Im Zusammenhang mit
„Kinder und Grenzen“ wird meist darüber nachgedacht, welche
Grenzen den Kinder gezogen werden sollten. Mit geht es aber jetzt
einmal um die Grenzen, die Kinder (wie alle Menschen) um sich selbst
haben. Wenn Grenzüberschreitungen den Kindern gegenüber passieren,
und wie man das verhindern kann.
Wenn man es merkt, dass
Kinder auch Grenzen haben, ist man schon den ersten Schritt gegangen.
Natürlich haben sie viele Bereiche, wovor ihr Stoppschild steht.
Wenn man jedoch meint, dass Kinder (noch) keine vollwertigen Menschen
sind, sondern erst richtige Menschen werden, kommt man kaum auf die
Idee, ihnen richtige individuell-spezielle Grenzen zuzubilligen. Aber
natürlich: jedes Lebewesen hat seine Grenzen. Allgemeine und
spezielle.
Die allgemeinen Grenzen der Kinder werden
heutzutage ganz gut bedacht: Kinder dürfen nicht in zu dünne Zonen
von Liebe, Achtung, Würde, und äußeren Lebensumständen (Essen,
Kleidung, Wohnen usw.) geraten.
Es geht mir aber um die
speziellen Grenzen: um die Stoppschilder dieses Kindes, dieses
einzelnen Menschen. Jeder hat da andere, manche/viele sind
gemeinsam.
Klaus (5) ist ein Acht-Uhr-Ins-Bett-Geh-Kind: Es
macht keinen Sinn, von ihm zu verlangen, um Sieben ins Bett
zugehen.
Ulrike (3) ist im Gummibärchen-Fan-Club: Es macht keinen
Sinn, von ihr die Herausgabe der Club-Karte zu verlangen.
Moritz
(9) ist ein Ich-Räume-Nicht-Auf-Kind. So geworden im Laufe der
Jahre, bei diesen Eltern, bei dieser Oma. Es macht keinen Sinn,
darauf zu bestehen, dass erst aufgeräumt wird, bevor ...
Monika
(14) raucht, und zwar eine Menge: Ihr das Rauchen zu verbieten macht
keinen Sinn. Doch? Was passiert, wenn sie raucht, weiß sie längst.
Aber sie hat ihre Grenze eben anders gezogen. Zigaretten gehören zu
ihr, zu ihrem Selbstbild. Wie bei ihrer Tante. Und dem Klassenlehrer.
Ihr die Zigaretten zu verbieten, missachtet ihre Grenze: missachtet
sie.
Die Beispiele lassen sich unendlich fortsetzen.
Eine Grenzüberschreitung
ist eine Grenzüberschreitung. Da sollte man sich nichts vormachen.
Unzulässig aus der Sicht des Betroffenen. Aber ich sage nicht, dass
man nun alles hinnehmen soll: Hinnehmen, wie mein Kind zu wenig
Schlaf bekommt (meine Grenze „Er braucht aber 12 Stunden Schlaf“
wird missachtet). Hinnehmen, wie der Süßkram die Zähne kaputtmacht
(meine Grenze „Sie soll gesunde Zähne haben“ wird missachtet),
usw.
Ich will etwas anderes: Wenn einem präsent ist, dass die
Kinder da vor einem auch Grenzen haben, berechtigte Grenzen – dann
wird man etwas einfühlsamer, umgänglicher, stressfreier in dieser
Frage. Ich habe das immer dabei gehabt, dieses Wissen: dass Kinder
vollwertige Grenzen-Menschen sind. Und dass Fingerspitzengefühl
dazugehört, mit ihren Grenzen umzugehen. Wie bei „allen“
Menschen und Lebewesen (ich halte keine Katze gegen ihren Willen
fest, ich hänge mich nicht an einen zu dünnen Ast).
Wenn ich
eine Grenzüberschreitung nicht vermeiden will (ich verstoße gegen
Deine Grenze, damit dies nicht mit mir passiert), dann ohne Lüge.
„Ich weiß, dass ich Deine Grenze missachte. Hier stehe ich und
kann nicht anders.“ Ohne Tricks „Sieh das ein. Es ist besser für
Dich“.
Menschen haben vielfältige Liebenswürdigkeiten oder
Behinderungen (beides ist dasselbe, je nach Perspektive): lila Haare,
Gurken zum Frühstück, krank im Hirn, zu kurzes Bein, Bus statt
Auto, Auto statt Bus.
Es macht keinen Sinn, von jemandem zu
verlangen, er soll sein Bein nachwachsen lassen. Es macht keinen
Sinn, einen Hund zum Unterricht zu schicken, damit er Staubsaugen
lernt. Es macht keinen Sinn, von der Schwerkraft zu verlangen, dass
sie aufhört, damit ich fliegen kann. Realitäten. Kennen wir. Können
wir mit umgehen.
Klaus geht um acht ins Bett. Ulrike isst
Gummibärchen. Moritz räumt nicht auf. Monika raucht. Realitäten.
Kennen wir. Können wir mit umgehen. So einfach ist das.
Was
will ich wirklich? (Die Praxisfrage
der Amication!) Mit diesem Kind leben? „Ja.“ Es ist ein
Acht-Uhr-Ins-Bett-Geh-Kind und kein Sieben-Uhr-Ins-Bett-Geh-Kind. „Es
soll sich ändern.“ Soll sein Bein nachwachsen? „Das ist nicht zu
vergleichen. Niemand muss morgens Gurken essen.“ Wirklich? Wer sagt
das? Vergleicht doch. Was passiert, wenn man vergleicht? Geht die
Welt unter? Was steht auf dem Spiel?
Ich habe immer gemerkt,
dass Krieg oder Frieden auf dem Spiel stehen. Natürlich kann ich in
den Krieg ziehen, und ich habe auch oft gewonnen. Und oft verloren.
Aber: Ich muss nicht in den Krieg ziehen. Nicht für eine Stunde eher
ins Bett, für noch gesündere Zähne, für 30 Minuten Aufräumen,
für körpergesund und dafür seelenkrank.
Ich habe mich
eingependelt im Grenzland, wo die Grenzen aufeinander treffen. Und da
ich über mich bestimme, bin ich auch der Souverän, der die eigenen
Grenzlinien hin- und herschieben kann. Das ist kein Nachgeben! Das
ist Augenzwinkern, Halb-So-Wild, Friede, Harmonie. Es sieht so aus,
als wäre ich großzügig, einfühlsam, tolerant.
Es ist eine andere Quelle:
Ich billige mir alle möglichen Liebenswürdigkeiten zu, ich liebe
meine Macken – und das kann ich auch den anderen lassen. Auch den
Kindern. Ich weiß, wie gut das tut. Ich habe Grenzen, die flexibel
sind. Je nachdem. Und wenn sie hart sind, dann ist es eben so ein
Tag. Wir nehmen uns unsere Grenzen nicht so übel, weil sie keiner
zur heiligen Kuh macht.