Montag, 28. April 2025

Leidzufügen und Elterntrost

 


 

Wenn Eltern sich durchsetzen, gibt es oft Leid und Tränen. Ein immer wiederkehrendes Thema auf meinen Vorträgen. In meinem Buch „Kinder sind wunderbar!“ schreibe ich hierzu: *


Dieses Leidzufügen beim Durchsetzen ist für die Eltern schwer zu ertragen. Wo sie doch Freudebringer sein wollen. Aber wenn wir das Leid, das wir bei den Kindern verursachen, schon nicht vermeiden können, so gibt es doch wenigstens einen Trost für uns Eltern. Gefunden bei einem großen Vorbild. Die Vorgänge, die ich gleich erzähle, kennen Sie. Ich übertrage sie in eine ungewohnte Perspektive. 

»Hier nicht, macht das woanders.« Streit an einem Sabbat im Tempel in Jerusalem vor 2000 Jahren. Jesus ist nicht begeistert. Die Händler sollen woanders hingehen. »Lass den Unfug, Jesus«, sagen sie, »wir müssen hier verkaufen. Unsere Souvenirs, Ansichtskarten und Sticker. Wir verdienen damit unser Geld und ernähren so unsere Familien.«

»Die Leute kommen hierher, zum Tempel«, fahren die Händler fort, »da ist viel Publikum, und sie kommen nicht morgen, sondern heute am Sabbat.« »Das ist ein heiliger Ort und ein heiliger Tag«, sagt Jesus nachdrücklich. »Ja, für Dich, Jesus, aber wir müssen hier unsere Geschäfte machen, Geldwechseln und so weiter. Jetzt geh weg, Du machst die Kunden verrückt, Du nervst.«

Jesus wird ärgerlich. Er hat freundlich mit ihnen geredet, aber das bringt nichts, die Geldwechsler sehen es nicht ein. Die Geldwechsler könnten ja auch gut finden, was Jesus sagt. Könnten! Tun sie aber nicht. Die Kinder könnten ja auch gut finden, was die Eltern sagen. Könnten! Tun sie aber nicht.

Jesus’ Ärger macht ihn lauter, er schreit die Händler und Geldwechsler an. Die sind entsetzt. Alle Leute sind verschreckt und ziehen sich zurück. Nichts geht mehr, kein Anhänger wird mehr verkauft, kein Geld mehr gewechselt.

Aber die Händler geben nicht auf, sie drängen ihn zurück. Da wird Jesus wütend, er greift nach einer Peitsche, schmeißt ihre Verkaufstische um und drischt auf sie ein. Er verursacht ein riesiges Getümmel – durch ihn entsteht Leid.

Jesus ist für viele Trost und Erlösung. Wie jeder von uns hat er aber auch seine Werte und Grenzen. Zu denen er steht und die er so gut es geht auch durchsetzt. Dabei entsteht durchaus Leid – wie bei den Eltern, wenn sie sich den Kindern gegenüber durchsetzen.

Jesus hat wie alle Kinder auch seine Eltern aufgeregt. Als er zwölf war, haben ihn seine Eltern einmal lange gesucht, er war drei Tage weg. Schließlich fanden sie ihn, und seine Mutter stellte ihn zur Rede:

»Kind, wie konntest Du uns das antun? Dein Vater und ich haben Dich voll Angst gesucht!« (So steht es in der Bibel.) Jesus bekam nicht mit, welches Leid er verursacht hatte. Drei Tage lang hatte er die Eltern versetzt, so vertieft war er in die Diskussionen im Tempel.

Er fragte nur aus seinem Kinderkosmos heraus: »Warum habt Ihr mich gesucht? Wusstet Ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?« Aber »sie verstanden das Wort nicht, das er zu Ihnen sagte«. Kinderkosmos eben. Marias und Josephs Schmerz und ihr Leid der letzten drei Tage wird das nicht gemildert haben, auch wenn Maria »alle diese Wort in ihrem Herzen behielt«.

Und wenn Jesus das passiert ist, wenn auch von ihm Leid ausging, von diesem Garanten und Symbol der Liebe und des Friedens, »dann«, sage ich den Eltern, »seid nicht so besorgt, wenn auch von Euch Leid ausgeht.«



* H.v.S., Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen, Münster 2023, S. 118 ff.


 

Montag, 21. April 2025

Aber mit ihrem eigenen Kopf

 


"Es ist doch gut, wenn man alles erklärt. Immer wieder. Das hab ich von Anfang an gemacht. Aber jetzt sind die Zwillinge in der Schule und wollen endlos diskutieren. Ich bin oft an meiner Grenze. Manchmal schaue ich nachdenklich zu anderen Eltern und werde neidisch. Die ordnen einfach an: Ab in die Wanne! Das klappt dann auch. Bei mir gibts da endlose Diskussionen. Aber das ist doch richtig. Was meinen Sie?

Mit diesem ausuferndem Eingehen auf die Kinder habe ich nichts im Sinn. Mit Diskussionen schon. Aber im Rahmen. Den setze ich. Die Wanne muss eben sein. Wie zig andere Sachen auch. Sie muss sein, weil ich das so will. Weil ich das richtig finde. Weil ich nicht der Dackel meiner Kinder bin.

Die Kinder sind schon die Gelackmeierten. Klarer Fall. Sie wollen keine Wanne, aber ich. Ich versuche, sie mitzunehmen, achtsam mit ihren Wünschen umzugehen, wie das heute so schön heißt. Aber eben im Rahmen, in meinem Rahmen. Und ich habe die Macht: die Wanne gehört mir, und die Kinder – auch. Nicht wirklich, schon klar. "Also rein mit Euch!" Pronto!

Diese ganze Verschleierungssalbaderei der modernen Pädagogik und der sensiblen neuen Eltern: Das rauscht doch gnadenlos an der Realität vorbei. Und das ist auch einfach extrem anstrengend. Die Mutter wird neidisch. Welcher Lehre ist sie da aufgesessen? So einer Mischung aus achtsam, antiautoritär, seelenheilkundig. Na ja, solche Eltern gibt es zuhauf. Aber diese Mutter fragt mich ja, sie ist am Limit, sie sucht Hilfe. Was kann ich ihr geben?

Ich halte ihr nicht meine Position unter die Nase. Das ist ja Feindbild und geht nicht für sie. Ein "Ab in die Wanne!" ist nicht ihre Welt. Ich versuche lieber, ihr einen versöhnlichen Gedanken zu zeigen, einen, der sie mit sich selbst in Frieden bringt.

Ich sage zu ihr: Sie sind halt eine Erklärerin. Solche Eltern gibt es. Bei jeder Elternart gibt es Leichtes und Schweres. Es gibt nicht eine Art, die immer nur Lächeln und Folgsamkeit erreicht. Es gibt die Gegensätze - Wanne ja / Wanne nein - , und es gibt verschiedene Arten, damit umzugehen. Man kann im Elternklub der Diskutierer sein ("Schau mal ..."), oder der Anordner ("Rein da!"), oder der Nachgeber ("Ok, heute keine Wanne"), oder der Schlaumeier (So wie die heute drauf sind, wird geduscht), oder der Abgeber ("Mach Du das mit den Kindern"). Und so weiter.

Sie wissen ja, wo Sie da unterwegs sind. Also. Dann diskutieren Sie. Auch endlos. Und stopfen die Kinder schließlich auch gegen deren Willen ins Wasser. Und jetzt kommt das, was ich Ihnen sagen will: Dabei müssen Sie absolut kein schlechtes Gewissen haben. Sie tun doch, was Sie können. Sie erhalten aber keine Zustimmung zu Ihren Argumenten. So ist es. Aber: Sie wollen doch den eigenen Kopf Ihrer Kinder. Den haben Sie bekommen. Der sagt zwar Nein zu Ihrem Begehren. Aber: Er ist da. Ihre Kinder steigen mit ihrem eigenen Kopf ins Wasser. Unzufrieden, gezwungen, wütend - aber mit ihrem eigenen Kopf. 

 

aus:

H.v.S., Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen, Münster 2023, S. 157 ff. 

 

Montag, 14. April 2025

... und der Baum sieht glücklich aus.

 


Der Kletterbaum ist eine alte Eiche mit wunderschönen Kletterästen. Für große und für kleine Kinder. Ylvi ist 4, wir kommen zum Kletterbaum. Der Stamm ist für das Kind zu mächtig, die Äste sind unerreichbar. „Ich komm nicht dran.“ Ich bekomme das mit, bin aber im Gespräch mit ihrer Mutter Anna Maria. Auch sie bekommt das mit, ist aber im Gespräch mit mir. Ylvis Tonlage ist deutlich. Sie will nicht den Baum, denke ich, sie will Kletter-Event. Meine Wahrnehmung. In Resonanz mit ihren Tönen aus dem Anspruchsland.

Wir Erwachsene sehen uns kurz an und setzen unser Gespräch fort. Ylvi hängt irgendwie am Stamm fest, kein Ast erreichbar, zufrieden sieht sie nicht aus. Sollen wir uns nicht doch kümmern? Oder sollen wir sie ihre Erfahrungen selbst machen lassen? Also uns raushalten, damit sie ihre eigenen Möglichkeiten, Wege, Umwege, Unwege, Dochwege kennenlernt? Damit sie lernt, überhaupt? Mir sind derartige Überlegungen zum Besten der Kinder bekannt, nur zu gut bekannt. Die Situation ist für so eine pädagogische entwicklungsfördernde Aktion geradezu klassisch. Raushalten zum Besten des Kindes. Aber ich bin da ganz woanders.

Ich nehme sie und mich jenseits ihrer Töne und jenseits dieser Förderüberlegungen wahr. Ich bin hier draußen am Baum, Anna Maria ist hier draußen am Baum, Ylvi ist hier draußen am Baum. Jeder tut seine Dinge. Die Großen spielen das Leben: diesmal reden, das Kind spielt das Leben: diesmal kletterbaumen. Lassen wir Ylvi im Stich? Geben wir Ylvi die Chance? Sind wir gemein? Sind wir hilfreich?

 Was will ich wirklich?“ führt in amicatives Land. Und ich merke, dass es mir jetzt gerade nicht recht ist, aus dem Gespräch mit ihrer Mutter auszusteigen. Einmal zum Ast heben reicht ja nicht, das wird noch ein Ast, viele Äste und das Gespräch ist vorbei. Will ich nicht. Ich will noch nicht einmal etwas sagen, ich will eigentlich nicht einmal dahindenken. Jetzt gerade nicht. Nachher kann das anders sein, aber jetzt nicht. Ich schaffe es, bei mir zu bleiben und nach dem Aufnehmen von Ylvis Botschaft und dem kurzen Blicktausch mit Anna Maria weiter in meine Gedankenwelt und unsere Unterhaltungswelt zu wandern. Ich bin stark und standhaft, dieser mächtigen Kindesforderung ein freundliches wortloses unpädagogisches authentisches Nein zu schenken.

Da Ylvis Mutter auch in der amicativen Welt lebt und gerade wie ich unterwegs ist, schwingt unser beider Nein zu den Kind. Ohne jedes Wort. Sicher weiß Ylvi, dass wir sie gehört haben. Sie wird sich ihre eigenen Gedanken dazu machen. Macht sie auch: sie fängt an, sich mit dem Unmöglichen zu beschäftigen. Die Rinde lässt sich klammern, der erste Ast kommt ins Greifbare. Schon ist sie hoch, Ast sieben. Da sitzt sie und schaut umher. Sie lacht, und der Baum sieht glücklich aus.

Als Ylvi beim Runterklettern festhängt, kommt ein Angstton. Beiläufig hebt Anna Maria sie nach unten. Ylvi geht zur Bank, auf der wir sitzen, und kuschelt sich an ihre Mutter. Sie schaut zum Zitronenfalter und fliegt mit ihm in seine, ihre, unsere Welt.

 

Montag, 7. April 2025

Kinderland

 

 

Meine Enkeltochter Klara frage mich, was ich beim „Herausfinden, was Kinder sind“ denn so gemacht habe. Ich erzählte es ihr. Mein Dissertationsprojekt über amicative (postpädagogische) Kommunikation mit Kindern war praxisbezogen. Hier sind sechs kleine Erlebnisszenen von Tausenden.*

*

Es hat geregnet, die Wiesen und der Wald sind feucht. „Wer kommt mit spazieren?“ Moni (11) hat Lust. Wir ziehen durch den Wald. Ich lasse mir von ihr zeigen, wie sie dies alles erlebt. Sie führt mich durch den Wald und zu den Blumen. Und sie führt mich zu einer Art des Erlebens zurück, die bei mir in Vergessenheit geriet. Wir überqueren einen Bach, und es ist, als betrete ich verlorenes Land. Die Blume, die wir von dort mitbringen, wächst wieder in mir.

*

Melanie (3) will Rad fahren. Sie hat ein Rad mit Stützrädern. Ich soll sie schieben. Ich fasse in die Mitte des Lenkers und tue es. Wir wandern so eine Dreiviertelstunde. Durch die Straßen bis zum Feld. Sie kennt sich aus. Sie sagt mir, wo es langgehen soll. Ich staune, dass sie so gut Bescheid weiß.

Ich mache eine Entdeckung. Sie will meine Schiebekraft, nicht meine Führung. Ich soll nicht lenken beim Schieben. Ich soll nur schieben. Immer wieder ertappe ich mich, dass ich drauf und dran bin, beim Schieben auch zu lenken. Zehn Zentimeter vor dem Gitter dreht sie den Lenker, und ich hatte mich schon zum Stoppen bereit gemacht.

Einmal kriegt sie die Kurve nicht hin. Ich sah es kommen und habe es geschafft, nicht einzugreifen. Sie sieht mich an - tja, Rückwärtsgang!

 *

Jessica (8) war ein paar Tage bei ihrer Tante in den Ferien. In dieser Zeit habe ich am Buch gearbeitet und auch etwas Aktuelles über ihre Schwester Diana (5) geschrieben. Als ich Jessica erzähle, dass Diana im Buch vorkommen wird, merke ich, dass sie auch gern vorkäme. „Leider warst Du nicht da“, sage ich.

Als sie nach Hause geht, denke ich nach. Jessica wäre auch gern im Buch. Warum nicht? Wo ist da das Problem? Ich kann doch tun, was ich will. Und ich kann mit Jessica so spielen, wie wir das wollen. Sie hat einen Wunsch, und ich kann ihn erfüllen. Ich nehme ein Beispiel aus dem Text und schreibe dies hier. Morgen werde ich sie damit überraschen.

*

Die Zwillinge Yvonne (7) und Karina (7) hatte ich auf dem Geburtstag von Meike (8) kennengelernt. Eine Woche später bin ich bei Freunden und sehe sie wieder. Nachbarskinder. Ich repariere an meinem Auto rum. Sie kommen und helfen Rost abzuschmirgeln. Es ist schönes Wetter. „Wenn Ihr Lust habt, fahren wir ein bisschen raus“, schlage ich vor. Sie haben Lust, und ruckzuck fahren wir los. Ich sage meinen Freunden Bescheid.

Wir fahren zum Kanal und sehen den Schiffen zu. Ringsum sind Wiesen. Es ist warm und wunderschön. Sie erzählen von wichtigen Dingen und ich habe Zeit zum Zuhören. Sie werfen Steine ins Wasser, sammeln Blumen, malen Bilder in den Sand. Wir haben uns getroffen und sind losgefahren.

*

Tanja (3) wohnt ein Stockwerk unter uns. Wir sehen uns gelegentlich. Heute ist sie nach oben gekommen und hat geklingelt. Ich mache auf. Sie hat einen Ball mitgebracht. Ich knie mich hin und sehe sie durch die Wohnungstür draußen im Treppenflur. Wir sehen uns an. „Hallo“, sage ich. Sie lacht. Sie kommt auf mich zu, bis zur Tür, und gibt mir den Ball. Ich rolle ihn ihr zu. Sie freut sich riesig, und wir spielen eine Viertelstunde. Dann wird sie gerufen und geht zurück.

*

Heike (4) kommt zu mir auf den kleinen Berg, der von den Bauarbeiten noch da ist. Ich sitze dort in den Blumen und spiele Mundharmonika vor mich hin. Es ist Fete, Freunde haben mich eingeladen. Als es mir mal zu viel wird und ich einen Moment Ruhe brauche, gehe ich ein Stück abseits auf den Erdhügel.

Ich freue mich über Heikes Besuch. Sie setzt sich einfach neben mich und hört zu. Dann kramt sie im Sand. Ich mache sie auf Scherben aufmerksam und merke, dass sie es nicht als Verbot auffasst.

Später, als ich wieder bei den Erwachsenen bin, soll ich mal mitkommen. Aufs Feld. Sie zeigt mir einen wild bewachsenen Tümpel. Ich fühle mich geehrt. Auf dem Rückweg frage ich sie, ob sie mich führt, wenn ich die Augen zumache. Sie versteht und tut es. Ich spüre, wie ich ihr Schritt für Schritt mehr vertraue.

Als mir einmal ein Ast durchs Gesicht streift, fällt mir ein, dass sie ja so viel kleiner ist als ich. „Sieh mal ab und zu nach oben, damit ich mit dem Kopf nicht irgendwo anstoße“, sage ich. Als ich nach Hause muss, schenke ich ihr die Mundharmonika.


* aus meinem Buch „Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen“, Münster 2023,  S. 235, 242, 247 f.

 



 

Montag, 31. März 2025

verschwinden tausend und tausend unterschiede

 

 




wenn wir uns
als die personen
sein lassen können
die wir sein mögen
dann verschwinden
tausend und tausend
unterschiede
 
 
 
H.v.S., zauberpfade, Münster 2001, S.107

 

Montag, 24. März 2025

Wir leben in einer schultraumatisierten Gesellschaft

 


Schule – ein wirklich weites Feld. In der Schule passiert viel Gutes. Und in der Schule passiert viel Schlechtes: Es gibt so etwas wie Schuldemoralisierung und das Schultrauma. Ich sage: Wir leben in einer schultraumatisierten Gesellschaft. Darüber habe ich einmal ein Bild gemalt.* (Vor langer Zeit – und deswegen kommt nicht "Indigene" vor, sondern "Indianer".)

*

New Mexico, im Sommer. Sie machen Ferien in Amerika. Und da Sie sich schon immer für die indianische Kultur interessiert haben, besuchen Sie die Navajos in der Four-Corners-Region und halten sich nun schon drei Wochen bei ihnen auf, in der Reservation am Mount Taylor. Sie haben viel gesehen und unternommen und neue Freunde gewonnen.

Eines Tages fragt Sie Ihr indianischer Freund Tatanga, ob Sie sich nicht einmal das Museum anschauen wollen. „Ihr habt ein Museum? Klar, das interessiert mich!“ Sie sind gespannt und erwarten neue Einblicke in die Lebenswelt der Indianer.

Nach einer Weile Fahrt durch die faszinierende Landschaft kommen Sie zu einem schlichten Holzhaus. Es ist schon älter, wirkt aber gepflegt. Niemand ist da, der Sie und Ihren Freund begrüßt, aber die Tür ist offen, und Sie gehen hinein. Der Raum, den Sie zunächst betreten, sieht wie das Klassenzimmer einer Schule aus. Bänke, Stühle, eine Tafel, einige Bücher. Wahrscheinlich werden hier Vorträge zur Geschichte der Indianer gehalten. Nach einem kurzen Blick in die Runde wollen Sie den Raum verlassen, denn es gibt nichts besonderes zu sehen.

Aber Tatanga macht keine Anstalten hinauszugehen. Er steht mit ernstem Gesicht in der Nähe der Tafel und sieht aus dem Fenster. „Lass uns hier weggehen, das ist doch nur der Raum für Vorträge. Wo sind die Exponate?“, sagen Sie. Doch Ihr Freund verzieht keine Miene und rührt sich nicht. „Was ist los?“, fragen Sie. „Wir sind im Museum“, sagt er. „Na klar“, antworten Sie, „aber hier ist doch nichts. Zeig mir die richtigen Räume.“

Tatanga dreht sich zu Ihnen um und sieht Sie voll an. „Du bist im Museum. Es ist hier, dieses Haus, auch dieser Raum. Unser Museum ist eine Schule.“ „Wieso – eine Schule?“ Sie sind enttäuscht. Was ist an einer Schule interessant? Ihr Gesicht spiegelt Unverständnis. Tatanga lächelt. „Ich weiß, dass Du jetzt enttäuscht bist. Aber dies hier ist wirklich unser Museum. Weißt Du, in diesem Haus wurden die Eltern meiner Großeltern, meine Großeltern und auch noch meine Eltern unterrichtet. Von weißen Missionaren und Lehrern. Sie sollten 'zivilisiert' werden. Mit Eurer Kultur. Mit Eurer Denkweise. Sie mussten Eure Buchstaben lernen. Eure Art, die Welt zu sehen. Ihre kulturelle Identität - ihre Persönlichkeit ...“ Er schweigt, und dann sagt er leise: „Zumindest haben sie es versucht.“

Sie stürzen in einen Strudel voller Gefühle. Ihr abstraktes Wissen vom kulturellen Imperialismus der Weißen wird hier konkret, an diesem Ort: Hier, in diesem Raum fand das alles statt. Die Präsenz dieser Ungeheuerlichkeit nimmt Ihnen den Atem. Empörung, Wut, Hilflosigkeit und tiefe Scham branden auf. Sie fühlen das Leid, das Entsetzen, die Ohnmacht dieser Menschen. Sie hören die Kommandos der Lehrer, das unbeugsame leise und laute Nein der Kinder, die verzweifelten Schreie der Mütter, denen die Kinder von den Soldaten aus den Zelten gerissen werden, und Sie spüren den unendlichen Zorn und die bodenlose Hilflosigkeit der Väter. Sie sehen den Kampf dort und das Niederringen der Seelen hier.

Die Brutalität und Demoralisierung dieser „Zivilisierung“ springen Sie an. Wie in Trance starren Sie in den Raum, und als Sie endlich zu Tatanga sehen, ist er nicht da. Sie verlassen das Museum, dieses Mahnmal gegen die Unmenschlichkeit, setzen sich unter einen Baum und überlassen sich erschöpft Ihren Gefühlen. Und Sie verstehen.

Als Sie Welten später aufblicken, sehen Sie die stolzen Indianerkinder von damals vor sich stehen. Sie schauen sich an. Und auf einmal verstehen Sie wirklich: „Das stolze lndianerkind – das bin ja ich!“ Tränen schießen Ihnen in die Augen. „Auch ich wurde in ein solches Haus geschafft. Auch vor mir stand ein Lehrer. Auch ich wurde gebeugt und gebeugt und gebeugt. Subjekt, Prädikat, Objekt. (a + b) x (a + b). Schule. Jeden Tag.“ Und Sie halten sich selbst fest. Ganz fest.


* H.v.S., Schule mit menschlichem Antlitz, 2001, S. 78 ff.


 

Montag, 17. März 2025

Dann höre ich auf nachzudenken



Es ist Nacht. Ich bin draußen, in den Feldern. Ich liege auf meiner Isomatte und bin warm angezogen. Ich habe ein Kissen unter dem Kopf und sehe. Das Nachtdunkel, und darin die Sterne. Lichter, Punkte, größere, kleinere. Einige erkenne ich wieder, Orion, Plejaden, Wagen, Himmels-W. Jupiter ist nicht zu verfehlen. Halbmond. Von den Lichtpunkten über mir weiß ich, dass darunter unzählige Galaxien sind, die ich nur als Punkt wahrnehme. Milchstraßen, mit Übermillionen Sternen. Und dass es Übermillionen Milchstraßen gibt. Dann höre ich auf nachzudenken.

Ich lasse mich fallen in diese Dunkelheit mit den Lichtern. Wer bin ich – wer seid ihr? Was passiert in mir? Es ist eine grandiose Harmonie, die ich wahrnehme. Ich komme mehr und mehr zu mir. Meine Nähe zu mir ist meine Nähe zum Universum. Meine Nähe zu mir kommt als Selbstliebe daher, meine Nähe zum Universum als Vertrauen und Vertrautheit. Ich bin mit all diesem in Beziehung, Verbindung, Resonanz.

Es muß sich nichts ändern. Es kann sich alles ändern. Und es ändert sich ja auch immer wieder. Sterne vergehen und entstehen. Meine Wege lösen sich auf und beginnen neu. Meine Winzigkeit hier unten ist mein Universum, und ich nehme die Zuversicht der Sternenwelt gegen meine Verzagtheiten. Wo der Klang der Großen Liebe aus den unendlichen Tiefen des Kosmos meine Selbstliebe zum Schwingen bringt.

 

Montag, 10. März 2025

70 mal Amication


 

Was ist Amication? Wie wird man ein amicativer Mensch? Wie kommen amicativ aufwachsende Kinder mit der Welt zurecht? Was bedeutet Amication für die Partnerschaft? Wie sieht eine amicative Schule aus? Gibt es Vorläufer der Amication? Worin liegt der Gewinn der Amication? Wie steht Amication zur Gewalt? Ist Amication egoistisch? Woher nehmen amicative Menschen ihre Sicherheit? Ist Amication nur etwas für Privilegierte? Wem dient Amication? Welche Quellen hat Amication? Was ist für Amication Wahrheit? Wie sieht die amicative Gesellschaft aus? Können amicative Menschen Fehler machen? Wie lernt man Amication? Wer sagt, was Amication ist? Gibt es keinen Hass mehr in der Amication? Gibt es in der Amication Werte? Ist Amication autoritär? Wieso ist Amication keine Erziehung? Gibt es konkrete Auswirkungen amicativer Kommunikation? Wie merken die Kinder die amicative Einstellung? Was sind die Eckdaten amicativer Ethik? Hat es Korrekturen innerhalb der Amication gegeben? Gibt es Essentials für die Amication? Sind die Aussagen der Amication Ziele? Lassen sich die Aussagen der Amication hier und heute realisieren? Was muss man mitbringen, um amicativ leben zu können? Wie kann man Amication gut erklären? Wieso kommen nicht mehr Menschen auf amicative Gedanken? Welchen Einfluss hat Amication auf die Selbstliebe des Kindes? Welche gesellschaftlichen Auswirkungen hat die amicative Sicht? Gibt es neue Entwicklungen in der Amication? Gilt Amication schon bei Säuglingen? Wie würden amicative humanwissenschaftliche Institute der Universitäten aussehen? Welche gesellschaftliche Utopie entwirft Amication? Benötigt Amication Strafgesetze? Gibt es in anderen Kulturen amicatives Gedankengut? Gibt es im abendländischen Kulturkreis amicative Nischen? Was sagt Amication zu Krankheiten? Zu Krebs? Zu Aids? Welche Einstellung hat Amication zum Tod? Welchen Stellenwert hat für Amication der alte Mensch? Welche Bedeutung haben für amicative Menschen Verabredungen und Treue? Demut und Dienen? Warum engagieren sich Menschen für die Verbreitung der Amication? Wie lange wird es Amication noch geben? Ab welchem Alter kann man mit Kindern über die amicative Theorie reden? Worin sind die Widerstände gegen Amication begründet? Ruft Amication Ängste hervor? Mit welchen Argumenten kann Amication Andersdenkende überzeugen? Welche Argumente haben Andersdenkende gegen Amication? Muss sich der Erwachsene ändern, um amicativ leben zu können? Wem nutzt die Sicht der Amication, dass der Mensch konstruktiv ist? Wieso gibt es in der Amication keinen wirklichen Gegensatz von Gut und Böse? Haben Kinder ein amicatives Bewusstsein? Welche Fragen sind für amicative Menschen nicht mehr wert, dass über sie nachgedacht wird? Haben gesellschaftliche Faktoren Einfluss auf die amicative Position? Müssen erst gesellschaftliche Strukturen geändert werden, um amicativ leben zu können? Ist Amication ein gesellschaftlicher Faktor? Wird die amicative Erkenntnis bei ihrer Umsetzung in die Praxis verschlissen? Wieso ist Amication eine kulturelle Auswanderung? Welche Macht hat Amication? Kann Amication Ängste befrieden? Was ist amicativer Frieden?

 

Montag, 3. März 2025

Am nächsten Morgen gibt es keine Schimpfe mehr

 


Alltag mit Kindern, Wohnzimmer. „Was machst Du denn da? Wie sieht's denn hier aus? Das glaub ich nicht!“ Kerstin sieht entgeistert zu ihrer Dreijährigen und ist sprachlos. Bis auf das, was gerade ausbrach.

Melanie, mit sich und ihrem Spiel in Harmonie, kniet auf dem Teppich, steht auf. Langsam, sie nimmt die Magie ihrer Königsaura mit nach oben, sie steht und sieht ihre Mutter voll an. Die rechte Hand erhoben, Handfläche nach vorn. Und sanft, klar, majestätisch: „Nicht in diesem Ton.“ Stille. „Mama, nicht in diesem Ton.“

Melanie spricht von innen. „Du könntest doch auch mal sehen, was ich hier geschafft habe.“ Hand und Arm machen einen Bogen. „Das ist der Teppich. Und das ist der Pudding. Und das ist die Autobahn. Zwei Spuren. Langsamspur, Überholspur, Ausfahrt, Einfahrt. Und da ist die Tankstelle.“ Melanie steht königlich da. Kerstin ist gebannt.

Melanie bleibt online: „Okay, ich seh ja, dass Dich das nervt. Schon gut. Ich helf auch, dass es wegkommt. Ich hol den Eimer und den Lappen.“ Melanie macht ein etwas besorgtes Gesicht, Kerstin rührt sich noch immer nicht. „Mama, ich mach's auch nicht nochmal.“ Kleines Nachdenken. „Jedenfalls nicht mit Schoko. Vanille muss ich noch mal sehen.“

Parallelwelt, zeitgleich: „Nicht in diesem Ton.“ Stille. „Mama, nicht in diesem Ton“. Melanie erklärt ruhig, freundlich und geduldig: „Ich weiß ja, dass Du nicht anders kannst. Und ich habe das drei Jahre mitgemacht. Aber jetzt ist es mal gut. Ja, wir leben in einer Schimpfkultur. In der Menschen herabgesetzt werden. Kinder sowieso.

Aber Du könntest ja auch mal sehen, was ich hier geschafft habe. Und was auf meinem Kopf ist: eine Krone. Meine Krone. Würde. Ich bin ein Mensch, mit Würde. Und ich möchte diese Töne nicht mehr. Kannst Du das lassen, einfach weglassen, hinter Dir lassen, ins Museum bringen? Du bist doch selbst mit diesem Tönen groß geworden. War doch auch für Dich nicht schön. Okay, Du lässt sie weg? Das kannst Du.“

Kerstin schießen Tränen in die Augen. Sie fühlt es wieder, diese Herabsetzungswucht ihrer eigenen Kinderzeit. Aus erstarrter Tiefe bricht es auf. „Auch ich wurde so angefaucht.“ Schmerz überwältigt sie. Sie weint heftig. Sie nimmt Melanie in den Arm, kurz.

 Sie muss ihren Tsunami loswerden. Stürzt zum Handy, ruft Irene, ihre beste Freundin an. „Weiß Du, was mir gerade passiert ist?“ Sie erzählt. Und Irene versteht. Auch sie weint. Und telefoniert ins Land. Es gibt eine Telefonlawine. Rund um die Welt. Am nächsten Morgen gibt es keine Schimpfe mehr.







 

Montag, 24. Februar 2025

Beim nächsten Mal bin ich schlauer!

 

 

Wir spielten ein spannendes Schreibspiel, mein Enkel Johann (6) und ich. Es wurde mit 7 Würfeln gewürfelt, dann konnten je nach Symbol und Zahl bunte Kästchen auf einer Karte angekreuzt werden. Das war alles nicht so einfach, es gab bei jedem Wurf wirklich viele Möglichkeiten. Wir waren konzentriert und ins Spiel vertieft.

Dann kam sein Bruder Yann (9) vom Fußball nach Hause. Er setze sich neben uns. Ich sah es kommen: er würde sich mit seiner Übersicht und seinem Know-how einmischen. Was er auch tat, und natürlich waren seine Ratschläge richtig. Und natürlich störte uns das, wir beide hatten unsere eigenen Spielzüge im Kopf.

„Du kannst zusehen, aber halt die Klappe. Wir wollen alleine spielen“, war dann auch meine Ansage. Das ging eine halbe Minute gut, dann kam der nächste Tipp. „Halt die Klappe!“. Das half wieder nur eine halbe Minute. „Geh woanders spielen!“ – ich wollte, dass er aus dem Zimmer ging und uns unser Spiel machen ließ. Als er nach fünf Unterbrechungen einfach nicht aufhörte, schleppte ihn sein Vater unter Protest aus dem Raum.

Die gute Stimmung war dahin, wir haben dann auch rasch aufgehört. Abends kam ich ins Nachdenken. Yann sollte Respekt haben vor unserem Wunsch, allein zu spielen, ohne ihn zu spielen. Er sollte respektieren, dass seine Expertise nicht erwünscht war, dass er (so) jetzt nicht erwünscht war. Und das war zu viel für ihn. „Aber das muss er doch einsehen, dass er uns in Ruhe lassen soll.“ Sah er aber nicht ein.

Wie unrealistisch war das denn? Und zwar von mir! Wenn der Regen kommt und ich nicht entsprechend ausgerüstet bin: dann soll er wegbleiben? „Du bist jetzt nicht erwünscht!“ Ja, morgen kann es wieder regnen, ich habe nichts gegen Regen, er ist wichtig und ich schätze ihn. Aber nicht jetzt. Jetzt soll er gehen. Tut er aber nicht. Er sieht es nicht ein, sieht es einfach nicht ein.

Aber ein Kind ist kein Ding wie Regen. Ein Kind ist ein Mensch, und Menschen können etwas einsehen, Respekt und Achtung vor den Wünsche anderer aufbringen. Mein Vergleich passt nicht. Passt nicht?

Wenn ich zu zweit spielen will und ein Dritter kommt dazu – dann kommt er mit allem, was er ist. Und dieses Kind, das dazu kam, war in dieser Situation ein Ich-mach-mit-Kind. Kein Ich-sehe-nur- zu-Kind. Ich habe diese Realität nicht gesehen, nicht geachtet. Was ich ja auch nicht muss. Was ich aber auch kann, könnte. Ich hätte ich den Nachmittagsfrieden herbeizaubern können: „Dann machst Du halt mit“.

Wie immer habe ich es in der Hand, wie mein Weg weitergehen soll. Ich muss ja bei Regen nicht ohne Anorak losgehen. So dumm werde ich nicht sein. Heute war ich so dumm. Das nehme ich mir nicht übel, aber beim nächsten Mal bin ich schlauer. Und wie gut, dass Yann es mir nicht übel nahm!