Montag, 27. März 2023

Verheiraten

 


Als ich Lehrer war, geschah es einmal, dass die Kinder zu mir als Person durchdrangen, dass der Lehrer aus der Klasse verschwand und ich verzaubert wurde. Die Mathestunde habe ich dafür gern geopfert. Sie wollten "Verheiraten" spielen und sie vertrauten mir, in meiner Gegenwart so sein zu können, wie sie sich selbst sehen. Einer war Pastor, zwei andere Trauzeugen, und die Pärchen meldeten sich. Sie wurden an die Tafel geschrieben.

Es war eine Zeremonie, mit viel Lachen, Spaß und Beifall. Ich war eingeladen, ihnen zuzusehen, ich war ihr Gast. Es war, als ob ich am Fest eines fremden Volkes teilnehmen konnte. Sie hatten mich in ihren Kreis aufgenommen, ich störte sie nicht.

Ich spürte die Mischung von Spaß und Ernst, von Spiel und Leben, und ich merkte, wie befreiend es ist, wenn man auf dieser von damals so wohlbekannten Basis miteinander umgeht.

 

Montag, 20. März 2023

Misthaufen

 


 

Wenn wir mit Menschen zu tun haben, die von diesen ganzen Ideen nichts halten – da kann man offensiv sein, da kann man zurückhaltend sein. Es kann durchaus gute Gespräche mit denen geben, die anderer Meinung sind.

Aber man muss das alles niemandem auf die Nase binden, der das nicht hören will. Und kommt den Freunden nicht schon wieder mit »Unterstützen statt erziehen«, wenn die dafür nicht offen sind. Das bringt nur Ärger und provoziert. Man wartet auf eine bessere Gelegenheit.

Und dann gibt es noch die Menschen, die das alles unsinnig finden und sich entrüsten. Die Entrüster tun uns nicht gut. Sie sind wie Misthaufen, die stinken. Dann ist Achtsamkeit angesagt, und zwar sich selbst gegenüber.

Man mutet sich nicht jeden Misthaufen zu: Man muss nichts von dem erzählen, was einem wichtig und heilig ist, wenn es nur schlecht geredet und verunglimpft wird. Wir passen auf uns auf.

Damit das nicht falsch verstanden wird: Misthaufen sind wichtig. Sie düngen das Feld und sind große Hilfen für die Mistkäfer. Misthaufen sind wichtig: Nur nicht für uns und unsere Nase. Wir lassen sie in Ruhe und wenden uns von ihnen ab, aber wir setzen sie nicht herab. Ich möchte an Rosen riechen. Ich suche Menschen, die meine Ideen interessant finden und wertschätzen.

 

Montag, 13. März 2023

Iris, Schmetterling, Tiger, Menschenkind

 

 
 

Auf dem Spielplatz habe ich sie vor Augen, die Kinder. Ich bin mit meinem Enkel (4) dort, eine ganze Weile. Die Kinder ringsum sind auch im Vorschulalter. Dann: Eine Mutter will nach Hause, aber ihre Tochter nicht, Iris (3). Sie hat neben uns mit Sandförmchen gespielt. Ich sehe hin und ich höre hin.

Schon Iris' erster Impuls auf die Botschaft ihrer Mutter war eine klare Ansage: Iris will weiter im Sand spielen. Sie hat nichts gesagt, nur kurz hoch und gleich wieder runter geblickt. Wortlos dabei: "Ich will spielen, hier, mit dem Sand." Und: "Hier ist es richtig, hier will ich sein, hier tut es gut, hier bin ich eins mit mir und der Welt, hier ist meine Harmonie, hier bin ich, Iris, zeitlos." Ich sehe ihre Würde, ihre Selbstkraft: "Ich gehe diesen Weg, und ich will ihn gehen. Diesen Sandweg."

Sie wird ihn nicht gehen können. Die Ungeduld ihrer Mutter wächst, die Worte werden härter. Es braut sich Ungutes zusammen. Iris sagt noch immer nichts, aber sie klammert sich an den Sandkörnern fest und ruft sie um Hilfe. Sie ist sich ihres Weges sicher, sehr sicher, so sicher. Es rührt mich an.

Ich interveniere nicht, habe kein gutes Gefühl. Iris wird sich nicht mit mir gegen ihre Mutter wenden, das ist nicht vorgesehen, ja absurd. Und führt zu Eskalation mit Beschämung oder Demütigung von Iris.

Ich sehe zu meinem Enkel. Auch er ist sich sicher, immer wieder sicher. Was seins ist. Wohin sein Weg geht, gehen soll. Auch er hat diese Selbstkraft. Alle Kinder haben diese Kraft.

"Ich kann meinen ersten Atemzug selbst tun" - Leboyer hat diese Kraft erkannt. In der Amication habe ich das so ausgedrückt: "Menschen sind selbstverantwortlich von Anfang an" und "Jeder spürt selbst, was für ihn da Beste ist". Das aber übersetzen in Alltag - das wird unrealistisch. Man sieht sofort die Kinderfinger in der Streckdose. Ja schon, aber: Übersetzungsfehler! So ist das nicht zu lesen, dieses "Selbstverantwortlich von Anfang an".

Es ist immer die Schwierigkeit, diesen zentralen Punkt der Amication anderen Menschen nahezubringen. Die Steckdose aus der Assoziation herauszubekommen. Den Blick des Nachdenkens, den inneren Blick von der Alltagsmauer hin zur Innenwelt zu bekommen. Zu der Selbstkraft. Zu der überwältigenden Energie, die ein Lebewesen - jedes Lebewesen, Schmetterlinge, Tiger, Menschenkinder - in sich trägt: Ich bin. Ich gehe diesen Weg. Und ich will diesen Weg gehen.

Natürlich lassen sich Wege andersrichten, abbiegen, umkehren, auflösen. Die ganze Wegewelt ist zauberbar. Wobei klar ist: Ich - Schmetterling, Tiger, Menschenkind - entscheide, will entscheiden. Wegändern: jeder nimmt einen anderen Weg, wenn die Steine zu spitz sind. Und speziell Menschenkinder folgen durchaus auch Wegvorschlägen und Wegänderungen, die sich auftun, die an sie herangetragen werden, um die sie gebeten werden. Die Selbstkraft - die Selbstverantwortung, das Ichgehöremir - ist ja nicht blöd!

Ich finde diese Kraft grandios, sie ist so einzigartig. Die Kinder sind dermaßen voll davon, dass es eine Wucht und Freude ist. Aber... und da beginnt das traurige Desaster: "Normale" Erwachsene (und wer ist das nicht?) haben keinen Freudekontakt, keinen Achtungskontakt zu dieser Kraft. Sondern einen Störkontakt. Dieser göttliche Funke wird in Steckdose und Co übersetzt, das klare Licht wird gebrochen (am Leid der eigenen Kindheit) und als Trotz und Ungehorsam gelesen.

Iris' Mutter ist eine normale Mutter. Nach "achtsamen Eingehen" (Hinhocken, Augenhöhe) auf ihr Sandkind ist dann klar, wie es ausgeht. Iris stemmt sich gegen das Sandkastenbrett. Die Körpermacht ihrer Mutter legt sich dabei auch mit Iris' Selbstkraft an. Da sind zwei nicht passende Dimensionen im Konflikt. Natürlich ist die Mutter stärker, sie hat Iris in den Kinderwagen "gesetzt". Auf der Selbstkraftebene dröhnt es heftig. Da ist Iris einfach nur "unkooperativ" bis "biestig".

Ich habe mitbekommen, dass Iris' Mutter den Bruder vorn am Parkende, an der Straße treffen will. "Ich kann auf Iris aufpassen, bis Sie wieder da sind. Dann kann sie noch ein bisschen spielen. Ich bin mit meinem Enkel hier und habe Zeit, das wäre kein Problem." Erwachsenenwelt, Erwachsenensprech. Ich blicke dabei die Mutter und dann auch Iris an. Ob das was wird? In der Erwachsenenwelt? In der Kinderwelt?

"Willst Du mit dem Opa noch hierbleiben?" Iris nickt, springt aus dem Kinderwagen und ihre Mutter lächelt mich erleichtert an.



 

 

Montag, 6. März 2023

Mein neues Buch - Autor



 

Mein neues Buch "Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen" erscheint in drei Wochen. Vorn gibt es üblicherweise eine kurze Information über das Buch, diese habe ich im letzten Post vorgestellt. Dann gibt es immer auch eine kurze Vorstellung des Autors. Ich habe mich dabei an der hier rechts nebenan stehenden Autorenbeschreibung "Über mich" orientiert:

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Autor

Ich – Dr. phil. Hubertus von Schoenebeck – wurde 1947 geboren und bin Vater und Großvater.

Ich war Mitte zwanzig, als ich nach einem Jurastudium Kindern im Zuge der Lehrerausbildung wieder begegnete. Ich ging auf sie zu wie früher in meiner Kindheit – auf gleicher Augenhöhe. Das sollte aber nicht sein: Erziehung und Menschenbildung waren die selbstverständliche Norm. Nach einem Jahr Lehrersein war mir klar geworden, was die traditionelle Erziehung bei den Kindern, in ihrem Herzen und in ihrer Seele anrichtet.

Ich suchte nach einem neuen Weg, verließ die Schule und führte eine wissenschaftliche Studie mit Kindern über »erziehungsfreie Kommunikation« durch. Ich diskutierte in Kalifornien mit Carl R. Rogers meine Forschungsergebnisse und promovierte darüber 1980 an der Universität Osnabrück zum Dr. phil.

Ich wusste nun, dass »Unterstützen statt erziehen« gelingt, dass es konstruktiv ist und Eltern und Kindern hilft. Ich ging in die Erwachsenenbildung, um Eltern und pädagogischen Fachleuten davon zu berichten. Seit über 40 Jahren bin ich als Referent an Universitäten, Bildungsstätten, Kindergärten und Schulen im In- und Ausland mit bisher über 2000 Veranstaltungen tätig und habe zahlreiche Bücher publiziert.


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"Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen"

In drei Wochen zu beziehen im Buchhandel oder beim Amication - Förderkreis e.V.

Taschenbuch, 296 Seiten, ISBN 978-3-88739-034-1, 16.- EUR

E-Book, 296 Seiten, ISBN 978-3-88739-035-8, 3,99 EUR




Montag, 27. Februar 2023

Mein neues Buch - Kurzvorstellung

 


 

Mein neues Buch "Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen" erscheint in vier Wochen. Vorn gibt es üblicherweise eine kurze Information über das Buch. Das habe ich auch so gemacht:

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Buch

Eltern lieben ihre Kinder – und erziehen sie?

Im Land jenseits der Erziehung müssen Kinder nicht erst zu richtigen Menschen gemacht (erzogen) werden. Sie tragen von Geburt an die Würdekrone des vollwertigen, ja selbstverantwortlichen Menschen auf dem Kopf und in der Seele – nicht erst mit achtzehn Jahren.

Und wenn diese wunderbaren Kronenwesen dann mit acht Monaten in die Steckdose fassen wollen? Mit drei Jahren keine Dreckstiefel ausziehen? Mit fünf den x-ten Schokohasen von der Oma essen? Mit zwölf die Zigarette nicht ausmachen? Mit siebzehn von der Party nicht nach Hause kommen?

Allen Alltagsproblemen lässt sich mit einer Beziehung ohne pädagogische Übergriffigkeit (»Sieh das ein!«) begegnen. Ein Nein ist und bleibt ein Nein – nur dass die Würde von Kindern und Eltern dabei nicht auf der Strecke bleiben muss.

In großer Breite und Tiefe wird das postpädagogische Projekt »Unterstützen statt erziehen« vorgestellt. Es gilt nicht nur in Bezug auf Kinder – auch Eltern brauchen nicht bessere Mütter und Väter zu werden. Sie sind wie ihre Kinder wunderbar, können sich lieben, so wie sie sind, und müssen gar nichts!

Der erste Teil des Buches enthält die Grundlagen und ist leicht verständlich, mit humorvoller Fantasie und bunten Sprachbildern geschrieben. Der zweite Teil besteht aus vielen anschaulichen Beispielen und eigenen Erlebnissen des Autors. 


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"Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen"

In vier Wochen zu beziehen im Buchhandel oder beim Amication - Förderkreis e.V.

Taschenbuch, 296 Seiten, ISBN 978-3-88739-034-1, 16.- EUR

E-Book, 296 Seiten, ISBN 978-3-88739-035-8, 3,99 EUR

 

 


 

Montag, 20. Februar 2023

Sommer-Seminar 2023

 


Am Ende meiner Vorträge sage ich: „Zum Weiterkommen können Sie auch an einem Seminar von mir teilnehmen. Es dauert eine oder zwei Wochen und findet im Sommer statt. Dort kommen junge Familien hin, auch Familien mit älteren Kindern, auch Jugendliche, Studenten, Singles und Senioren, eine bunt gemischte Truppe.“ 

Und dann erzähle ich vom Sommer-Seminar: 

Alle treffen sich, um in dieser Thematik – »Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen« – dazuzulernen und sich auszutauschen. Es gibt drei kleine Programmeinheiten pro Tag, sonst ist viel Zeit für Gespräche und auch zum Ferienmachen und Ausruhen.

Vormittags gibt es eine zweistündige Theoriesitzung. Wir diskutieren über die Zusammenhänge und Hintergründe. Über alles und jedes, was Sie an der Thematik interessiert, Theorie und Praxis.

Nachmittags unternehmen wir etwas mit den Kindern. Das, was sich die Kinder wünschen: Spiele am Haus, Schnitzeljagd, Seebesuch, vieles mehr. Wir erleben dann etwas Praxis unter dem neuen Gesichtspunkt.

Nachts gibt es Gruppendynamik. Wir sitzen im Kreis, die Kinder sind im Bett. Bei dieser Gruppendynamik kommt es darauf an, einmal zwei Stunden lang bewusst ganz und gar für sich selbst verantwortlich zu sein. Einmal darauf zu achten, dass jeder für sich selbst verantwortlich ist, für alles und jedes. Bei den Abenden geht es um Kleinigkeiten, die von jedem einzelnen entschieden bzw. mitentschieden werden.

Will ich auf einem Stuhl oder auf dem Teppich sitzen? Soll das Licht an oder aus sein? Soll das Fenster offen oder zu sein? Will ich mitreden oder nur zuhören? Will ich diese Frage überhaupt beantworten? Möchte ich mich unterhalten oder lieber körperliche Aktivität? Passt mir eigentlich das, was besprochen wird? Wenn nicht, was kann ich machen? Zig Möglichkeiten: Neues Thema vorschlagen, dazwischenrufen, zu singen anfangen, Gaga plappern, Kissen werfen …

Wir sind zwei Stunden in diesem Raum miteinander unterwegs, jeder in seiner Verantwortung für sich. Die Übung heißt denn auch »Selbst-Verantwortungs-Training«. Und mal ist es lustig, mal schmerzhaft, mal spannend, mal langweilig, mal oberflächlich, mal tiefgründig. Jeder hat es mit in der Hand, welche Richtung der Abend gerade einschlagen wird.

Und jeder ist sein eigener Trainer, es gibt keinen Schiedsrichter, Moderator oder Leiter. Ich habe die Übung auch »Tiefsinn und Schabernack« genannt – es ist ein weites Feld. Der Sinn ist, dass man durch unmittelbares Erleben weiter in den Gehalt dieser Philosophie vordringt, die in der Selbstverantwortung des Menschen gründet.


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Das diesjährige Sommer-Seminar findet vom Freitag, dem 21. Juli bis zum Sonntag, dem 30. Juli in der Nähe vom Bodensee statt. Alles Nähere bitte auf unserer Website amication.de unter Termine/Seminare nachsehen.


Montag, 13. Februar 2023

Vierzigtausend Neinsteine



Wie oft sind wir Leidzufüger? Wie oft rollen wir Steine in den Weg unserer Kinder, und sie können nicht tun, was sie wollen? Sind es 5 oder 10 Neins am Tag? Wenn die Kinder klein sind, sind es mehr, wenn sie größer werden, weniger, wenn sie ganz groß sind, kaum einer. Sagen wir im Schnitt aller Jahre: 5 Neinsteine pro Tag. Das sind bei 18 Lebensjahren etwa 33.000 Steine.

Zu den Steinen der Eltern kommen noch die Neins der Omas, Opas, Onkel, Tanten, Erzieher, Lehrer, sonst wer dazu – überschlagen rund 40.000 Neinsteine. Vierzigtausendmal »Nein« wartet auf jedes Kind. Habe ich vorgesetzt bekommen, haben Sie vorgesetzt bekommen.

Ja, wenn unsere Eltern einen guten Tag hatten, waren es vielleicht nur 39.429. Aber im Prinzip vierzigtausend. Ich weiß nun nicht, wie sich dieser riesengroße Steinehaufen verringern lässt. Ich weiß aber etwas zu der Botschaft, die von diesen Steinen ausgeht, von ihrer psychischen Dimension, ihrem Geruch, ihrer Farbe.

Auf der psychischen Ebene sind das entweder 40.000 Steine mit der Botschaft: »Sieh ein, ich habe recht!« Was für uns Kinder heißt: »Ich soll es einsehen. So wie ich das will, ist es nicht richtig. Ich bin nicht richtig.« 

Wir lernen Selbstzweifel und Schuldgefühl. Unsere Selbstliebe und Selbstkraft werden angeknabbert, zersetzt. Und wir werden zu den Erwachsen, die wir heute sind, mehr oder weniger voller Selbstzweifel und Schuldgefühl. Mit viel weniger Selbstliebe als es sein könnte. 

Oder die Botschaft all der Steine ist dies nicht. Keine Attacke auf die Selbstliebe. Nur Attacken auf unser Tun. Wir können zwar nicht tun, was wir wollen, Steine im Weg eben. Wie ein umgefallener Baum, wenn wir mit dem Dreirad daherkommen und umdrehen müssen. 

Ärgerlich genug – aber die Botschaft ist dann nicht »Sieh ein, ich habe recht!« mit den verheerenden Folgen. Sondern »Hier stehe ich, ich kann nicht anders!« Keine kindbezogene Botschaft, sondern eine elternbezogene Botschaft, kein seelischer Angriff, kein psychischer Übergriff. 

Dann werden wir nicht darin verstrickt, dass wir etwas einsehen sollen, was wir nicht einsehen wollen. Wir können unseren Glauben an uns behalten, auch wenn wir nicht tun können, was wir wollen. Selbstliebe und Selbstkraft werden nicht zersetzt. Kein Selbstzweifel, kein Schuldgefühl. Wir werden anders groß.

Montag, 6. Februar 2023

Sich gelten lassen




Auf meinen Vorträgen erzähle ich:

 

Unser Bild von uns selbst hat viele Facetten. Auch diese ist dabei: Bin ich okay? Kann ich an mich glauben? Kann ich mich lieben, so wie ich bin? Oder kann ich das alles nicht? Die Selbstliebe ist eine Lebenskraft wie der Lebenswille. Wie sind wir unterwegs?  

Nun, Sie wissen, dass Sie Fehler machen können. Dass Sie einsehen müssen, was falsch ist. Dass Sie sich verbessern müssen. Um weiterzukommen, muss man zunächst seine Fehler erkennen. Dann sie korrigieren.  

Man kommt nicht fertig auf die Welt, man muss besser werden, ein besserer Mensch werden. Wenn man das nicht schafft, gibt es Schuldgefühle. Und man holt sich Hilfe. Beratung, Seminare, Therapie, alles Mögliche. Aber das geht auch anders.  

»Fehler«: im Alltag schwingt bei diesem Wort etwas Herabsetzendes mit. Im Unterschied zur Mathematik, einer abstrakten Ideenwelt, da gehören richtig und falsch und Fehler zum Regelwerk. Oder bei eindeutigen Verabredungen wie bei einem Hausbau: senkrecht Stein auf Stein, nicht schräg.  

Aber im Alltagsleben ist das Wort »Fehler« ungut befrachtet. Wie »Unkraut«. »Fehler« setzt etwas herab. Nämlich das, was gerade eben noch richtig und gültig war. Die Vergangenheit steht schlecht da, und sie sagt: »Eben war ich gültig, wieso machst Du mich schlecht?«  

Das habe ich verstanden. Alles hat gleichen Wert, Vergangenes wie Gegenwärtiges wie Künftiges. Also schaue ich nicht herabsetzend auf meine Vergangenheit und sage nicht »Fehler« zu ihr, wenn etwas schiefläuft.

Ich erkenne sehr wohl, dass ich etwas jetzt, heute, im Nachhinein anders machen kann als eben. Ich kann mich verändern. Und ich ändere mich ja auch. Aber immer auf einem 100-Prozent-Niveau. Mal gehe ich links herum zum Bahnhof, mal rechts herum. Und wenn etwas daneben geht, mache ich es ja nicht noch mal.  

Aber ich schimpfe nicht mit dem Eben, ich schimpfe nicht mit mir. Ich habe eben aus meinen Gründen heraus so gehandelt – jetzt handle ich anders. Da ist nichts Marke »Fehler« dabei.  

Mit anderen Worten, konsequent und radikal: Ich und auch sonst niemand kann überhaupt einen Fehler machen – weil es so etwas wie einen »Fehler« in den alltäglichen Angelegenheiten nicht gibt. Außer in der Mathematik und Co. Ich kann somit keinen Fehler machen. Ich muss nicht einsehen, dass etwas falsch war.  

Ich muss nichts ändern, aber ich kann. Ich muss nicht »an mir arbeiten«, aber ich kann. Ich muss keine Beratungsstelle aufsuchen und keine Therapie machen, aber ich kann.  

Es ist die Frage, was Sie von sich halten. Armer Sünder oder Ebenbild Gottes? Sie haben die Wahl. Sie entscheiden über Ihr Bild von sich. Ich will Ihnen ja keinen Stress machen. Aber es liegt wirklich an Ihnen. Es ist nicht verboten, an sich zu glauben und sich zu lieben.

Sie können natürlich versuchen, all das Unangenehme und Widerspenstige an Ihnen zu verringern und abzuschleifen. An sich arbeiten, sich erziehen. Durchaus auch mit Hilfe, mit Seminaren, Büchern, Therapien. Damit Sie ein besserer Mensch werden.  

Sie können es aber auch gut sein lassen. Sich gelten lassen mit all den Widrigkeiten und dunklen Seiten, mit all den gruseligen Hörnern, die in Ihrer Seele wachsen und auf dem Kopf zu sehen sind. Wir alle haben so ein Hörnergestrüpp auf dem Kopf. Und gelegentlich kann man dann mal sehen, wie sich dieses Gestrüpp etwas zurechtstutzen lässt.  

Aber niemand muss sich das zum Desaster machen. Sie können sich auch lieben, so wie Sie sind, auch mit diesen ganzen Hörnern. Und wenn Sie dann mit hundert Jahren gestorben sind, dann brauchen Sie eben einen Sarg mit einer Kuppel für all die Hörner. So ist es, und davon geht die Welt nicht unter.





Montag, 30. Januar 2023

"Verantwortung ist Vorherrschaft"




Neulich hörte oder las ich eine interessante Kombination. Es ging um subtile Gewalt und verborgene Unterdrückung, um Macht und Herrschaft. Wie versteckt kommen diese Dinge daher, auch daher, neben offenkundigem Haudrauf? Welche Schleichwege können sie nehmen? Es ging da hin und her, und dann kam etwas, das mich die Ohren spitzen lies: "Verantwortung ist Vorherrschaft".

Ein Credo meiner Weltsicht ist das "Ich bin nicht für Dich verantwortlich." Nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus Respekt, dass dies ein jeder selbst ist. Dass auch Neugeborene dies sind: für sich selbst verantwortlich. Menschen sind von Anfang bis zum Ende selbstverantwortlich.

Dieses Statement ist eine grandiose Einladung zu Missverständnissen aller Art. Obwohl es auch immer wieder ein klares "So ist es" hervorlocken kann. Die vielen Tore, die das Wort "Verantwortung" zeigt, die vielen bunten Assoziationsfelder und grünen Denkwiesen: da muss Klarheit sein, wo ich bin und wo der Gesprächspartner ist, sonst wird das kaum etwas, so ein Gespräch.

Ich bringe da viele Beispiele, um klarzumachen, was ich meine und wo ich unterwegs bin. Aber die ganzen Beispiele bringen nichts, wenn mein Gegenüber in einem anderen Gebiet unterwegs ist. Wenn er im Land des Sorgens unterwegs ist: "Ich wickle und fütter mein Kind aus Verantwortung". Oder im Land der Anteilnahme: "Es ist meine Verantwortung, meinem Partner in seinem Leid beizustehen." Oder im Land des großen Bogens: "Ich bin für die Umwelt verantwortlich." Oder im Land des Guten: "Ich bin für den Frieden verantwortlich." Zig Länder.

Das Wort "Verantwortung" passt mir da nicht. Es passt mir überhaupt nicht. Denn in meinen Ohren schwingt da etwas sehr Unangenehmes mit, etwas Ungutes, Unzulässiges, Übergriffiges, Anmaßendes, Entmündigendes: Herrschaft. Ich über Dir.

"Ich bin für Dich verantwortlich (Kind, Mensch, Umwelt, Frieden)" setzt mich über jemanden, der nicht aus sich selbst bestehen kann. Weil - weil er es eben nicht kann. Kein Kind kann ohne die Hilfe der Erwachsenen überleben. Kein Friede kann ohne das Engagement von Bürgern bestehen. Und deswegen sind wir alle hier oder dort verantwortlich, jeder an seinem Platz.

Da hau ich dann dazwischen: "Verantwortung ist Vorherrschaft!" Ist das so? Kommt auf den Atem an, auf den Hauch, der diese Einsätze umweht. Welche Umhüllung umgibt den, der sich da verantwortlich fühlt? Die Umhüllung/Botschaft des Missionars, Bevormunders, Herrschers? Wenn es das ist, was ihn trägt und ausmacht: Ist mit mir nicht zu machen. So jemand ist ein unguter Zauberer, der verhext, lähmt, krank macht. So jemand halte ich die magische Blume "Jeder ist für sich selbst verantwortlich" entgegen. Und wer dies versteht, da mitschwingt, die Ohren aufmacht, zu blinzeln beginnt, innehält - mit dem kann mein Gespräch fruchtbar werden.

Waren die Großen meiner Kindheit für mich verantwortlich? Ja, waren sie: In einer guten Art des Kümmerns, der Sorge und der Anteilnahme. Ja, waren sie: in einer unguten Art des Entmündigens, Nichtbemerkens meiner Harmonie/Kraft/Souveränität, in einer gruseligen Vorherrschaft. "Ich helfe Dir, dass Du gelingst und ein richtiger, vollwertiger, für sich selbst verantwortlicher Mensch wirst, der Du jetzt noch nicht bist." Der ich jetzt noch nicht bin? Wie bitte? Ja geht's noch!

Und dann noch alles gleichzeitig und durcheinander und subtil verknüpft. Was einen irre machte. Und was jetzt erst mühsam entdeckt und entwirrt sein will. Amication setzt hier an. Verwirrt die einen - entwirrt die anderen. Entwirrt? Ja, und das ist gut so!


Montag, 23. Januar 2023

Aufräum-Kind

 

 

»Räum Dein Zimmer auf.« Aber das Kind will nicht aufräumen. Ich könnte meinem Kind »seinen Willen lassen«, wie das so schön heißt. Gemeint ist damit die Handlungsebene: Ich könnte es in Ruhe lassen, und es räumt eben nicht auf. Könnte! Will ich? Nein, will ich nicht. Einsehen muss mein Kind ja nichts, klar. Aber tun muss es schon, was ich will. 

Tut es aber nicht. Gute Worte verpuffen, ich setze meine Mächte ein: Zwei Euro fürs Aufräumen – und ernte einen schrägen Blick. »Dann kein Zoo morgen«, der Blick wird schräger. Das wird nichts, merke ich. Gefühlsmacht subtil bis zum Anschreien lasse ich lieber. Körpermacht? Wie soll das denn gehen? Mit meiner Hand seine nehmen und per Doppelhand die Sachen ins Regal stellen? Da kann ich ja auch gleich selbst aufräumen. 

Ich merke, dass mein Kind heute kein Aufräum-Kind ist. In der inneren Welt. Und dass ich es heute auch in der äußeren Welt nicht zum Aufräumen bringe. Möglich und bekannt wäre jetzt noch: »Bevor Du nicht aufräumst, darfst Du nicht raus!« Das ist zwar fiese Erpressung, aber man weiß halt nichts anderes. Und dann? 

»Bin fertig!« Man schaut nach einer Viertelstunde ins Kinderzimmer. »Das nennst Du aufräumen? Ich komme gleich nochmal!« 10 Minuten später: »Bin fertig!« »Wie sieht es denn unterm Bett aus?!« 10 Minuten später: »Bin fertig!« »Wie sieht es denn im Schrank aus?!« 10 Minuten später – usw. 

Ich will, dass aufgeräumt wird. Zauberseifenblasen Marke »Aufräumen ist mein Schönstes« habe ich nicht. Ich kann Petrus anrufen und die Beschwerde loslassen: »Ich habe kein Kind bestellt, das nicht aufräumt!« Der knallt den Hörer auf: »Habe ich aber geliefert!«

Wie kriege ich jetzt die Sachen in Regal, Schrank und Schublade? Wer will denn eigentlich, dass aufgeräumt wird? Mein Kind nicht, aber ich. Also! Also: Wer räumt auf? Ich räume auf! »Du räumst für Dein Kind die Sachen weg, ja spinnst Du! Wo soll das hinführen! Die machen doch mit Dir, was sie wollen!« 

Ich habe da ganz andere Bezüge. Was will ich denn? Das Gezeter und Theater, 10 Minuten um 10 Minuten, bis die Kinder endlich fertig sind und rauskönnen? Nicht mein Ding. Das ist es mir nicht wert. »Räum Dein Zimmer auf.« »Nein. Will nicht.« Na gut – dann räume ich eben auf. Wo ist das Problem? 

Schon klar, das Nachgeben, Kind oben, Vater unten. Das stimmt zwar auf der Handlungsebene, aber nur dort und nicht auf der psychischen Ebene, jedenfalls nicht auf meiner. Ich habe beim Aufräumen kein Unterlegenheitsgefühl. Wenn ich aufräume und die Kinder in Ruhe lasse, gibt es keinen Krach. Sondern Frieden eben, und den zettele ich an. Ich erlebe mich als Friedensstifter im Kinderzimmer, und es geht mir gut dabei. Was habe ich mir für eine viertel oder halbe Stunde Selbstaufräumen nicht alles erspart! Das ganze Machttheater und 10-Minuten-Gruseldrama. 

Ich räume mit guter Stimmung auf, das Zimmer ist wirklich okay, und ich habe dabei mitbekommen, welche Spielsachen repariert werden müssen. Und sauber ist es auch. Die Kinder? Hören CD, spielen, helfen ein bisschen. Ich habe eine schöne Stunde, wir haben eine schöne Stunde. Ein guter Tausch: gute Stimmung gegen Ätze. Das mache ich nicht immer, aber durchaus. Ich bestimme über Krieg und Frieden im Kinderzimmer. 

Außerdem: Unterordnen ist ja nicht das Problem. Das können wir oft genug problemlos, beiläufig. »Geh tanken« zum Auto? Da muss ich schon selbst ran und ordne mich dem Auto und seinem Spritdurst unter. Nur fühlt sich diese Unterordnung nicht nach Herabsetzung an. Ein Auto tankt nicht selbst, es ist kein Tanke-Auto. Es setzt mich nicht herab, und ich fühle mich nicht herabgesetzt, wenn ich selbst tanke. Mein Kind räumt nicht auf. Es ist kein Aufräum-Kind. Es setzt mich nicht herab, und ich fühle mich nicht herabgesetzt, wenn ich selbst aufräume. Ist es so einfach? Für mich schon.