung gut ist.“ 

Hundert Jahre später gibt es eine Konferenz zur kindlichen Entwicklung. Die (erwachsenen) Experten tragen vor, diskutieren, machen Vorschläge, erarbeiten eine Resolution. Die Erwachsenen sind in ihrem Element. 

Unruhe, Lärm und Getöse kommen diesmal von innen. Ich nehme an der Konferenz teil und bin an der Reihe, meine Sicht darzustellen. Ich sage zur Verblüffung der versammelten Fachleute: „Ich bin nicht befugt, mir über die Entwicklung junger Menschen derartige Gedanken zu machen, wie sie hier gepflegt werden und Standard sind.“ 

Gedanken, die Kinder zu Objekten unseres Nachdenkens machen und die uns über sie stellen. So etwas verletzt und depersonalisiert, auch wenn es in bester Absicht geschieht. Es ist unwürdig und herabsetzend. Es entkernt ihre Menschenwürde.“ 

Außerdem: Wenn wir objektiv expertenhaft und nicht subjektiv und persönlich über Kinder nachdenken, ist das unwissenschaftlich! Denn jede Wissenschaft muss dem entsprechen, was sie untersucht. Und unsere Gegenüber sind Personen, keine Gegenstände und rein physikalische Dinge. Also müssen unsere Maßstäbe und Parameter nicht sachlich und objektiv sein, sondern personal und subjektiv!“ 

Ich stelle die „objektiven“ Grundlagen von Pädagogik und Psychologie in Frage und werde deutlich: „Es ist unangemessen und unwissenschaftlich, die kindliche Entwicklung mit objektiver Perspektive zu betrachten. Kinder sind nun einmal keine Sachen. Genau so wie es unangemessen und unwissenschaftlich ist, die Gefühle des Autos beim Bremsen zu untersuchen: Denn Autos sind Sachen und keine Personen.“ 

Nach diesem Vergleich wird es laut im Auditorium. Ich lasse mich nicht beeindrucken. „Wären wir klassische Mediziner, wäre das anders. Dann ginge es um den Körper und seine physikalischen Vorgänge. Die wissenschaftlichen Maßstäbe sind dort sachlich und unpersönlich. Hier geht es aber um die Personalität und Würde junger Menschen.“ 

Und überhaupt ist diese Konferenz genauso chauvinistisch wie damals, als die Männer über die weibliche Entwicklung nachdachten: Oben-Unten-Struktur. So etwas ist adultistisch. Die Konferenz sollte aufgelöst werden!“ 

In dem folgenden Tumult verlasse ich die Konferenz und höre, wie die Kinder die Türen eintreten...



 

Montag, 14. Juni 2021

schule - 10:03 Uhr

 


 

deutscharbeit in der klasse 8c. es ist 10:03 uhr. angespannte ruhe liegt über den jungen leuten. ein stuhl wird gerückt. der lehrer blickt auf. ein schüler ist aufgestanden. "was ist los, kilian?"

alle sehen jetzt auf. der schüler sieht zufrieden aus. er schaut zur tafel, durch sie hindurch. "kilian, was ist?" leicht irritiert steht der lehrer auf. "ich schreibe nicht weiter. ich schreibe keine aufsätze mehr."

nach einer sekunde absoluter stille wird es sehr unruhig.

der lehrer wird energisch. "lass den quatsch und setz dich. schreib weiter." kilian richtet sich ganz auf. er sieht den lehrer an.

"sie haben kein recht dazu. meine gedanken gehören mir. niemand hat das recht, meine gedanken auf sein papier zu befehlen. ich werde keine aufsätze mehr schreiben. nie mehr."

seine entschlossenheit bewirkt noch einmal absolute stille im klassenraum.

dem lehrer gelingt keine antwort. zwei, drei andere junge leute stehen ebenfalls auf. sie sagen nichts, sie schließen ihre hefte.

der lehrer ist fassungslos, sprachlos. alle stehen jetzt, alle hefte sind geschlossen. "wollen sie einen kaffee?" fragt freya, "ich hole einen".

tagesschau:

"überall im land haben sich heute vormittag zahlreiche schüler geweigert, ihre klassenarbeiten zu schreiben. lehrer berichten, dass die schüler mitten im unterricht aufstanden und die fortsetzung ihrer arbeiten ablehnten. lehrer, pädagogen, psychologen und eltern können sich diesen vorgang nicht erklären, zumal es an sehr vielen orten gleichzeitig gegen 10:00 uhr vormittags geschah. die entschiedenheit der ablehnung, klassenarbeiten zu schreiben, kam umso unvermuteter, als es keine vorherigen anzeichen für ein solches phänomen gab."


 

Montag, 7. Juni 2021

"Fährst Du mich zum Arzt?"

 

 

Aus dem Forschungsprojekt für meine Dissertation: 

 

Es ist 23.00 Uhr. Ich bin mit drei Kindern und Brigitte (24) im Ferienhaus. Claudia (12) hat etwas vor die Nase bekommen, sie ist riesig dick. „Kriegst du Luft?“ Es sieht nach Bagatelle aus, morgen wird es weg sein, denke ich. Sie sagt, dass sie zum Arzt will. Wir fahren ins Krankenhaus, klingeln die Nachtbereitschaft raus, und die Nase wird untersucht. Es dauert insgesamt drei Stunden, bis wir zurück sind. „Morgen soll sie zum Nachsehen und Röntgen kommen“, sagt der Arzt. 

Am nächsten Morgen hat Claudia keine Lust dazu. Okay, ich akzeptiere. „Aber die Kinder können das doch gar nicht überblicken“, höre ich in mir. Wenn Claudia Brigitte wäre, würde ich ein „Ich hab keine Lust“ auch akzeptieren. „Du wusstest doch, dass es nicht so schlimm war, wieso fährst Du dann überhaupt los?“ höre ich in mir. Ich respektiere Claudias Wunsch, so wie ich Brigittes Wunsch respektiert hätte. „Und deswegen erst um zwei im Bett?“ 

Ich habe ganz andere Perspektiven. Ich habe mit Claudia erlebt, wie das von elf bis zwei war: Die Angst, ihr Vertrauen „Fährst Du mich zum Arzt?“, die Fahrt, die Ankunft vor dem Krankenhaus, im Fahrstuhl, die Untersuchung, die Rückfahrt und die Erleichterung. Wir waren unter uns, ich fühlte mit ihr und sie vertraute mir ihre Sorge an.



Montag, 31. Mai 2021

"Der spielt."



Ich bin zu Besuch bei meiner Tochter Xenia. Das Abendessen ist vorbei, Geschirr und Besteck sind in die Spüle geräumt. Mein Enkel Johann (2 ½ ) nimmt sein Kinderstühlchen und rückt es vor der Spüle zurecht. Er stellt sich darauf und kann jetzt dort oben wirtschaften. Sein Vater Ulf stellt ihm das Wasser an. Ich sitze am Küchentisch, vier Erwachsene und Johanns Bruder Yann (5). Wir unterhalten uns, nur nebenbei sehe ich Johann vor mir an der Spüle. 

Dann geht ein Wahrnehmungs-Fenster auf, und ich sehe das Kind intensiv, bin konzentriert und schwinge ein: Johann nimmt den Lappen, wäscht hier etwas ab, stellt dort etwas um, Johann singt vor sich hin. Mir geht das Herz auf: dieser junge Mensch ist so ganz bei sich, in seiner Welt. Souverän, ohne Wenn und Aber: Johann wäscht ab. 

Als ihm eine Tasse mit lautem Bums ins Becken fällt – da sehen alle kurz auf und sind dann wieder in ihrer Gersprächswelt – nicht in Johanns Welt. Da bin ich aber grade angekommen, und ich bin verblüfft, dass Xenia und Ulf ihn mit dem Wasser so rumhantieren lassen, die mögliche Überschwemmung lässt grüßen. Außerdem könnte die Tasse ja auch auf den Boden gefallen sein. Stress und Scherben am Abend. 

Ich komme in unsere Erwachsenen-Gesprächswelt zurück „Xenia, weiß Du eigentlich, was Johann grade macht?“ Ich will sie behutsam auf das zu erwartende Ärgernis vorbereiten. Xenia nur kurz und völlig selbstverständlich: „Der spielt." Da bin ich sprachlos und zum zweiten Mal heute Abend fasziniert: Ich dachte, die Mutter ist dankbar für meinen Hinweis, steht jetzt auf und kümmert sich um mögliche Scherben und Pfützen. Aber nein! 

Sie hat ihr Kind nicht ausgeblendet, während wir reden. Sie weiß genau, wo er ist, was er macht und wie er unterwegs ist: „Der spielt.“ Aha – der spielt! Ja, klar doch, irgendwie völlig klar doch. Wasserpfützen, Scherben? Ganz verkehrte Welt! „Der spielt."

 

Montag, 24. Mai 2021

Gleichwertigkeit - ein schwieriges Ding

 


Die Gleichwertigkeit ist ein schwieriges Ding. Arzt und Mörder sind gleichwertig. Beide sind Ebenbilder Gottes, sie gehen nur grundverschiedene Wege. Aber ihr Wert und ihre Würde sind von gleichem Rang. Das ist ein weit gefasstes Bild und schließt niemanden aus.

Auch nicht die, von denen wir gelernt haben, dass sie wenig wert sind, dass sie böse sind, wie man sagt. Die Würdekrone aber haben alle. Doch soll man dann alles durchgehen lassen?

Kain. Er erschlägt seinen Bruder Abel. Besuchen wir die beiden! Mit der Zeitreise. Wir landen mit unserer Rakete hinten auf dem Acker, Kain holt grade mit dem Stein aus. „Halt“, rufe ich, „warte mal!“ „Was willst Du? Wer seid Ihr denn?“

Ich rede auf ihn ein, ich sage ihm, dass es keine Bösewichte gibt und dass er es auch nicht ist, auch nicht, wenn er seinen Bruder erschlägt. Aber ob das denn unbedingt sein muss, und dass seine Opfergabe … und so weiter. Ich versuche ihn davon abzuhalten, seinen Bruder zu töten.

„Verschwinde jetzt,“ sagt er schließlich, „ich will meinen Bruder umbringen, so steht es in der Bibel.“ „Bei allem Respekt, Kain, Du weißt, dass ich Dich nicht für einen Bösewicht halte, aber das wirst Du nicht tun!“ Und auf mein Kommando stürzen wir uns auf ihn und entwinden ihm den Stein.

Ich will damit sagen, dass ich mir – bei allem Respekt auf der psychischen Ebene – sein Handeln nicht bieten lasse.

Was allen „Bösewichten“ gegenüber gilt. Und wenn ich eine Chance habe, kann da keiner von denen tun, was er will, sei es nun ein Bombenleger, Feuerteufel, Amokfahrer, Säurespritzer, Mädchenhändler, Kindesmissbraucher, Drogenboss, Tierquäler oder ein sonstiger Fürst der Finsternis. Das Durchsetzen in der äußeren Welt ist ein klares Oben-Unten.

Die Handlungsebene muss aber nicht von einer psychischen Oben-Unten-Position umgeben sein. Dort, in der inneren Welt, ist bei allem Durchsetzen in der äußeren Welt Gleichwertigkeit. 

Uneingeschränkt gilt für jeden: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Es besteht der Unterschied von „böser“ Tat, die es zu verhindern gilt, und Täter, der immer ein Ebenbild Gottes ist. 

Mein Handy klingelt. „Hallo?“ Ein berüchtigter Kindsmörder ist dran. „Sie behaupten doch, ein Mörder habe gleichen Wert wie ein Arzt?“ „Ja, hat er!“ „Das ist doch Unsinn, das glauben Sie doch selbst nicht. Ich bin ein Mörder und viel weniger wert als ein Arzt. Und um Ihnen Ihren Unsinn zu beweisen: schauen Sie mal aus dem Fenster, ich bin hier hinten im Gebüsch.“ 

Ich sehe ihn, er winkt. „Und ich habe Ihre Tochter, die bringe ich jetzt um. Da werden Sie schon merken, was für ein Bösewicht und Ekel ich bin. Nehmen Sie Ihr Fernglas, da können Sie zusehen.“ Solche Anrufe kenne ich. 

Ich habe aber kein Fernglas parat, sondern ein Gewehr mit Zielfernrohr. Blitzschnell nehme ich es hoch, ziele auf sein Messer und drücke ab. Da er sich beim Zustechen bewegt hat, treffe ich nicht das Messer sondern seine Brust, meine Tochter ist unversehrt. Ich stürze aus der Wohnung und renne die 100 Meter zu ihm hin. „Du elendes Schwein, Du stichst keine Kinder mehr ab!“ Ich trete ihn vor Wut. 

Nein, es ist ganz anders: Ich renne zu ihm hin, das Blut spritzt, er liegt auf dem Boden, ich nehme ihn in den Arm, er sieht mich mit brechenden Augen an: „Ich bin ein Schwein“, sagt er leise. „Nein“, sage ich und streichle ihm über den Kopf, „Du bist ein Ebenbild Gottes wie ich. Du gehst nur einen Weg, den ich nicht mitgehen kann.“







Montag, 17. Mai 2021

Selbstliebe und erziehen


 

Vor einiger Zeit gab ich der Böhme-Zeitung in Soltau ein Interview über "Selbstliebe und erziehen":

  

Die Annahme, dass Kinder erst zu „richtigen“ Menschen erzogen werden müssten, ist sicherlich falsch, wenn damit „vollwertig“ oder „gleichwertig“ gemeint ist. Dennoch bedürfen Kinder in unterschiedlichen Lebensphasen doch immer wieder elterliche Unterstützung und auch Anleitung. Was soll daran falsch sein?

Nichts. Besser: kommt drauf an. Auf den Ton nämlich, der beim Unterstützen und Anleiten dabei ist. Von oben herab? Weil ich recht habe? Weil Du noch ein Kind bist? Ja, wir stehen oben, haben recht und ein Kind ist ein Kind. Aber bei aller Offensichtlichkeit: da kann ein unguter Ton dabei sein, der von oben herab kommt, mit Rechthaberei und „Du bist nur ein Kind“. Das muss nicht sein. Und es sollte nicht sein. 

 

Die allermeisten Eltern handeln instinktiv so, wie es ihrer Überzeugung nach das Beste für das Kind ist. Wenn sie jetzt hören, dass das zu viel ist – erzeugt das nicht vor allem ein schlechtes Gewissen und verunsichert die Eltern nur noch mehr in einer Welt zwischen Perfektionismus und Überlastung? 

Menschen gibt es seit Millionen Jahren, und immer haben Eltern instinktiv so gehandelt, wie sie es als gut für ihre Kinder eingeschätzt haben. Das ist der richtige Weg und nicht „zu viel“. Ich bestärke Eltern darin, sich auf ihr Gefühl zu verlassen. Das ganze heutzutage ausgetüftelte Erziehungsdenken stört: das ist zu viel, wird leicht zur Last und verunsichert. Ja, man kann auch mal einen Erziehungsratgeber lesen oder einen Vortrag zu Erziehungsfragen besuchen. Aber nötig ist das nicht. 

 

Sie schlagen vor, die Selbstliebe wieder zum Ausgangspunkt des Umgangs mit den Kindern zu machen. Ist das nicht leichter gesagt als getan? Setzt diese Selbstliebe ein radikales Umdenken voraus? Und wie müsste das aussehen? Ist Selbstliebe vor allem eine Frage der inneren Einstellung? 

Mein Vorschlag ist keine Hausaufgabe. Niemand muss die Selbstliebe zum Ausgangspunkt des Umgangs mit Kindern machen. So etwas hört sich doch nur anstrengend an. Ich bin da anders unterwegs, nämlich so: Jeder kann es sich gestatten, erlauben, sich hineinfallen lassen in ein freundliches Ich-mag-mich. So was braucht kein Umdenken und keine besondere Einstellung. Und um so besser, wenn einem das im Zusammensein mit den Kindern passiert.

 

Selbstliebe scheint heute vielen Menschen schwer zu fallen, sie ist alles andere als selbstverständlich. Selbstzweifel scheinen – gerade Eltern – zu dominieren. Wie kann man Selbstliebe lernen? 

Menschen tragen die Selbstliebe von Geburt an in sich. Wir haben nur in der Kindheit gelernt, uns nicht als liebenswerte Ebenbilder Gottes zu sehen sondern als fehlerhafte Wesen, die man erziehen muss. Weg damit! Es ist aber auch kein Drama, wenn man an sich zweifelt. Das gehört in der Erziehungskultur, in der wir groß geworden sind, eben dazu. Und: „Selbstliebe lernen“ - so geht das nicht. Sie ist ja da, und es kann einem irgendwie (?) widerfahren oder geschenkt werden, dass sie wieder aufblüht. Jeder ist da eingeladen, sich auf seine Sebstliebewiese plumpsen zu lassen, so wie wir das als Kinder konnten. Vielleicht gehört einfach ein bisschen Mut dazu, sich zu trauen. Sich zu vertrauen. Sich in Ruhe zu lassen. An sich zu glauben. 

 

Auch wenn es Eltern gelingt, sich selbst zu lieben, löst das noch nicht alle familiären Probleme. Auch selbstliebende Eltern werden weiter mit ihrem Kind und miteinander Konflikte austragen müssen, auch miteinander streiten. Wo ist da der entscheidende Unterschied? 

Noch einmal: Es muss Eltern nicht gelingen, sich selbst zu lieben. Das ist doch alles viel zu gewollt. Nichts muss. Nur: Wenn man sich mag, was ja vorkommen kann, dann lassen sich die Alltagsprobleme gelassener angehen. Konflikte wird es immer geben. Ich sag hü, das Kind sagt hott. Und dann gebe ich gelassen nach oder ich setze mich ohne Zimperlichkeit durch: „Es gibt nicht noch ein Eis!“ Das haben die Kinder natürlich nicht so gerne, es entstehen Ärger und Leid. So ist es, und das lässt sich auch nicht vermeiden. Und: Ich mag mich, wenn ich mich durchsetze! Weil mir das wichtig ist, weil es meinen Werten und meinen Vorstellungen vom Besten des Kindes entspricht. 

Zum Unterschied: Ich muss den Kindern dann ihren Unwillen, Ärger oder Leid nicht wegpusten und madig machen durch ein „Sieh das ein“ und „Es ist doch nur zu Deinem Besten“. Nach jedem Regen scheint die Sonne ganz von allein. Wir müssen es uns nicht übel nehmen, wenn wir Steine im Weg der Kinder sind. Das gehört einfach dazu. Die Quadratur des Kreises, sich durchzusetzen und dabei noch ein Lachen hervorzulocken, muss sich niemand antun. 

 

Bedeutet Selbstliebe, dass ich auf Erziehung verzichten kann? Wie soll ich mein Kind dann begleiten? 

Auf Erziehung verzichten? Man kann darauf verzichten, sich im Umgang mit Kindern missionarisch, besserwisserisch, mit ungutem Sieh-das-ein-Ton über die Kinder emporzuschwingen. Ich habe den Begriff „Erziehung“ nicht so gerne, weil er diese Oben-Unten-Position normalerweise als Grundrauschen enthält. Aber lassen wir das, erziehen wir die Kinder einfach ohne diese traditionelle und pädagogische Erwachsenen-Macke. Erziehen wir instinktiv oder belesen oder beides. Verunsichert oder gefestigt oder beides. Wie es kommt. Selbstliebe hin oder her. Wie gesagt, seit Millionen von Jahren... Das wird schon!



Montag, 10. Mai 2021

Was ist gut für die kindliche Entwicklung?

 



Eine Passage aus meinen Vorträgen:

Was ist gut für die kindliche Entwicklung? Das wissen die Experten. Das wissen die Experten? Vorsicht! 

Zunächst das Jahr 1900. Es gibt eine Konferenz zur weiblichen Entwicklung. Die (männlichen) Experten tragen vor, diskutieren, machen Vorschläge, erarbeiten eine Resolution. Die Männer sind in ihrem Element. 

Plötzlich Unruhe, Lärm, Getöse. Die Frauen haben mitbekommen, was da passiert. Sie sind empört. „Ihr wisst, was für unsere Entwicklung gut ist?“ Die Anmaßung der Männer macht sie wütend. Sie treten die Türen ein, legen Feuer. „Wir wissen selbst, was für uns und unsere Entwicklung gut ist.“ 

Hundert Jahre später gibt eine Konferenz zur kindlichen Entwicklung. Die (erwachsenen) Experten tragen vor, diskutieren, machen Vorschläge, erarbeiten eine Resolution. Die Erwachsenen sind in ihrem Element. 

Unruhe, Lärm und Getöse kommen diesmal von innen. Ich nehme an der Konferenz teil und bin an der Reihe, meine Sicht darzustellen. Ich sage zur Verblüffung und Verwirrung der versammelten Gelehrten: „Ich bin nicht befugt, mir über die Entwicklung anderer Menschen derartige Gedanken zu machen.“ 

„Gedanken, die Kinder zu Objekten meines Nachdenkens machen und mich über sie stellen. So etwas verletzt und depersonalisiert, auch wenn es in bester Absicht geschieht. Es ist unwürdig und herabsetzend. Es entkernt ihre Menschenwürde. Wenn wir expertenhaft über Kinder nachdenken, ist das genau so chauvinistisch wie damals, als die Männer über die weiblichen Entwicklung nachdachten. So etwas ist adultistisch. Ich verlasse diese Konferenz.“ Und die Kinder treten die Türen ein und legen Feuer... 

Ich fahre von der Konferenz nach Hause. Ich überlege, welch kleines Geschenk ich meiner Frau mitbringen könnte. Stopp an der Tankstelle. Mon Chérie oder Rose? Ich bin unschlüssig. „Was suchen Sie?“, fragt der Kassierer. „Ich weiß nicht, ob ich meiner Frau Mon Chérie oder eine Rose mitbringen soll.“ „Ja“, sagt er, „schwere Entscheidung.“ Ich nicke. „Bringen Sie ihr doch das mit, was gut für ihre Entwicklung ist.“ (Die Zuhörer lachen, es ist absurd.)

Aber keine Sorge, das Gespräch gibt es nicht. Ich schenke ihr das, von dem ich meine, dass es ihr die meiste Freude macht. 

Am nächsten Tag bin ich zum Einkaufen unterwegs. Mein Neffe hat Geburtstag. Ich stehe unschlüssig vor dem Schaufenster des Spielwarengeschäfts. „Worüber denkst Du nach?“ Mein Freund ist mitgekommen. „Teddy oder Lego“, sage ich. „Ich kann mich nicht entscheiden.“ „Wie alt wird er denn?“ „Drei“, sage ich. „Das kann doch nicht so schwer sein,“ sagt er. „Was ist denn gut für seine Entwicklung in dem Alter?“ Gute Frage! Was sagen Pädagogik, Entwicklungspsychologie und Hirnforschung? 

Mein Neffe steht plötzlich neben uns. Er ist empört. „Wie denkt Ihr denn über mich? Ihr wisst, was gut für meine Entwicklung ist? So was steht in den Büchern? Darüber gibt es Konferenzen? Das läuft an den Universitäten? Habt Ihr sie noch alle? Ich bin doch kein Objekt Eurer geistigen Begierde! Ich bin ein Mensch mit Würde und habe eine Würdekrone! Lasst den Unsinn. Und schenkt mir das, von dem Ihr meint, dass es mir Freude macht.“ 

Ich mache mir schon Gedanken darüber, was für andere Menschen und für meine Kinder und ihre Entwicklung gut ist. Aber der ganze Blick ist dabei – anders. Ich nehme keine objektivierende und expertenhafte Haltung ein, sondern bin subjektiv unterwegs, von Person zu Person. Und ich möchte auch nicht, dass da – wann auch immer – „Experten“ mich beäugen und „objektiv“ über mich befinden. Niemand will das, auch kein Kind. 

Aber ist „Unterstützen statt erziehen“ denn nicht gut für Kinder? Wer kann das wirklich wissen! Es ist ein Weg zu den Kindern. Es ist mein Weg zu den Kindern.