Montag, 11. Dezember 2023

Kinder sind eine unterdrückte Klasse


 
 
Ich entdecke in meinem Bücherregal das Buch „Kinder“ der französischen Feministin und Kinderrechtlerin Christiane Rochefort*, blättere darin herum und finde zwei Stellen, die ich heute in den Blog stelle. Sie hat diesen Text schon 1976, vor einem halben Jahrhundert, geschrieben. Sie ist deutlich! Und sie sieht den gesellschaftlichen Kontext. Hat sich etwas geändert?
 

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Mit sechs Jahren ungefähr wird einem allmählich klar, wo man hineingeraten ist – eijeijei. Man kapiert, welchen Preis es kostet, gegen den Strom schwimmen zu wollen. Und welchen Gewinn man hat, wenn man mitspielt. Man hat gelernt zu rechnen. Kurzum: man wird allmählich vernünftig – in dem Sinne, wie der Fragende zum Befragten, der gerade anfängt zu sprechen, sagt: „Ich sehe, dass du vernünftig wirst.“ Um zu überleben, um Ärger zu vermeiden, um Gnade zu finden, um geliebt zu werden, das heißt um der eigenen Sicherheit willen, muss man sich nach diesem seltsamen Begriff „Vernunft“ richten. Wird man sich tatsächlich danach richten?

Bis zu ungefähr zehn, zwölf Jahren trifft man eine Wahl, nicht selten unter heftigen Konflikten.Der Ausgang dieses inneren Kampfes ist von tausend Faktoren abhängig, unter anderem davon, wie viel man von seiner ursprünglichen Lebensenergie hinüberretten konnte, außerdem von der Art und Stärke des ausgeübten Druckes sowie von dem Maß an Liebe, die man für seine Eltern empfindet. Dieser Abschnitt wird vom Psychoanalytiker „Latenzperiode“ genannt. Es wird angenommen, dass während dieser Zeit die Sexualität zurücktritt und das Gedächtnis die Funktion einer Zensur übernimmt.

Die Sexualität muss also wieder mal herhalten, um die gesellschaftliche Kausalität zu verschleiern. Wenn diese Experten jemals wirklich Kinder gewesen wären, dann wüssten sie, dass nichts schwerer zu ertragen ist als die Niederträchtigkeiten, die zu begehen man gezwungen war. Erniedrigung, die schweigend geschluckt wurde. Bei Analysen ohne ödipale Sperre kommt es dann wieder heraus. Es sind keine ruhmreichen Erinnerungen, und man möchte sie lieber vergessen; man denkt nicht gern an so klägliche Erlebnisse zurück.

Am wenigsten tun dies edle und stolze Ritter - und alle Kinder sind Ritter, Mädchen ebenso wie Jungen, solange sie es nicht mit der Angst zu tun kriegen.

Latenzperiode! Eine Periode der Kapitulation, Vergleichsabschlüsse, Kompromisse. Daran ändert auch nichts, dass solche durch höhere Gewalt bewirkt werden: man fühlt sich frei, empfindet das alles nicht als gewaltsam. Und zu den rasenden Schuldgefühlen, die von den moralischen Instanzen erzeugt werden, muss noch die Lust am Verrat hinzukommen. Zum Verrat an etwas Wertvollem, Echtem. Man hat sich ergeben. Die Erwachsenen ahnen ja nicht, was in den Köpfen und Seelen von Rittern auf der Suche nach dem Gral vorgeht.

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Mitten in unserer modernen „Demokratie“ leben die Kinder unter einer Tyrannenherrschaft – mit deren bekannten Abwandlungen: von übermäßiger Herrschsucht bis zum scheinbar einsichtigen und zurückhaltenden Despotentum, was untereinander keinen erheblichen Unterschied macht. Kinder haben keinerlei Rechte außer den von oben herab diktierten, die jederzeit widerrufen werden können.

Kinder werden in ihrer Eigenschaft als gesetzlich diskriminierte Gruppe in ihrer Gesamtheit körperlich und seelisch bearbeitet und geformt im Hinblick auf ihre spätere Ausbeutung. Die Kinder sind eine unterdrückte Klasse. Sie bilden innerhalb der niederen oder höheren Klasse (je nach Wirtschaftssystem, rassischen oder kulturellen Bedingungen), in die sie zufällig hineingeboren werden, immer die nächstniedrigere Klasse. 

 


* Christiane Rochefort, Kinder, München 1977 (Frankreich 1976), S. 49 f.

Ihr Roman "Zum Glück gehts dem Sommer entgegen" ist ein Klassiker der Kinderrechtsbewegung – einfach schön. Erschienen 1977 (Frankreich 1975)


Montag, 4. Dezember 2023

Gleichwertigkeit in der Ungleichheit

 

 

Ich erzähle von der Gleichwertigkeit. Von der zwischen Erwachsenen und Kindern. "Ja", sagen die Leute dann, "das kennen wir. Wir sind achtsam mit den Kindern. Wir sehen, dass sie eigene Persönlichkeiten sind und wir setzen sie nicht herab." Ich merke dann, dass es schwierig wird.

Wenn man achtsam mit den Kindern ist, dann gibt es da noch etwas zu entdecken. Etwas, das über die Achtsamkeit und das Einfühlen hinausgeht. Davon will ich erzählen. Von einer Gleichwertigkeit, die hinter der Ungleichheit existiert. Und auch hinter der Achtsamkeit. 

Als Erwachsener bin ich immer wieder und unvermeidbar derjenige, der sich den Kindern gegenüber durchsetzt. Die dort bestehende Ungleichheit, sie ist, findet statt. Und sie wird auch von den Kindern erlebt. Hingenommen, bekämpft, akzeptiert, wie es kommt und wie die Kinder grad drauf sind. Ich lasse mein Kind nicht an der Steckdose rumspielen, abertausend Situationen, immer prall voll Oben-Unten. Gleichwertigkeit hat da nichts zu suchen. Achtsamkeit und Einfühlen schon. Durchsetzen mit Achtsamkeit und Einfühlen ist die hohe Schule.

"Ich stehe nicht wirklich über Dir, wenn ich mich durchsetze. Ich bin nicht richtiger, wertvoller, besser." Wer soll das verstehen?

Ich weiß um die Gleichwertigkeit in der Ungleichheit. Ich weiß, wie das geht. Und ich erkläre es gern. Es ist mühsam, mir zu folgen. Wer kommt mit?

"Was soll dabei rumkommen?" "Na ja", sage ich. "Entspannung im Alltag mit den Kindern, Harmonie, Frieden halt. Ungebrochene Selbstliebe bei den Kindern, Geborgenheit. Ein besonderes Maß von all dem. Etwas, das sich bei aller Achtsamkeit und Einfühlung nicht erreichen lässt. Ein Mehr an Liebe zwischen Eltern und Kindern als man sich vorstellen kann."

Dann soll ich erzählen. Und dann erzähle ich. Vom Indigenen und dem Büffel, von der Schweineschnauze, vom großen Steinehaufen, von der großen Ebene, vom guten Ton, vom Telefonieren mit Albert, Rudi und Mary, vom Freiheitskämpfer, von Distel und Brennnessel, vom Rauchen, vom Nachhausekommen, von den Eisbällchen.* Und von all diesen vielen Zauberdingen und all den Türen noch. Ich lade die Leute ein, und wenn sie denn mitkommen, sich bedanken und erfüllt sind - dann bin ich zufrieden und fühl mich beschenkt.




* Diese Beispiele und Bilder sind nachzuschlagen in dem Buch über meine Vorträge: „Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen“. Das Buch ist auf meiner Website vorgestellt: amication.de

Montag, 27. November 2023

Wer aber waren wir?

 


Alle unsere Wahrnehmungen von der Welt kommen aus uns selbst, und doch liegen vor und hinter ihnen unendlich viele Wahrnehmungen anderer. All derer, die uns wissen ließen, wie dieses und jenes wahrzunehmen sei, und das wir so oder anders von ihnen übernommen haben. Als Kinder haben wir von Anfang an unzählige Informationen zur Weltdeutung erhalten, von den Erwachsenen unserer Zeit. Ihr Wissen um die Welt wurde zur Grundlage unseres Weltverstehens. Und auch wenn wir später entgegen ihren Deutungen anderen und neuen Sichtweisen folgen, ist es doch so, dass die in der Kindheit erfahrende Weltdeutung niemals wirklich verlassen werden kann.

Wie nehmen wir uns selbst wahr? Wer bin ich? Neben vielen anderen Aspekten der Identitätsfrage gehe ich einem besonderen Gedanken nach: Wir lernten und erfuhren als Tatsache des Lebens, als Selbstverständlichkeit unserer Eltern und Großen, wenn sie über uns nachdachten und etwas über uns sagten und etwas zu uns sagten, wir erfuhren als eine selbstverständliche Basisinformation, dass Kinder anders waren als sie – und dass sie anders waren als wir. Wir und sie – sie und wir: das waren zwei verschiedene Welten. Und im Hintergrund war präsent, dass unsere (Kinder)Art zu sein nicht die eigentliche Art zu sein wäre, wie sie den wirklichen und wahren Menschen, den Großen, ihnen also, zukommt. Wie sie meinten.

Nun lag es damals aber nicht an, zu bemerken, dass wir eines Tages auch groß, so wie sie, sein würden. Merkwürdigerweise spielte das einfach keine Rolle. Merkwürdig deswegen, weil ich heute, selbst groß, denke, wir Kinder hätten es von ihren Gesichtern ablesen können: ihr werdet eines Tages auch Große. Das war so aber nicht der Fall. Nein, es war so: wir hier – sie dort.

Dieses Basiswissen vom eigenen Standort – wir hier, im Unterschied zu euch dort –, der zugleich der Standort vieler anderer auch war, aber nur der anderen, die in der gleichen Situation des Lebens waren, also: der anderen Kinder – dieses Basiswissen und vor allem das Gefühl von diesem Standort gingen nach und nach verloren, zu der Zeit, als man selbst erwachsen wurde. Dann galten andere Bezüge, der andere Standort. Und der Kontakt zum Wissen und Fühlen der damaligen Wahrheit riss ab. Und seitdem leben wir in unserer Welt, der Welt der Erwachsenen.

Doch zurück zu der Basis der Kindheit, zu dieser Basis, dem Wissen und dem Gefühl der eigenen Welt, der eigenen Sprache, der eigenen Interpretation – immer anders als die der Großen, immer gleich wie die der Gleichaltrigen. Und immer vorgegeben von den Großen: vorgegeben aber nur insofern, als es das Faktische betrifft, wie dann, wenn etwas vorgegeben ist, das der eigenen Vereinnahmung bedarf: »Das ist die Sonne« musste von uns Kindern zurechtgelegt werden, übersetzt werden in unsere real existierende Welt, transportiert werden in unser Weltbild. »Das ist ein Auto« ebenfalls. Mit allem ging das so. Und auch mit der Aussage: »Das bist Du«, was übersetzt hieß: »Das bin (also) ich«.

Wer aber waren wir?

 

Montag, 20. November 2023

Kind ist jetzt

 

 

Was wurde uns Kindern gesagt? Neben vielem auch, ohne Worte – wir seien Kinder. Nicht Erwachsene. (Das waren ja sie.) Und Kinder, das weiß jeder Erwachsene, entwickeln sich, sie wachsen, sie werden. Sie werden. Was werden Kinder? Sie werden Erwachsene. Eines Tages. Wir erfuhren also: Ihr seid jetzt Kinder – und damit seid ihr Leute, die werden. Die Erwachsene werden. (Und dann sollten wir außerdem und vor allem gute Erwachsene werden, keine bösen, missratenen sondern vorzeigbare, wertvolle, tüchtige, solche, auf die Verlass ist und auf die man stolz sein kann.) Der Sog zu werden war wie zuckersüßer Sand über uns gestreut, wir nahmen ihn auf und wir wurden.

Wenn wir Kinder um uns haben, sehen wir sie so, wie wir gesehen wurden: als Wesen, die werden. Und wir sehen sie weniger oder nicht oder ganz und gar nicht als Wesen, die sind. Und dennoch: Als wir selbst Kinder waren, war uns präsent, selbstverständlich, Basis: dass wir sind. Jetzt. Und gleich. Und eben. Wir lebten uns und waren in der Zeit, mit der Zeit, nicht im Gegensatz zur Zeit, nicht im Streit mit der Zeit, nicht jenseits oder vor der Zeit, der eigentlichen Zeit. Wir waren nicht im Werden, sondern im Sein.

Wer ist dieses Kind vor mir? Wer ist dieses Jetztwesen? Das interessiert mich, das ist meine Frage, meine Aufmerksamkeit, meine Intuition, meine Art. Ich habe mich gelöst von der Werden-Perspektive. Ich habe diese Perspektive nicht gänzlich verlassen, aber sie kommt mir nicht zur Unzeit dazwischen, sie hat mich nicht im Griff. Ich habe sie bei Bedarf, ich wende sie an, nicht sie mich. Wer ist also dieses Kind vor mir jetzt?

Ein NochEinBrotKind. KeinHausaufgabenMacheKind. Ein BruderKämpfeKind. EinJammerUndGeschreiKind. Ein MitTierenBehutsamUmgeheKind. Ein MüdeKind. Ein JetztEinschlafeKind. Ein DuHastHierNichtsVerlorenKind. Ein IchBinSchonFertigKind. Ein DannSpielIchEbenGarNichtMehrKind. Ein LaßMichInRuheKind. Ein IchHelfeDirKind. Kein SchnallDichAnKind. Ein TreppengeländerRutscheKind. Ein HonigSchmierKind. Kein ZähnePutzKind. Kein MitDemHundRausgehKind. Ein MeinZahnIstWegKind. Ein IchHabeSchlechtGeträumtKind. Kein HändeWaschKind. Kein FährtVernünftigMitDemRadKind. Ein MirIstKaltKind. Ein WieSpätIstEsKind. Ein WannSindWirDaKind. Ein SagIchNichtKind. Ein HabIchAberWohlKind. Ein KlavierspielenÜbeKind. Ein KarateTrainingKind. Ein BlumenstraussPflückeKind. Ein DiskoBesucheKind. Ein NichtraucherKind. Ein IchGehZumReitenKind. Kein IchHabDenSchlüsselVergessenKind. Ein IchHabeMeinZimmerAufgeräumtKind. Ein DaranHabeIchNichtGedachtKind. Ein DasHabeIchDirMitgebrachtKind. Kein FrühstücksbrotAufesseKind. Ein DasWarIchNichtKind. Ein SpielstDuMitMirKind. Ein KicherKind. Ein IchFreuMichAufKind.


 

Montag, 13. November 2023

Einmischen wenn Kinder streiten?

 

  

Ich bekomme mit, wie zwei ältere Kinder (9) ein jüngeres Kind (6) ärgern. Lars und Moritz lassen Nils nicht mitspielen, obwohl sie zu dritt verabredet sind. Nils sitzt da und weint.

Das kann ich nicht so stehen lassen. "Ihr seid zu dritt unterwegs", sage ich zu den beiden. "Lasst Nils nicht hängen." Es kommt nichts Nettes. "Der heult doch nur." Was jetzt?

Soll ich mich kümmern, mehr als diesen Satz einwerfen? Wenn ich weiter interveniere, werde ich als jemand wahrgenommen, der die übliche Macht hat. Die Macht, anzuordnen, was Kinder zu tun und zu lassen haben. Das ist nichts, was ich will, und nichts, wie ich mich verstehe. Ich lasse die Kinder ihre Dinge tun, kommentiere das schon mal, misch mich auch schon mal ein, lass auch kein Kind an der Steckdose rumspielen. Aber eigentlich: lass ich sie ihre Dinge tun.

Eigentlich. Aber jetzt wegschauen? Ich will den weinenden Nils nicht im Stich lassen. Ich will aber den beiden Großen auch nicht vorschreiben, was sie zu tun haben, also Nils mitspielen lassen. Dilemma, Zwickmühle. Da ist Haltung gefragt. Nicht Wegschauen. Hinschauen. Und aktiv werden.

Na ja, das ist ein generelles Problem/Thema. Kommt am Tag zig mal vor, mal kleiner, mal größer. Einmischen bei einem Streit im Supermarkt? Hab ich gemacht. Einmischen bei einem Parkplatzstreit? Hab ich nicht gemacht. Unterschrift für den Erhalt der Kita? Hab ich gemacht. Demonstration für den Hambacher Forst? Hab ich nicht gemacht. Mal schau ich hin und tu was, mal schau ich weg und tu nichts.

Wenn ich nichts tue, obwohl ich etwas tun könnte. Wenn ich das Ungemach/Leid/Übel stehen lasse, was mir über den Weg läuft und mich ruft - dann sag ich, dass ich mich nicht um alles kümmern kann. Was aber so ja nicht stimmt, denn um vieles von dem Alles könnte ich mich ja sehr wohl kümmern. Angefangen damit, vegetarisch zu essen, mit dem Rad zum Einkaufen zu fahren, bei Greenpeace Mitglied zu werden.

Es gibt da eine Bremse in mir. Ein Stoppschild. Ja, ich könnte dem Bettler einen Euro in seinen Becher tun, aber ich tu es nicht. Ziemlich gemein, mein Einkauf hat 25 Euro gekostet, und jetzt kein Euro für den Mann ohne Beine? Ich bin da nicht stolz drauf oder irgendwie so naseweisaufmichaufpasserisch. Ich finds blöd, aber ich lass es dann so sein. Nehme es mir nicht übel, aber find es eben auch nicht schön. So eine Mischung.

Nils' Tränen sind mir aber zu viel. Die fehlenden Beine des Bettlers waren es nicht. Wie soll ich da gut rauskommen? Mir ist klar, dass ich den Großen nicht Sympathie verordnen kann. So was funktioniert nicht. Aber ich kann mich unabhängig von einer Intervention bei Lars und Moritz um Nils und sein Leid kümmern.

"Die wollen nicht mit Dir Spielen." Feststellung, Kontaktaufnahme. Das ganze "Sollen sie aber doch" wisch ich weg. Ich nehme Nils auf den Arm. "Komm, wir holen Salat aus dem Garten fürs Abendessen." Nils sucht einen schönen Salatkopf aus.

 

Montag, 6. November 2023

Die Würde des Bösen - Vortrag Hintergrund

 


 

 Vortragsabend

Dr. Hubertus von Schoenebeck

Die Würde des Bösen

Von Terroristen und anderen Ungeheuern

Vortrag mit Gespräch

 

 Hintergrund


Seit vielen Jahren trete ich dafür ein, dass Kinder nicht pädagogisch-missionarisch gesehen werden sollten, sondern dass ihre eigene innere Welt gleichwertig wie die innere Welt der Erwachsenen erkannt und geachtet wird.

Über diesen postpädagogischen Ansatz habe ich geforscht und an der Universität Osnabrück im Jahr 1980 zum Dr. phil. promoviert. Für die postpädagogische Gleichwertigkeits-Perspektive bin ich seitdem in der Erwachsenen- und Familienbildung und der akademischen Ausbildung mit über 2000 Veranstaltungen tätig und habe zahlreiche Veröffentlichungen publiziert.

Meine Sichtweise auf den Umgang mit Kindern hat eine große Tragweite auch für den Erwachsenen selbst, das groß gewordene Kind. In meinen Veranstaltungen wird dies für jeden Teilnehmenden deutlich, oft sind die Anwesenden am Schluss sehr nachdenklich und angerührt.

In der gegenwärtigen unruhigen Weltlage habe ich mich entschieden, auch Vorträge für ein breiteres Publikum zu halten als für Eltern und pädagogische Fachleute. Dort heißen meine Vorträge und Seminare „Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen“.

Die wichtigste Komponente meiner Sichtweise ist die Gleichwertigkeit der Menschen in Bezug auf ihre Selbstkompetenz und Würde. Diese Würde-Gleichwertigkeit ist für mich unteilbar und gilt auch für die Menschen, die wir als böse erleben. Sei es im Kleinen: „Das Schwein hat mich verlassen“ oder im Großen: „Der Terrorist fällt über Unschuldige her“.

Ich habe erkannt, dass diese Herabsetzung anderer, die wir als böse einstufen, in der traumatischen Kindheitserfahrung als „ungezogenes“ und „böses“ Kind verwurzelt ist.

Hierüber möchte ich in meinem Vortrag zum Nachdenken anregen. Ich zeige den Teilnehmenden, dass der Bezug zur Würde eines „Bösewichts“ niemals verloren gehen muss, auch nicht zu dem „Bösen“ in uns selbst. Was niemanden daran hindern soll, gegen einen solchen „Bösen mit Würde“ so energisch vorzugehen, wie das jeweils für das eigene Wohl und die eigenen Werte erforderlich ist. Kurzgefasst: Durchsetzen ja, herabsetzen nein. Denn: Die Würde des Menschen ist unantastbar.



 

Montag, 30. Oktober 2023

Die Würde des Bösen

 


 

Vortragsabend

Dr. Hubertus von Schoenebeck

 Die Würde des Bösen

 Von Terroristen und anderen Ungeheuern

Vortrag mit Gespräch


In der Kindheit haben wir oft zu hören bekommen, dass wir unartig und böse seien... Doch welche Anmaßung! Wir haben wie jedes Kind, das sich auf die Erde wirft und schreit, unsere Interessen vertreten und waren in innerer Harmonie. Aber wir wurden aus-geschimpft, und das Böse-Narrativ der Erwachsenenwelt fraß sich in unsere Seele. Und so sehen wir heute viele Menschen am Werk, die böse sind – im Kleinen: „Das Schwein hat mich verlassen“ und im Großen: „Der Terrorist fällt über Unschuldige her“.


Der Abend zeigt Ihnen, wie sich dieses herabsetzende Muster, was ja auch uns selbst gegenüber so viel Macht hat, erkennen und überwinden lässt. Nein, niemand ist böse! Wir können uns lieben, so wie wir sind, und das gilt auch für jeden anderen. Denn die Würde des Menschen ist unantastbar – auch wenn er noch so Schreckliches tut und wir uns kraftvoll zur Wehr setzen.


Dr. phil. Hubertus von Schoenebeck hat Sachbücher zu Erziehungsfragen und über die Selbstliebe veröffentlicht und ist seit über 30 Jahren in der Erwachsenenbildung tätig. 

 

 

Montag, 23. Oktober 2023

Political Correctness - Aber!



In unseren Zeiten von überbordender political correctness reizt es mich schon, all dem mein „Alles geschieht aus Liebe“ entgegenzuhalten. Ich bin da ganz gern mal frech. Ich übersehe nicht die Wichtigkeit von MeToo und anderem, und Leid rührt mich an. Mein Mitgefühl gehört den Misshandelten, Unterdrückten, Ohnmächtigen.

Aber! Aber ich zeig den zu Recht Empörten gern mal den großen Teppich: „Leute, kommt mal wieder runter!“ Runter auf den Teppich, auf den das Ganze aus meiner Sicht bei allem Leid eben doch gehört: den Teppich der Würde jedes Einzelnen. Den Teppich, auf dem auch die bösesten Bösewichte der kleinen Welt und der großen Welt stehen.

Montag, 16. Oktober 2023

Es gibt keine Fehler!

 


 

 "Sie sagen, man kann keine Fehler machen. Was meinen Sie damit?" Frage auf dem Vortrag. Ich erkläre, aber ich weiß auch, dass meine Erklärung zum "Keine Fehler machen" nicht jeden erreicht. "Man macht aber doch Fehler. Und man kommt nur weiter, wenn man seine Fehler erkennt und daran arbeitet."

Klar mache ich oft etwas anders als eben. Weil das Eben nicht so war, wie ich es gern gehabt hätte. Ich schlage mir nicht zum zweiten Mal mit dem Hammer auf den Finger, ich parke diesmal vorsichtiger ein, ich ziehe mich wärmer an. Der falsche Schlag, das falsche Parken, die falsche Kleidung: wieviel Fehler steckt da drin? Und passt "falsch" eigentlich?

Ich bin da schon hellhörig. Um das Wort "Fehler" herum gibt es eine Ausstrahlung, eine verborgene Botschaft, eine Hintergrundmusik, die ich nicht mag. Herabsetzung, Besserwisserei, Demütigung, Schlechtsein. Die ungute Bösewelt taucht auf, wenn von einem Fehler die Rede ist. Und da jeder Mensch für mich sinnvoll und Ebenbild Gottes ist, passt das nicht zusammen.

Beim Rechnen kann ich den "Fehler" leichter akzeptieren. 3 plus 3 gleich 7 ist falsch. Ein Fehler? Ein Rechenfehler ja, aber ein Fehler? Wer drei und drei addiert zu sieben, der fällt aus dem Sinn, dem universellen kosmischen Sinn ja nicht heraus. Er ist unkonzentriert in Sachen Algebra, will den Lehrer ärgern, seinen Protest gegen die Mathematik, die die Atombombe hervorgebracht hat, demonstrieren oder sonst was. Er kommt nicht zur mathematisch! richtigen Lösung. Aber seine Lösung "Sieben"" ist nicht in einem höheren Sinn ein Fehler. "Sieben" ist Ausdruck seines Insgesamts, seines Sinns, seiner Liebe und Schönheit. "Fehler" passt nicht, "Rechenfehler" schon.

Bin ich da überdreht? Ist so etwas alltagstauglich? Tja, ich verhandle beim "Fehler" eben etwas Grundsätzliches. Das Fundament der Amication ist gebaut ohne den Fehler. Ohne die ungute Welt, die den Fehler umgibt.

Ungute Welten gibt es bei vielen Wörtern, die wir dann vermeiden. Sie drücken Zusammenhänge aus, die nicht mehr passen und ersetzt werden. So eine politische Korrektheit lässt sich auch übertreiben, aber oft ist es eben stimmig. Statt "Neger" gilt "Schwarze". Und oft fehlt auch ein neues Wort. "Unkraut" für die Distel und die Brennessel? Sie sind die Heimat von Schmetterlingen und habe ihren Platz im
Ökosystem. Ein neues Wort für "Unkraut" fehlt. Wie beim "Fehler". Distel und Brennessel existieren, aber die Unkrautwolke hüllt sie nicht mehr ein. Mein Tun und seine Folgen (Toter Hund, Blechschaden, Erkältung) gibt es, aber ohne Fehlerwolke.

Ich kann also keine Fehler machen, selbst wenn ich es wollte. Weil ich die kosmische Konstruktivität, die mich existieren lässt, nicht verlassen kann. Ich bin aus Konstruktivität entstanden und gewoben, jenseits aller Fehlerei.

"Sie können es jederzeit anders machen als eben", sage ich. "Aber Sie müssen über das Eben nicht schlecht denken. Das Eben war ja grad eine gültige Gegenwart. Warum wollen Sie ihre Vergangenheit schlecht dastehen lassen und ihr – also sich – Vorhaltungen machen? Kann man tun, muss man aber nicht tun. Man muss nichts an sich fehlerhaft finden, auch nicht das, was grad schiefgegangen ist."

Danach kommt dann gleich das Gespräch über das Leid, dass durch Fehler entsteht. Fußgänger angefahren, Kind angebrüllt, Partner verlassen. Ja, durch unser Tun entsteht immer wieder auch Leid, und das ist ein großes anderes Thema. Fehler aber? Passt auch bei der Leidthematik nicht. Ich tue immer Sinnvolles, Fehlerloses, und dabei kann es durchaus immer wieder zu Leid kommen. Fehlerlos sein öffnet nicht das Tor zu leidfrei sein und führt auch nicht in die Lieblosigkeit. Ohne Fehler zu leben schließt kein Tor sondern lässt ein Tor offen. Das Tor, hinter dem ich in Harmonie mit der Welt und mir lebe.

 

Montag, 9. Oktober 2023

Wie soll ich Amication in die Praxis umsetzen?

 


Gestern im Vortrag zur Amication fragt mich eine Mutter, wie sich das denn alles in die eigene Praxis übertragen lässt. Ich sage ihr dann das, was ich dazu einmal aufgeschrieben und in meine Text-Schatzkiste gesteckt habe:

»Wie soll ich Amication in die Praxis umsetzen? « Das geht natürlich nicht! Nicht so, wie es in dieser Frage aufscheint. Als Anwendung. Als etwas, das gekonnt sein will. Das man lernen kann. So geht es eben nicht!

Wie aber dann? Nun – es passiert einfach. Beiläufig. Ohne Absicht. Als Geschenk. Einfach so. Aber: nicht jedem passiert es, und nicht zu jeder Zeit und an jedem Ort. Es braucht günstige Umstände. Gute Zeiten. Sonne am Himmel. Besser: Sonne im Herzen. Denn mit dem Herzen hat es zu tun. Amication ist ja auch eine Herzenssache. Und die kommt gleich nach der Verstandessache. Oder vorher. Mit dem Verstand könnt Ihr herausfinden, welche Gipfel der Erkenntnis überhaupt in Frage kommen. Welche Gipfel der Ethik und Moral, der Philosophie und der Lebensfreude Ihr denn überhaupt als die eigenen ansehen möchtet. Und welche Ihr dann besteigen wollt, die Gipfel, auf denen Ihr zu Hause seid, im Nachdenken, mit dem Verstand, mit der intellektuellen Identität.

»Zu mir gehört Amication«. So ein Satz ist eine klare Kopfposition. Und gleich danach und eigentlich ja davor kommt das Herz: »Das fühle ich, diese amicativen Matterhörner und Wasserfälle, Kuhglocken und Schneereste, Murmeltiere und Alpensegler, Enziane und Berghütten. Das alles fühle ich eben – die amicativen Sonnenstrahlen wärmen mein Herz, erfüllen mich und machen mich froh. Wenn Ihr das fühlt (wenn Ihr das fühlt), dann ist der Rest – der ganze Rest: die so genannte Umsetzung – eine Naturgewalt, die sich eben einfach ereignet. Die nicht inszeniert werden kann, sondern die sich ergibt. Als Ausdruck dieses amicativ schlagenden Herzens, dieses Gefühls: »So – genau so ist es für mich richtig. Alles – die Amication rauf und runter, alle zwölf Punkte der Grundlagen und zigtausend amicative Dinge mehr.«

»Das sagt mir was, die Amciation. Das ist mein Zuhause. Darin lebe ich. Das ist alles für mich so selbstverständlich.« Dann hat die Umsetzung längst begonnen. Euer Herz hat sich verwandelt, Ihr habt es umgesetzt in amicatives Land. Mehr ist nicht nötig, und mehr geht auch gar nicht. Nur so lässt sich Amication »umsetzen«.

»Kann man das nicht ein bisschen konkreter haben? So, dass man sich etwas unter amicativer Umsetzung vorstellen kann?« Bitte was? Wie soll man sich denn eine solche Herzumsetzung vorstellen? So etwas macht kein Arzt und keine Medizin, so etwas wächst. Von allein, oder eben nicht. Und je nach Umständen. Ja, natürlich, man muss dafür offen sein, ein bisschen jedenfalls. Ohne dieses bisschen mitgebrachte Offenheit geht es nicht. Und ob man so ein Stückchen Offenheit im Lebensrucksack hat oder nicht – das ist ein Geheimnis, das jeder in sich hat.