Montag, 2. Dezember 2024

Von Negern und Kindern




Vor einigen Jahren las ich in einer Zeitschrift* die Überschrift eines Interviews: „Wir wurden alle rassistisch sozialisiert“, und die Unterzeile endete mit „ – und was ist mit uns ganz persönlich?“ Mir fielen sofort die Zehn kleinen Negerlein, Negerküsse und der Mohrenkopf ein. Aber das kam hier doch wuchtig gesellschaftlich daher:

Diskriminierung gibt es bei Polizei, Justiz und Standesämtern, im Bildungs- oder Freizeitbereich oder auf dem Wohnungsmarkt: Hier brauchen wir uns nichts vorzumachen – das ist auch Alltag hier bei uns in NRW, da muss dringend etwas passieren. Wichtig sind hier nicht nur unabhängige Beschwerdestellen, sondern etwa auch eine rassismussensible Aus- und Weiterbildung von Landesbediensteten oder die Entwicklung von Diversitätskonzepten in der Verwaltung, auf dem Wohnungsmarkt, im Bildungsbereich oder bei Gewerbetreibenden wie Clubs oder Fitnessstudios. Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen: Rassistische Erfahrungen gehören für viele Menschen zum Alltag. Rassismus ist in Deutschland gesellschaftlich tief verankert.“

Beim Stichwort „Bildungsbereich“ hat es bei mir Klick gemacht und ich habe das ganze Szenario übertragen auf „Wir wurden alle adultistisch sozialisiert.“ Ich habe das Wort und den Inhalt „Neger“ auf das Wort und den Inhalt „Kinder“ übertragen. Es sind Menschen – keine Neger. Es sind Menschen – keine Kinder. Es sind People of Color, es sind junge Menschen. Die ganze Diversitätsdebatte zeigt die verschiedensten Ecken und Winkel, Blickwinkel, in denen Menschen auf gleichwertige Beachtung und Behandlung warten. Junge Menschen sind da eine Gruppe von vielen, die nicht aus ihrer eigenen Welt heraus wahrgenommen werden. Sondern aus der Welt und der Sicht und dem Handlungsgeschehen der Anderen, aus den Fremdzuschreibungen der Erwachsenen-Dominanzgesellschaft. Was Adultismus genannt wird und was ich seit 1980 in meinen Publikationen so benannt habe.

Im Forschungsprojekt meiner Doktorarbeit hatte ich mich zu den Jungen Menschen aufgemacht, jenseits adultistischer Positionen und Befindlichkeiten. Ich bin diesen Menschen in ihrer eigenen Weltsicht und ihrer eigenen Identität begegnet und habe mit ihnen so gelebt. Wie ein Weißer das heute mit einem Schwarzen hinbekommen kann, wenn und soweit er sich vom eingeimpften, sozialisierten Rassismus löst, zu lösen beginnt. Wenn er darum weiß und sich auf neue Begegnungspfade begibt.

Ich nehme das Statement von Frau Valdés mal als Vorlage. Mein Interwiew-Statement geht dann so:

Adultistische Diskriminierung gibt es überall, im familiären Bereich, im Bildungs- und Freizeitbereich, bei Polizei, Justiz und Standesämtern oder auf dem Wohnungsmarkt. Hier brauchen wir uns nichts vorzumachen – das ist Alltag, da muss dringend etwas passieren. Wichtig sind hier nicht nur adultismusfreie Fakultäten und Lehrstühle an den Hochschulen und entsprechende Forschungen, sondern auch Adultismus-Beschwerdestellen und Adultismus-Beauftragte in Stadt, Land und Bund. Ebenso brauchen wir eine adultismussensible Aus- und Weiterbildung aller Fachkräfte in Kindergarten, Schule und Verwaltung, eingebettet in die Entwicklung von Diversitätskonzepten im Kommunikations- und Handlungsbereich von erwachsenen und jungen Menschen. Auch wenn wir es nicht wahrhaben – oder nicht wahrhaben können: Adultistische Erfahrungen gehören für junge Menschen zum Alltag. Adultismus ist in Deutschland gesellschaftlich tief verankert.“

Adultismus ist ein strukturelles Problem – aber auch etwas ganz Persönliches.


* Forum, Zeitschrift des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes NRW, Nr. 3/2020, Seite 4

** Carmen Martínez Valdés, Der Paritätische NRW, Fachgruppenleiterin Migration, Frauen, Psychosoziale Beratung und LSBT*, aaO

Montag, 25. November 2024

Amication in zehn Minuten erklären

 

 

Werner habe ich ewig nicht gesehen. Schließlich kommen wir auf die Amication. Ich soll erklären. Aber in zehn Minuten muss er weg. Zehn Minuten, um zu erklären, was Amication ist? 

Ich fange also an:

Ich habe Lehramt studiert. Da ging es auch um Erziehung. Und ich habe gemerkt, dass ich das total falsch fand, jemanden zu erziehen. Das bedeutet doch, dass er, der Mensch vor mir, also das Kind, noch nicht richtig ist. Dass er verbessert werden muss. Und dass ich derjenige bin, der weiß, wo es langgeht.

Zumindest sollte ich das wissen. Das stünde alles in den Büchern und das könnte ich an der Uni lernen. Was Kinder brauchen und wie man dafür sorgt, dass sie sich richtig entwickeln, körperlich und seelisch und geistig und überhaupt. "Ich weiß, was für Dich gut ist" und bei Widerspruch "Ich weiß es besser als Du". Weil Kinder eben unmündig sind und erst vollwertige Menschen werden müssen. Weil sie eben noch nicht für sich verantwortlich sein können.

Und dem bin ich nicht gefolgt. An einer ganz speziellen Stelle bin ich da nicht mitgegangen. Kümmern, sorgen, helfen, trösten, erklären, beistehen, abgrenzen, durchsetzen, nachgeben, "versuch doch mal","gib nicht auf", "nicht so schlimm", "komm mit", "mach doch", "egal", "so nicht", "lass das", "wenn Du willst", "klar doch", "ok"... der ganze Kram: Ja, das ist für mich in Ordnung. Aber den Menschen vor mir als irgendwie unfertig ansehen?

Irgendwie unfertig: Da schwingt etwas mit, was mit mir nicht geht. Einerseits gibt es immer Veränderung, Wachsen, nichts ist wirklich fertig. Andererseits gibt es Unveränderlichkeiten. Festen Grund. Der erst mal gilt. Und eine dieser Unveränderlichkeiten ist für mich, dass Menschen von Anfang an eine innere Souveränität haben, dass sie spüren, was gut für sie ist. Achtung: Ich meine nicht, dass die Kinder dasselbe spüren müssen, was Erwachsene spüren, dass es gut für sie sei. Sie - Kinder wie Erwachsene - haben oft ganz andere Vorstellungen vom "Guten, Richtigen, Angemessenen". Das ist schon klar.

Nur: Mit meiner Sicht vom Richtigen - "an der Wand da ist eine gefährliche Steckdose" - stehe ich nicht über der Kindersicht vom Richtigen - "an der Wand da ist eine interessante Schweineschauze". Klar bin ich von meiner Sicht überzeugt und ich handle auch danach und halte das Kind von der Steckdose fern. Aber ich beanspruche dabei nicht, dass das Kind seine Sicht geringer einstuft als meine Sicht. Ich verlange keine innere Unterwerfung. Auch nicht begründet mit "es ist zu Deinem Besten", "ich habe recht", "das kannst Du noch nicht überblicken", "sieh das ein". Das geht für mich nicht. Und genau das, was da für mich nicht geht, halte ich für das Kernelement der Erziehung, jeder Erziehung. Was immer sonst noch alles bei Erziehung dabei ist.

Natürlich sagt Werner, dass es ohne Erziehung nicht gehe. Und dass die Kinder eben noch nicht wüssten, was für sie gut ist und dass sie das im Laufe ihrer Kindheit lernen müssten. Wo denn mein Problem mit der Erziehung sei?

Na ja, sage ich, ich höre in mir eine sehr deutliche Botschaft der Kinder, irgendwie eine Resonanz aus meiner eigenen Kindheit. Nicht objektiv richtig, aber für mich gültig: "Liebe mich, aber erziehe mich nicht. Nimm Beziehung zu mir auf, aber lass es, mich zu einem richtigen Menschen zu machen, ich bin ein richtiger Mensch. Lass das Erziehen".

Werner muss gehen, er sieht nachdenklich aus. "Du bist da wirklich von überzeugt. Du gehst einen anderen Weg zu den Kindern, einen, den ich nicht kenne. Interessant, gibst Du mir etwas zum Lesen?"

 

Montag, 18. November 2024

Es gibt keine Trotzphase


 

Eine Mutter erzählt, dass es im Kindergarten jetzt "Autonomiephase" heißt statt "Trotzphase". Was soll ich davon halten?

Einerseits ist das ja schon mal was. Der Rappel der Zweijährigen wird nicht mehr ärgerlich abgetan, sondern achtsam begleitet, Fortschritt. Wenn die Erzieherinnen die Kinder mit Autonomieaugen sehen statt mit Trotzaugen, ist das eine gute Sache.

Andererseits kommt es ja darauf an, was dahintersteckt. Alter Wein in neuen Schläuchen? Und da bin ich schon skeptisch. Es gibt so eine subtile liebsäuselnde Art, die Zicken der Kinder zu kontern, die eigentlich noch ekliger ist als ein klarer Ärger über die Trotzbengel. Das geht ja bis ins hohe Alter: "Wir haben unsere Pillchen wieder nicht genommen?!"

Ich will da nicht meckern. Die zeitgemäße Pädagogik bemüht sich um Achtsamkeit. Man kann jemandem das Zäpfchen mit Schmackes oder sanft reintun, sanft ist allemal besser. Nur: Wenn ich gar kein Zäpfchen will? Wem gehört mein Körper, wem gehöre ich? Auf dieser Ebene wird das alles aber nicht verhandelt. Kinder gehören sich nicht selbst, das ist der klare Grundton aller Pädagogik und aller Kindergartenszenarien.

Die Autonomie des Menschen, auch des jungen und jüngsten unter uns, also auch der Zweijährigen, wie sie die Amication wahrnimmt, ist bei "Autonomiephase statt Trotzphase" nicht im Spiel. Es sei denn, den Kindern im Kindergarten steht tatsächlich eine Erzieherin mit amicativem Selbstverständnis gegenüber. Was vorkommt, aber selten ist. Und mir in dem Gespräch mit der Mutter nicht vermittelt wurde.

Wenn die Kinder mit Innehalten und Nachdruck ihre Wege gehen und ihre Dinge tun wollen, dann fällt das für mich nicht aus dem Rahmen. Ihre Souveränität und Autonomie ist von Anfang an da, sie nimmt nur eine neue Form an. Der Säugling ist da anders als der Zweijährige, der wieder anders als der Vieljährige, der wieder anders als der Hundertjährige.

Das Kontinuum der Autonomie- und Souveränitätswahrnehmung, das von ihren (amicativen) Eltern ausgeht und in dem sie groß werden, gibt nichts her, was eine besonderen Beachtung und dann auch Bezeichnung erfordert. Es gibt keine Trotzphase und es gibt auch keine Autonomiephase in einer Familie, deren Eltern ein amicatives Selbstverständnis haben. Ebenso wie es keine "Pubertätsprobleme" gibt.

Es gibt das alles nicht nur als Bezeichnung nicht, sondern diese "Rappel", "Anfälle" und "Ausfälle" kommen einfach nicht vor. Der ganze Umgang löst so etwas nicht aus. Autonomie ist ja von Anfang an immer im Spiel und drückt sich ohne die Komplikationen aus, die es in pädagogisch geprägten Beziehungen gibt, geben muss.

Beziehungen und ihre konkreten Ausprägungen zu sehen, erkennen, einordnen, bewerten und dann auch entsprechend zu bezeichnen - dies geschieht vor dem Hintergrund des Menschenbildes, das wir in uns tragen. Womit ich wieder beim Kontrast von pädagogischen Bild (homo educandus) und nicht pädagogischem Bild (homo jedergehörtsichselbst) angekommen bin.

Ich achte ja ihr Bemühen, ihr Einfühlen, ihr Begleiten. Aber ich übersehe nicht den scharfen Gegensatz. Und so antworte ich freundlich, ohne mich zu verbiegen und ohne zynisch zu werden: "Autonomiephase? Hört sich doch gut an."







 

Montag, 11. November 2024

Armer Sünder oder Ebenbid Gottes

 


Was halte ich von mir? Wie denke ich von mir? Mehr positiv oder eher negativ? Ich meine einmal grundsätzlich gesehen. Armer Sünder oder Ebenbild Gottes? Ich sehe mich ja nun ganz und gar und durch und durch positiv. Und habe keine Ahnung, was sich da alles so an Negativem in mir finden könnte - falls sich da etwas findet! Auf den Vorträgen erzähle ich ja auch davon, dass jeder sich positiv sehen kann, lieben kann, so wie er ist. Nicht muss oder müsste, sondern kann. Es ist eine Einladung. Eine Einladung, sich zu mögen und zu lieben.

Als handfeste kleine Maßnahme sage ich den Teilnehmern gern, dass man sich aus dem Schneewittchenmärchen einen Spruch zurechtlegen kann. „Sie können diesen Satz auf einen kleinen Zettel schreiben und nachher zu Hause mit Tesa auf den Badezimmerspiegel kleben. Und wenn Sie morgen früh müde ins Bad kommen und lesen, was da steht... dann ist das frisch gelogen und trotzdem wahr!“ Die Leute schmunzeln und sie verstehen. Jeder weiß um diesen Satz, der so geht: „Ich bin die/der Schönste im ganzen Land“. So steht es auf dem Zettel geschrieben, frisch gelogen, trotzdem wahr!

In Sachen Selbstliebe begleiten mich schon lange zwei Passagen eines einschlägigen Buches*. Ich lese sie mir immer mal wieder durch, und „es macht etwas mit mir“. Wie immer sind wir ja Herr unserer Belange, die Amication ist da mutig und forsch. Also: Was will ich wirklich? Wer will ich sein? Was will ich von mir denken? Was halte ich von mir? 

Hier nun meine beiden Textstellen, für mich zum Nachsinnen, Innehalten, Bestätigen: Ja, so ist es. Der Autor spricht mich, den Leser, direkt an:

„Liebe, egal was geschieht! In wirklich allem, was sich im Alltag ereignet. Es spielt überhaupt keine Rolle, ob du emotional gerade oben bist oder unten. Ob dir eine Situation passt oder nicht. Ob du glücklich oder unglücklich bist...Egal, was passiert – deine Priorität in jeder Situation ist es, objektlos zu lieben. Du liebst sogar dann, wenn du dich manchmal nicht lieben kannst, nicht (mehr) lieben willst...Manchmal werden Glücksgefühle entstehen, ein anderes Mal wieder bleibst du relativ übelgelaunt, wütend oder frustriert. Dann liebst du dich eben dafür, dass du übelgelaunt, wütend oder frustriert bist.“

Zu etwas, das einem nicht gefällt, sagt er: „Bitte schau (es) dir genau an und liebe (es) so, wie (es) im Augenblick ist. Und wenn dir das schwerfällt, dann liebe dich dafür, dass es dir schwerfällt.“ (Ich habe das für mich auch im Blick auf meine Partnerin übertragen: „Bitte schau sie dir genau an und liebe sie so, wie sie im Augenblick ist. Und wenn dir das schwerfällt, dann liebe dich dafür, dass es dir schwerfällt.“)

Ich übersetze die beiden Passagen für mich so: Wenn ich mich liebe - na prima! Alles gut! Und wenn ich mich nicht leiden kann und die Selbstliebe sonst wo ist: Dann liebe ich mich eben dafür, dass ich mich nicht leiden kann. Es ist stets fester Grund.




* Werner Ablass, Gar nichts tun und alles erreichen, Aachen 2008, S. 29 f. und 223




Montag, 4. November 2024

Gleichwertigkeit fühlen





Das Gefühl für die Gleichwertigkeit von Kindern ist nicht leicht zu erlangen. Es gibt vieles, das man sich klarmachen kann, per Nachdenken. Aber der Ausstieg aus dem Oben-Unten-Gefühl ist schwer. Ich stelle Euch einen Text vor, mit dem Ihr etwas von dem Unrecht fühlen könnt, das in der pädagogischen Sicht von Kindern steckt. Allerdings muss dieser Text auf eine besondere Art gelesen werden.

Lest die zwei Passagen aus dem Buch von Thomas Gordon "Familienkonferenz" erst einmal aufmerksam durch. Die besondere Art, diesen Text zu lesen, erkläre ich danach. Es sind zwei kurze Passagen dieses viel gelesenen Buches (S. 120 und 203):

*

Die Eltern in unseren Kursen begrüßen es sehr, darin unterwiesen zu werden, wie sie kindliches Verhalten modifizieren, das für sie unannehmbar ist. Manche erklären im Kursus: "Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und es an etwas auszuprobieren, das mein Kind zu meinem Ärger seit Monaten getan hat."

Kinder wie Erwachsene behandeln

Die Niederlage-lose Einstellung nach Methode III gibt den Kindern zu verstehen, dass ihre Bedürfnisse den Eltern auch wichtig sind und dass man den Kindern zutrauen kann, als Gegenleistung Rücksicht auf die elterlichen Bedürfnisse zu nehmen. Das heißt, Kinder ebenso zu behandeln, wie wir Freunde oder den Ehepartner behandeln. Diese Methode ist so wohltuend für Kinder, weil sie so gerne das Gefühl haben, dass man ihnen vertraut und sie als Gleichgestellte behandelt. (Methode I behandelt Kinder, als ob sie verantwortungslos sind und nichts im Kopf haben.)

*

Besonders die 2. Textstelle hört sich gut an. Es geht ja darum, Kinder als Gleichgestellte zu behandeln.

Es gibt unzählige Bücher, in denen sich Erwachsene ihre Vorstellungen über den Umgang mit Kindern machen. Wenn sie von der Position "Ich weiß besser als du, was für dich gut ist" geschrieben werden, sind es pädagogische Bücher - solche, die wir ablehnen. Ist dieses Buch von Thomas Gordon ein Buch, das auf unserer Linie liegt?

Wenn Ihr Texte vor einem Hintergrund lest, der Euch als diskriminierend bekannt ist, wo Ihr Oben-Unten sicher fühlen könnt, dann merkt Ihr sofort, was Sache ist. Zum Beispiel Texte, in denen Schwarze herabgestuft oder in denen Frauen verächtlich gemacht werden.

Jetzt lest den Gordon-Text vor einem solchen bekannten Diskriminierungs-Hintergrund, also vor einem Hintergrund, wo Euer Gefühl sofort Sturm laufen wird - weil da jemand nicht ernst genommen wird, nicht als gleichwertig eingestuft wird. Lest ihn vor der Frauen-Problematik.

Ich habe die entsprechenden Worte entsprechend ersetzt: statt "Erwachsene" steht da jetzt "Männer", statt "Kinder" steht da jetzt "Frauen". Lest und lasst es auf Euch wirken:

*

Die Männer in unseren Kursen begrüßen es sehr, darin unterwiesen zu werden, wie sie weibliches Verhalten modifizieren, das für sie unannehmbar ist. Manche erklären im Kursus: "Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen, und es an etwas auszuprobieren, das meine Frau zu meinem Ärger seit Monaten getan hat."

Frauen wie Männer behandeln

Die Niederlage-lose Einstellung nach Methode III gibt den Frauen zu verstehen, dass ihre Bedürfnisse den Männern auch wichtig sind und dass man den Frauen zutrauen kann, als Gegenleistung Rücksicht auf die männlichen Bedürfnisse zu nehmen. Das heißt, Frauen ebenso zu behandeln, wie wir Freunde oder Kollegen behandeln. Diese Methode ist so wohltuend für Frauen, weil sie so gerne das Gefühl haben, dass man ihnen vertraut und sie als Gleichgestellte behandelt. (Methode I behandelt Frauen, als ob sie verantwortungslos sind und nichts im Kopf haben).

*

Ihr merkt sofort, dass so ein Text unmöglich ist. Von der ganzen Art. Als wären Frauen irgendwelche Haustiere, die mit Möhrchen und Methode zu behandeln sind.

Euer Gefühl ist in dieser Problematik einfach weiter entwickelt als in der Kinder-Problematik. Um es ganz klar zu sagen: Selbstverständlich ist der Originaltext von Thomas Gordon ganz genauso diskriminierend. Nicht im Leben würde ich mir als junger Mensch so einen Text gefallen lassen. Bin ich ein Kaninchen, das mit Methode III im (Lauf)Stall zu zähmen ist? Aber nein - der Gordon-Text ist doch so freundlich, so "demokratisch-partnerschaftlich", Kinder sollen doch als Gleichgestellte behandelt werden …

Wenn Gleichwertigkeit von Oben huldvoll gewährt wird, ist dies immer noch Diskriminierung. Gleichwertigkeit aber kommt jedem zu, als Selbstverständlichkeit, als Recht - ganz unabhängig von irgendwelchen großzügigen Gewährungen. "Ich bin gleichwertig - fühl es doch" rufen uns die Kinder zu.

 

aus: H.v.Schoenebeck, Amication - Themensammlung, Schoenebeck Verlag 2003, S. 176 ff.





Montag, 28. Oktober 2024

Diversität ist unteilbar

 

 


Die vielfältigsten Gruppen treten heutzutage auf den Plan und werden beachtet. Erst einmal wird bemerkt, dass es sie überhaupt gibt, und dann wird ihnen Verständnis und Wertschätzung entgegengebracht. Ich reibe mir die Augen, was sich da alles so tummelt – aber klar, jede Gruppe hat ihre Berechtigung, und ich denke ihnen Aufmerksamkeit und Achtung zu. Das heißt „Diversität“.

Ich deklinier das mal durch: Wie denkt und fühlt ein Homosexueller, AfD-Mensch, Samoaner, IS-Kämpfer, Balletttänzer, undundund? Wie ist er unterwegs, wie sieht er die Welt? Wie komme ich mit so jemandem klar und in Kontakt und in guten Kontakt? "Wer bist Du?" Und davor/dagegen/dabei: "Wer bin ich?" Oft und immer wieder: Ich bin da jemand anderer als Du, klarer Unterschied. Aber es verbindet mich mit Dir die Achtung und Wertschätzung.

Ich bin da jemand anderer. Schwule Welt: Ich küsse keinen Mann - wiewohl Du das gern tust. Ich habe Achtung vor Deiner Homo-Welt, auch wenn ich sie nicht teile. Ich küsse Frauen. AfD-Welt: Ich halte Hitler und die Nazizeit für keinen Vogelschiss in der Geschichte – wiewohl Du das so siehst. Ich habe Achtung vor Deiner braunen Welt, auch wenn ich sie nicht teile. Ich verehre Anita Lasker-Wallfisch. Und so weiter.

Es gilt für mich und die anderen Gutmeinenden: niemand steht über dem anderen (egal wie der tickt), jeder hat aus seiner Sicht recht (egal wie schrill das für mich ist). Wobei für mich das auch gilt, auch ich habe aus meiner Sicht recht: Ich rücke von meiner Position nicht ab (ich küsse Frauen, verehre Anita). Und ich setze mich für meine Position ein, auch mit allem Nachdruck, wenn das nötig wird (weise den Schwulen, der mich küssen will, in die Schranken, weise dem AfDler lautstark zurecht). 

Wir lernen grade, die anderen, auch die so ganz anderen, aus ihrer Welt her zu verstehen. Wir lernen Pferde von ihrer Welt aus zu verstehen, ebenso Hunde und Katzen. Dazu gibt es seit 30 Jahren zig Literatur. Neuerdings Bäume. Der andere, auch der und das so ganz andere: wir nähern uns ihm.

Johann, 8 Monate: "Das da ist doch eine Schweineschnauze". "Geh da weg, das ist eine Steckdose". Diversität? Im Kinderzimmer? Es ist doch eigentlich so einfach.

Ist es eben nicht. Kinder werden nicht im guten Hype der überbordenden Diversität wahrgenommen. Sie sind zum Diversitätsspiel des Lebens nicht zugelassen. In Sachen Diversität hat sie niemand auf dem Schirm. Der diverse Respekt, die diverse Achtung, die diverse Wertschätzung vor der Andersartigkeit – fehlt im Kinderzimmer. Wie damals bei den Schwulen und wie heutzutage oft genug bei den AfDlern. 

Mit dem Diversitätsgedanken läßt sich doch etwas anfangen! Ich finde ihn einen guten Ansatz, um den pädagogisch orientierten Erwachsenen etwas von den amicativen Dingen zu erzählen. Vom Ende der Erziehung (in unserem konstruktiven Sinn), vom Überwinden des Adultismus, des Erwachsenen-Chauvinismus, des kulturellen Imperialismus, des pädagogischen Inhumanismus, der Menschenformung, der Missionierung, der Erziehung. Ich trage den Diversitätsgedanken ins Kinderzimmer. 

Da geht doch was... Achtung vor der Schweineschnauzensicht. Diese Sicht teile ich nicht, ich sehe eine Steckdose. Aber ich höre hin und schwinge mich ein. Auf den Schwulen, den AfDler, das Kind. Ich werde da nicht mitmachen (beim Männerkuss, beim Vogelschiss, bei der Schweineschnauze), aber ich setze das nicht herab, ich setze den anderen nicht herab, ich setz Dich nicht herab, muss Dich nicht belehren, nicht missionieren. Ich habe nicht mehr recht als Du... Ich wische nicht Deine Würdekrone vom Kopf. Schwule, AfDler, Kinder - ein jeder hat diese Krone. Diversität ist unteilbar.

Montag, 21. Oktober 2024

Nichts bieten lassen





Neben mir im Kino* unterhalten sich zwei Leute. Die Trailer laufen, sie quatschen. Der Film fängt an, sie quatschen. Vor ihnen dreht sich jemand um und bittet um Ruhe. Sie quatschen weiter. Langsam werde ich unruhig und meine Aufmerksamkeit geht vom Film weg zu den beiden hin.

Ich kann sie ignorieren. Dann ist es heute eben ein Film mit Quasseln nebenan. Aber ich muss sie ja auch nicht ignorieren. Dabei verstehe ich sie schon. Sie sind aus anderen Gründen im Kino als ich. Sie treffen sich hier, reden miteinander, der Film ist Kulisse, den kriegen sie nicht mit. Und: sie fühlen sich wohl.

Aber ich mich nicht. Wenn ich sie bitte, mit dem Reden aufzuhören, wird ihr schönes Kino-Rede-Erlebnis in etwas Unangenehmes umschlagen. Wer hat das schon gerne, beim Reden gestört zu werden, erst recht beim trauten Reden im dunklen Kino. Ich merke, dass ich mich immer mehr gestört fühle. Es wird darauf hinauslaufen: sie oder ich, ich oder sie. Einer von uns wird sich gestört fühlen. Ich mich, wenn sie weiterquatschen. Sie sich, wenn ich sie drauf anspreche.

Ich verderbe nicht gerne jemandem sein Wohlfühlen. Das lässt mich zögern. Aber dann reicht es mir: es ist mein Kinoabend, und mein Wohlfühlen hat jetzt nach 15 Minuten Film mit Gequatsche Vorrang. Also stehe ich auf, gehe die drei leeren Plätze neben mir zu ihnen hin und sage, dass mich ihr Reden stört. Es kommt eine abmeiernde Bemerkung, Richtung: Ich soll mich nicht so haben. Hab mich aber. Ich reagiere: Dann hole ich die Security. No reaction.

Soll ich wirklich den Dienst holen? Und ob der es schafft, dass nebenan Ruhe einkehrt? Ok, mach ich. Raus aus dem Film, aus dem Saal. Unten ist nur die Reinigungsfrau. „Ist keiner vom Security mehr da?“ Ich merke, wie mühsam es ist, mir mein Wohlfühlen zu beschaffen. Soll ich es bleiben lassen? Nach Hause gehen? Das Gequassel doch aushalten? Ich spiel das jetzt ganz hoch: Wer ist für mein Wohlfühlen zuständig? Hier im Kino, und überhaupt im Leben? Schon klar, meine Verantwortung. Ich kanns ja auch bleiben lassen, mich jetzt zu kümmern. Ich kann mich aber auch kümmern. Hier im Kino und überhaupt im Leben.

Hier jetzt will ich es durchziehen. „Kein Security mehr da? Das gibt’s doch nicht!“. Doch, sagt sie, er ist hinten. Sie will ihm Bescheid sagen. Sie macht einen verlässlichen Eindruck. Und ich habe mich bemüht, wenigstens, wenn es nicht klappen sollte. „Saal 9“, sage ich, „letzte Reihe“. „Er wird kommen“, sagt sie.

Zurück im Kino, Treppen rauf im Dunkeln, hinsetzen, auf die Leinwand sehen, nichts mitkriegen vor Angespanntsein von der Aktion grade. Nebenan Gequatsche. Na ja, ich beginne, mich dreinzufügen. „Hab mich ja bemüht.“ Finde in den Film zurück. Mit Quatschen nebenan. Es bleibt mühsam.

Dann kommt er, der Security-Mann. Stattliche Erscheinung, Marke Rauswerfer. Ich steh auf uns sag ihm mein Beschwer. „Geht in Ordnung!“, sagt er. Ich fühl mich verstanden und geachtet. Heilung meiner wunden Kinoseele. Ob er was erreicht? Er redet zwei Minuten mit dem Pärchen nebenan. „Sie können jetzt in Ruhe den Film sehen“, sagt er zu mir. „Sie werden nicht mehr gestört.“ Er geht, ich sitze und lausche, ob sich nebenan was tut. Nein, tut sich nichts. Ich komm runter und fang an, den Film zu genießen. Na also!

Ich weiß schon, dass ich den beiden anderen den Abend versaut habe. Das ist ein echt blödes Gefühl. Aber anders gings nicht, heute nicht. Echt nicht? Hätt nicht gewusst wie anders. Im Film werden grad auch die Bösen ausgeschaltet, das Gute siegt. Ich bin der Gute. So soll es sein. Und so ist es ja auch. Aber trotzdem hätt ich es gern anders gehabt. So, dass der Filmgauner seine Beute behält und niemand zu Schaden kommt. So, dass die beiden Kinogauner neben mir ihr Wohlfühlgequassel ausleben können und ich mich nicht gestört gefühlt hätte. Ja: im nächsten Leben... Ich fahr dann zufrieden nach Hause. Der Film war gut, und ich war es auch.

 

* Das alles passierte in einem anderen Film als im letzten Post "Vertrau mir!".


Montag, 14. Oktober 2024

Vertrau mir!

 



Ich war in einem Hollywood-Liebesfilm, "After Passion" heißt er. Es kam, wie es kommen musste: „Vertrau mir!“, sagt er zu ihr. Aber es gelingt nicht. Sie wird vom Sog des Misstrauens eingefangen, er kommt nicht dagegen an. Ich, Zuschauer, weiß, dass sie daneben liegt und dass er nichts angestellt hat – aber sie folgt dem Pfad des Misstrauens. Die Liebe flieht aus ihrem Gesicht, Großaufnahme, Unglauben, Schreck und Flucht prägen jetzt ihr schönes Antlitz. So ist das Drehbuch des Films – und so ist das Drehbuch des Lebens, oft genug, leider.

Wie viel Vertrauen habe ich parat, in Dich, und generell? Wie viel Vertrauen habe ich in das Leben? In das Vertrauen? Glaube ich an Dich? Glaubst Du an mich? Vertrauen – ein gefährlich Ding. Denn es lauert der Abgrund der Enttäuschung. Will ich mich auf so eine wackelige Geschichte einlassen? Ich leide im Film mit: Sie vertraut ihm zu Beginn ein wenig, dann immer mehr, dann Hingabe pur - und dann der Absturz. Geht ja gar nicht. Also lass ich das mal mit dem Vertrauen. Absturz ist schaurig. Ich halte mir lieber ein Hintertürchen offen. Vertrauen? Lieber nicht, nicht wirklich. Bin gewappnet gegen den Absturz.

So weit so gut. Ich bin aber nicht so jemand. Ich fahre den Vertrauenskurs, weil ich davon so viel in mir habe. Und wenn es gelingt, dann falle ich auch in die Hingabe. Und Vertrauen mit reinem Herzen ist einfach schön.

„Vertraust Du mir?“ ist eine schwierige Angelegenheit. Die Frage bedeutet ja, dass etwas Ungewöhnliches im Busch ist. Was aber das Band der Liebenden nicht zerreißen soll. Wiewohl offenkundig Unmögliches passiert. Mit dem „Vertraust Du mir?“ wird eine Magie wachgerufen, zwischen zwei Menschen. Auf dass das Unmögliche (Schlimme) nicht passiert oder das Unmögliche (Schöne) erst recht passiert. Und wenn ich dann antworte „Ja, ich vertrau Dir“ – das ist echte Zauberei.

Ich kann mein Vertrauen auch zurücknehmen, dem anderen das Vertrauen entziehen. Klar, das geht. Aber dann muss schon Gruseliges passiert sein. Ich bin nicht der Angestellte oder gar Sklave des Vertrauens. Ich behalte das in der Hand, gehöre wie immer mir selbst. Wenn es nicht mehr stimmig ist, dann wird das Vertrauen dünner und kann ganz gehen. Es liegt an mir. Wie immer.

Im Film geht es der Frau so. Sie vertraut nicht mehr. Sie hört ihren Partner nicht mehr, fühlt sein Herz nicht mehr. Sie folgt Bildern und Botschaften, die aus dem Misstrauensland kommen. Und sie leidet schrecklich: weil er sie verraten hat, wie sie meint (und was nicht stimmt, wie ich Zuschauer weiß). Wenn das Vertrauen sich aufzulösen beginnt – da kann man ja doch noch einmal einen Versuch machen! Aber wie lässt sich der Misstrauensgeist wieder in die Flache stopfen, wenn er in uns herumgeistert? Das haben wir nicht mehr in der Hand, das Ding hat uns in der Hand. Da sind Mächte am Werk, denen auch sie nicht gewachsen ist. Die über sie herfallen und sie bestimmen. Drehbuch, klar, aber im Leben geht es auch so. Liegt doch alles an/bei mir? Schnickschnack!

Diese Mächte der Finsternis, die mein Vertrauen in Dich stören und zerstören: Was soll das? Wer denkt sich so etwas aus? Keine Ahnung. Was machen? Auch keine Ahnung. Wie geht es weiter? Schon klar: ohne Dich eben, ohne uns eben. Was bedeutet? Nichts Gutes, Leid und Schmerz. Aussichten? „Die Zeit heilt alle Wunden“. So soll es sein, und so ist es ja auch.

Aber es kommt auch vor, dass die dunklen Kein-Vertrauen-Wolken unversehens von einem Lichtstrahl der Erinnerung durchbrochen werden. Wie war das noch mit dem Vertrauen, damals? Mit uns beiden? „Bis ans Ende aller Zeiten...“ Liebe ist eine so starke Macht. Und zum Schluss des Films geraten die beiden wieder in ihre Magie, er geht auf sie zu und sie lässt ihn das tun. Ihr Vertrauen kommt zurück. Ihr Antlitz wird wieder so schön. Aufgewühlt und glücksberührt fahre ich nach Hause.

 

Montag, 7. Oktober 2024

Das pädagogische Tabu

 


 

Wie kommt es, dass wir uns die Frage nach der Selbstverantwortung des Kindes nicht stellen? Die einfachste Antwort darauf ist, dass es eben eine völlig sinnlose Frage ist. Denn da Kinder nicht Verantwortung für sich übernehmen können, braucht man auch nicht danach zu fragen. Ja, eine Frage danach wäre ein unsinniger Gedanke, so, wie wenn man etwas sieht, das gar nicht existiert.

Diese Antwort wird uns von dem traditionellen Umgang mit Kindern gegeben und von der zugehörigen Wissenschaft, der Pädagogik. Es ist so, dass sich diese Lehre vom Umgang mit Kindern auf Sätzen wie diesen aufbaut: „Kinder können nicht wissen, was für sie gut ist.“ „Kinder können keine Verantwortung für sich übernehmen.“ „Erwachsene tragen für Kinder die Verantwortung.“ Man schiebt dann ein „noch“ ein: Die Kinder können es noch nicht. Erst, wenn sie gelernt haben, selbstverantwortlich zu sein, erst wenn sie reif genug und erwachsen sind, werden sie selbstverantwortliche Menschen sein können.

Die traditionelle Haltung ist von einem Tabu geprägt: „Erkenne nicht die Fähigkeit des jungen Menschen, Verantwortung für sich übernehmen zu können.“ Es ist wie mit einem Bann belegt, dies zu bemerken und darüber nachzudenken. Wie entstand das pädagogische Tabu? Wie konnte es geschehen, dass den Erwachsenen die Selbstverantwortungsfähigkeit des jungen Menschen in Vergessenheit geriet?

Nun, der Umgang mit Kindern ist tief in einer Haltung verwurzelt, in der Menschen sich berechtigt fühlen, über andere Menschen Herrschaft auszuüben. Die Position, die Kindern die eigene Verantwortung abspricht und stattdessen Erwachsenen die Verantwortung zuspricht kommt aus dieser Herrschaftstradition, aus dem jahrtausendealten Patriarchat.

Wenn man andere unterwerfen will, dann ist es die sicherste Methode, wenn diese selbst daran glauben, dass es für sie richtig ist, beherrscht zu werden. Und genau so wird mit uns verfahren. Als Kinder bekommen wir unser ganzes Kinderleben lang gezeigt, dass es unumgänglich ist, wenn andere – Erwachsene – uns führen, über uns bestimmen, sich für uns verantwortlich fühlen, uns die Verantwortung abnehmen. „Zu unserem eigenen Besten.“

Das pädagogische Tabu wird von den Erwachsenen nicht gespürt, die ein erzieherisches Selbstverständnis und einen pädagogischen Anspruch haben. Sie sind erfüllt von dem „Ich weiß, was für Kinder gut ist“, sie fühlen sich für die Kinder verantwortlich und bestimmen über sie „zu ihrem Besten“. Sie verstehen deswegen zunächst nicht, wovon die Rede ist, wenn man die Selbstverantwortung des Kindes ins Gespräch bringt.

Es gibt dann entrüstete Proteste. Wie stets, wenn man an ein Tabu rührt. „Sie wollen damit doch nur provozieren, auf Kosten der Kinder.“ Diese Erwachsenen haben ihr Zusammenleben mit Kindern an diesem Tabu ausgerichtet, und sie fühlen sich tatsächlich verantwortlich für Kinder. Lassen sie sich dennoch gewinnen? Gewinnen womit? Enttabuisierung ist ein schmerzlicher Prozess. Man muss ja etwas aufgeben, was bisher unverrückbar zum Selbstverständnis und Weltbild gehört. Es stürzt etwas ein – wie wird das Neue sein? Es muss eine sinnvolle und befriedigende Alternative geben.




 

Montag, 30. September 2024

Amication und Glück




Kann man mit Amication glücklich werden? Ist Amication eine Garantie für Glück? Jemand, der die amicative Lebensführung gutheißt, kann durchaus Erwartungen in diese Richtung haben. Dass das Leben jetzt leichter wird, dass alles besser klappt, dass eben allgemein mehr Glück stattfindet.

Durch die Amication verschwinden nun tatsächlich viele Belastungen. Man glaubt wieder an sich und an seinen Wert und daran, dass man niemals wirklich Fehler machen kann. Und erkennt seine letztlich eben doch vorhandene Konstruktivität. Man sieht die Kinder mit diesen anderen – amicativen – Augen: Dass sie ihre eigene Innere Welt haben, die man grundlegend achtet. Man erkennt ihre Würde und Einmaligkeit. 

Das alles befreit und bringt Leichtigkeit und Lächeln, als verfügbare Grundstimmung. So etwas wird bewusst, wenn man andere Familien mit dem traditionellen Umgang erlebt oder wenn man sich an alte Zeiten vor der amicativen Wegmarke erinnert. Also: Da ist durchaus Glück.

Aber dieses Glück ist kein Donnerschlag wie die große Liebe oder der Ausbruch des Weltfriedens. Nichts gegen die großen Glücksdonner – aber das leistet Amication nicht. Amication ist auch nicht das Instrument, um die mittleren Glücke zu bekommen. Amication verschafft nicht solches Glück – das kommt von woanders her. Glück fällt entweder vom Himmel oder man muss etwas dafür tun. Selbstverantwortlich von Geburt – die Grundposition der Amication – gilt auch in der Glücksfrage, und das bedeutet, dass ein jeder auch für sein Glück selbst zuständig ist. 

Man kann also keine Glückswunder von der Amication erwarten, sondern man muss sich schon selbst um sein Glück bemühen. Und da gibt es unzählige persönliche Wege, denn das Glück des einen ist nicht die Richtschnur für das Glück des anderen. Doch wenn auch ein jeder sein Glück auf seine Weise realisiert – amicative Menschen verbindet der amicative Glücksstaub zwischen den Zeilen des Lebens.