Sonntag, 31. Dezember 2017

Sein und Werden








Alle unsere Wahrnehmungen von der Welt kommen aus uns selbst, und doch liegen vor und hinter ihnen unendlich viele Wahrnehmungen anderer. All derer, die uns wissen ließen, wie dieses und jenes wahrzunehmen sei, und das wir so oder anders von ihnen übernommen haben. Als Kinder haben wir von Anfang an unzählige Informationen zur Weltdeutung erhalten, von den Erwachsenen unserer Zeit. Ihr Wissen um die Welt wurde zur Grundlage unseres Weltverstehens. Und auch wenn wir später entgegen ihren Deutungen anderen und neuen Sichtweisen folgen, ist es doch so, dass die in der Kindheit erfahrende Weltdeutung niemals wirklich verlassen werden kann.

Wie nehmen wir uns selbst wahr? Wer bin ich? Neben vielen anderen Aspekten der Identitätsfrage gehe ich einem besonderen Gedanken nach: Wir lernten und erfuhren als Tatsache des Lebens, als Selbstverständlichkeit unserer Eltern und Großen, wenn sie über uns nachdachten und etwas über uns sagten und etwas zu uns sagten, wir erfuhren als eine selbstverständliche Basisinformation, dass Kinder anders waren als sie – und dass sie anders waren als wir. Wir und sie – sie und wir: das waren zwei verschiedene Welten. Und im Hintergrund war präsent, dass unsere (Kinder)Art zu sein nicht die eigentliche Art zu sein wäre, wie sie den wirklichen und wahren Menschen, den Großen, ihnen also, zukommt. Wie sie meinten.

Nun lag es damals aber nicht an, zu bemerken, dass wir eines Tages auch groß, so wie sie, sein würden. Merkwürdigerweise spielte das einfach keine Rolle. Merkwürdig deswegen, weil ich heute, selbst groß, denke, wir Kinder hätten es von ihren Gesichtern ablesen können: ihr werdet eines Tages auch Große. Das war so aber nicht der Fall. Nein, es war so: wir hier – sie dort.

Dieses Basiswissen vom eigenen Standort – wir hier, im Unterschied zu euch dort –, der zugleich der Standort vieler anderer auch war, aber nur der anderen, die in der gleichen Situation des Lebens waren, also: der anderen Kinder – dieses Basiswissen und vor allem das Gefühl von diesem Standort gingen nach und nach verloren, zu der Zeit, als man selbst erwachsen wurde. Dann galten andere Bezüge, der andere Standort. Und der Kontakt zum Wissen und Fühlen der damaligen Wahrheit riss ab. Und seitdem leben wir in unserer Welt, der Welt der Erwachsenen.

Doch zurück zu der Basis der Kindheit, zu dieser Basis, dem Wissen und dem Gefühl der eigenen Welt, der eigenen Sprache, der eigenen Interpretation – immer anders als die der Großen, immer gleich wie die der Gleichaltrigen. Und immer vorgegeben von den Großen: vorgegeben aber nur insofern, als es das Faktische betrifft, wie dann, wenn etwas vorgegeben ist, das der eigenen Vereinnahmung bedarf: »Das ist die Sonne« musste von uns Kindern zurechtgelegt werden, übersetzt werden in unsere real existierende Welt, transportiert werden in unser Weltbild. »Das ist ein Auto« ebenfalls. Mit allem ging das so. Und auch mit der Aussage: »Das bist Du«, was übersetzt hieß: »Das bin (also) ich«.

Wer aber waren wir? Was wurde uns gesagt? Neben vielem auch, ohne Worte – wir seien Kinder. Nicht Erwachsene. (Das waren ja sie.) Und Kinder, das weiß jeder Erwachsene, entwickeln sich, sie wachsen, sie werden. Sie werden. Was werden Kinder? Sie werden Erwachsene. Eines Tages. Wir erfuhren also: Ihr seid jetzt Kinder – und damit seid ihr Leute, die werden. Die Erwachsene werden. (Und dann sollten wir außerdem und vor allem gute Erwachsene werden, keine bösen, missratenen sondern vorzeigbare, wertvolle, tüchtige, solche, auf die Verlass ist und auf die man stolz sein kann.)
Der Sog zu werden war wie zuckersüßer Sand über uns gestreut, wir nahmen ihn auf und wir wurden.

Ich will damit sagen: Wenn wir Kinder um uns haben, sehen wir sie so, wie wir gesehen wurden: als Wesen, die werden. Und wir sehen sie weniger oder nicht oder ganz und gar nicht als Wesen die sind. Und dennoch: Als wir selbst Kinder waren, war uns präsent, selbstverständlich, Basis: dass wir sind. Jetzt. Und gleich. Und eben. Wir lebten uns und waren in der Zeit, mit der Zeit, nicht im Gegensatz zur Zeit, nicht im Streit mit der Zeit, nicht jenseits oder vor der Zeit, der eigentlichen Zeit. Wir waren nicht im Werden, sondern im Sein.

Wer ist dieses Kind vor mir? Wer ist dieses Jetztwesen? Das interessiert mich, das ist meine Frage, meine Aufmerksamkeit, meine Intuition, meine Art. Ich habe mich gelöst von der Werden-Perspektive. Ich habe diese Perspektive nicht gänzlich verlassen, aber sie kommt mir nicht zur Unzeit dazwischen, sie hat mich nicht im Griff. Ich habe sie bei Bedarf, ich wende sie an, nicht sie mich. Wer ist also dieses Kind vor mir jetzt?

Ein NochEinBrotKind. KeinHausaufgabenMacheKind. Ein BruderKämpfeKind. EinJammerUndGeschreiKind. Ein MitTierenBehutsamUmgeheKind. Ein MüdeKind. Ein JetztEinschlafeKind. Ein DuHastHierNichtsVerlorenKind. Ein IchBinSchonFertigKind. Ein DannSpielIchEbenGarNichtMehrKind. Ein LaßMichInRuheKind. Ein IchHelfeDirKind. Kein SchnallDichAnKind. Ein TreppengeländerRutscheKind. Ein HonigSchmierKind. Kein ZähnePutzKind. Kein MitDemHundRausgehKind. Ein MeinZahnIstWegKind. Ein IchHabeSchlechtGeträumtKind. Kein HändeWaschKind. Kein FährtVernünftigMitDemRadKind. Ein MirIstKaltKind. Ein WieSpätIstEsKind. Ein WannSindWirDaKind. Ein SagIchNichtKind. Ein HabIchAberWohlKind. Ein KlavierspielenÜbeKind. Ein KarateTrainingKind. Ein BlumenstraussPflückeKind. Ein DiskoBesucheKind. Ein NichtraucherKind. Ein IchGehZumReitenKind. Kein IchHabDenSchlüsselVergessenKind. Ein IchHabeMeinZimmerAufgeräumtKind. Ein DaranHabeIchNichtGedachtKind. Ein DasHabeIchDirMitgebrachtKind. Kein FrühstücksbrotAufesseKind. Ein DasWarIchNichtKind. Ein SpielstDuMitMirKind. Ein KicherKind. Ein IchFreuMichAufKind.

Die Kinder sind Sein-Wesen, nicht Werde-Wesen. Ich sehe sie so und ich begegne ihnen dort: Im Sein, schön oder schrecklich, entspannt oder anstrengend, plus oder minus, egal: im Sein, nicht im Werden. Sie sind im Sein, dort treffe ich sie, dort treffen wir uns. Und: nur dort. Und auch wenn es um Künftiges geht: von dort aus wird die Zukunft gesehen. Anmerkung: Das ist nicht die Hier-und-Jetzt-Position, Leben im Hier und Jetzt, Carpe Diem, Sorge Dich nicht – lebe. Das ist es alles nicht. So etwas ist die nostalgische und immer vergebliche Position von Erwachsenen, die ganz genau wissen, dass sie eben nicht nur in der Gegenwart leben können, sondern die um Entwicklung und Zukunft wissen, die sich wünschen, wünschen, das anders geschehen zu lassen. Hier-und-Jetzt ist eine blasse Fotokopie des bunten und lebendigen Originals, das die Kinder leben.

Wer hat damals erlebt, dass die Großen uns in unserem Sein besuchten, fanden, Kontakt aufnahmen, um mit uns ein Stück in unserem Sein zu wandern, mit uns in unserem Sein zu leben? Nicht ausnahmsweise, an Sonn- und Feiertagen, sondern montags, an Werktagen? Immer? Als Basis ihrer Wahrnehmung von uns? Und wie ist das heute mit den groß gewordenen Kindern, mit uns Kindern von damals? Wie sehen wir uns selbst? Leben wir heute mit uns im Sein oder im Werden? »Ja – ich bin so« oder: »Ich sollte eigentlich so sein, wie ich sein sollte«.

Mit anderen Worten: Sich selbst lieben hat Erinnerungen und Wurzeln. In der Erfahrung, dass wir Sein-Wesen waren, wenn auch alle Erwachsenenwelt uns für Werde-Wesen hielt. Wir waren der Mittelpunkt unserer Welt, tief verwurzelt im Sinn, der so oder anders war, aber er war, in dieser unserer Realität existierend, kein Später, kein Werden. (Bis auf die Ausnahmen, drei Tage vor Weihnachten.) Ich liebe mich so wie ich bin – nicht: so wie ich sein werde. »Lass Dich in Ruhe, lass Dich einfach in Ruhe, Du bist schon ein richtiger Mensch« antworte ich auf die Frage »Wie macht man es, sich zu lieben?«

Und das Werden wird ja nicht übersehen oder verbannt. Es hat nur keine Macht mehr über mich. Es hat seine Bedeutung, und ist Realität, auch, selbstverständlich (wir werden sterben), und es ist wichtig, aber es herrscht nicht mehr, es geschieht: zu seiner Zeit. Ich bin nicht ohne Perspektiven. Aber die Basis ist Innehalten und Merken: Ich bin. In der Beziehung zu mir selbst und zu den anderen. Auch und gerade und sowieso zu den Kindern.

PS:
Aber keine neue Forderung! Wer Kinder nur oder vor allem oder oft oder zu oft oder leider unter der Werden-Perspektive sieht: das ist dann so. Und Punkt. Nichts daran ist falsch oder irgendwie verkehrt. Nur dass es da auch diese andere Möglichkeit gibt, man kann sie hervorkramen, sich erinnern, es gibt eine Einladung. Eine Einladung zum Mitsein im Sosein.





Samstag, 30. Dezember 2017

Vom Nichteinmischen





















Eine Mutter erzählt mir: "Mein Sohn (8) war allein unterwegs und
hatte Krach mit einem Erwachsenen, einem Freund der Familie.
Was hätte ich tun sollen?"

Die Kinder geraten immer wieder mal in unangenehme oder auch
gefährliche Situationen. So etwas bricht über sie herein, oder sie
haben ihren Anteil daran. In diesem Fall hatte der Sohn den Freund
der Familie durch sein Verhalten verärgert, er wurde schließlich
angefaucht. Und kam empört zu seiner Mutter.

Wenn die Kinder mit anderen unterwegs sind, ist das schön, aber
auch voller Risiken. Das Balancieren über das Brückengeländer
ist voll prickelndem Reiz, aber auch voll Risiko. Wenn der Junge
dabei ins Wasser fällt, helfen Eltern ihm heraus, keine Frage.
Aber hier? Soll sie zu dem Freund hingehen und die Wogen
glätten? Oder kann das Kind allein herauskommen, wenn es
in so ein Beziehungsgewässer gefallen ist?

Falsch machen geht nicht. Die Mutter kann intervenieren oder
die Sache bei ihrem Sohn lassen. Es kommt wie immer darauf
an, was man will. Sie erzählte, dass sie gespürt hat, das Ganze
ihrem Kind zu überlassen. Er war angefasst und kam zu ihr.
Beschwerde. Ein Eingreifen lag in der Luft. Aber sie hat es eben
anders gemacht.

Sie hat das Herauskommen aus dem Wasser ihm überlassen. War
eigentlich seine Sache. Einmischen fühlte sich drängend, aber in
Untergrund übergriffig an. "Es gehört ihm und er schafft das schon."
Und so kam es auch. Ihr Sohn kam wieder runter, und nach einer
Weile ging er zu dem Erwachsenen zurück "um das mit ihm zu
besprechen".

Fand ich beeindruckend. Von der Mutter: nicht hinstürzen,
sondern erst mal schauen, was wirklich Sache ist. Bei ihr
und ihren Mutterhelfegefühlen und bei ihm und seinem "Kann
ich selbst hinkriegen". Das feine Hinhören fand ich beein-
druckend. Das Zuwarten. Das Offenhalten einer Tür. Es wäre
nichts dabei gewesen, sofort zu intervenieren - wenn ihr Ge-
fühl so ist. Aber sie hat eben den anderen Weg genommen.

Ich habe dann überlegt, dass wir Eltern oft, ganz oft, ich sage:
viel zu oft anspringen, wenn die Kinder mit einem Beschwer
daherkommen. Dann verpassen wir, dass die Beschwernisse
der Kinder eben auch ihnen gehören. Ich bin dann schon da-
bei und in Hab-Acht-Position. Aber ich muss meinem Kind
sein Beschwer nicht sofort, rasch, auf der Stelle aus der Hand
nehmen (auf dass es ihm besser gehen möge). Ich kann in ge-
wissen Respekt vor dem Beschwer sein - dem kaputten Knie,
dem Wasserfall, dem Anfauchen. Ich meine, es sind Gescheh-
nisse aus der Welt meines Kindes. Sie gehören ihm. Ich nehm
da nichts fort, ziehe sie nicht rüber in meinen Bereich, ich
vereinnahme sie nicht. Weiter: Ich vereinnahme mein Kind
nicht. Wiewohl die Gelegenheit günstig ist und der Reiz groß.

Wieviel achtungsvolle Distanz haben wir unseren Kindern
und ihrer Welt gegenüber? Kann man da sensibel sein? Lässt
sich erkennen, was mein und was dein ist? Wieviel Verstrik-
kung ist gesponnen, wieviel lässt sich überhaupt bemerken?
(Was ja auch unter Liebenden/Partnern/Freunden ein großes
Thema ist.)

Ich habe das Gefühl, dass die Mutter eine gute Botschaft
gesendet gat. "Ok, ich hör Dir zu und ich bin da." Sie hat
noch nicht einmal mitgesendet "Brauchst Du mich?" Sie hat
einfach nur schwingen lassen, dass sie da ist, dass er nicht
allein ist, dass er sich auf sie verlassen kann. Was ihm offen-
sichtlich gereicht hat. Was ihn nicht weggekippt hat aus seiner
Späre, verlockt hat, den schlappmachenden Süßeweg in ihre
Arme zu nehmen. Den alle Kinder kennen, gut kennen. Der
oftundoft nötig aber eben auch so süchtevoll ist.

Der Junge konnte bei sich und seiner Power bleiben. Er trug
sich nach einer Verschnaufzeit zurück ins Getümmel. In die
Welt der Beziehungen, ins wilde Leben.





Montag, 25. Dezember 2017

Revolution in der Krippe










Religiöse Gefühle, Spiritualität und die ganze Welt, die damit zusammenhängt, sind sehr private Angelegenheiten. Aber es lässt sich auch etwas Grundsätzliches dazu sagen. Weihnachten ist eine gute Gelegenheit dazu. Ich konzentriere mich und höre tief in mich hinein...
Es beginnt damit, dass unsere Kultur und damit auch unsere Religion vom Oben-­Unten-Muster charakterisiert werden, und dass wir als Kinder in diesen kulturellen und religiösen Oben-Unten-Strukturen aufgewachsen sind. Die christliche Religion ist für die Menschen, die sie bejahen und in sich tragen, voll Hoffnung, Trost und Liebe. Das sehe ich sehr wohl. Und auch mit einer amicativen Einstellung kann jeder soviel Christ oder Muslim oder Buddhist sein, wie er will - er entscheidet dies aus seiner Souveränität heraus. Aber Oben-Unten enthält eben immer auch ein Unten, und als Kinder waren wir dort, unten, auch als wir in die Religion unserer Kultur eingewiesen wurden. Und hierüber möchte ich nachdenken und dem Weg nachspüren, den auch das Christentum aufzeigen will: den Weg zum Licht, beginnend in der Heiligen Nacht.

Mit Religiosität, Spiritualität, Einschwingen in den Sinn des Ganzen, Teilhabe an der Harmonie des Lebens und der Welt - damit hat ein jeder zu tun. So etwas ist in den Menschen, in ihrem Gefühl und ihrer Existenz. Wenn wir uns als Kinder im Zauber des Tages und in der Magie der Nacht erleben, spüren wir den Atem des Unendlichen, und wir sind voll davon und Teil dieser göttlichen Macht. Wir brauchen keine Pfadfinder, geschweige denn Vormünder, die uns die Wege dort weisen. Wir gehen sie von selbst, mit der Sicherheit derer, die dort zu Hause sind.

Ihr werdet Euch an unzählige Beispiele hierfür erinnern, wenn Ihr einmal inne haltet und zurück-schaut. Auf ein Spinnennetz, den Raureif des Herbstblattes, das Sturmrauschen der Zweige, den Nachtschrei der Eule, das Summen der Bienen, das Donnern des Gewitters, die Sommerhitze des Gehwegs an den Fußsohlen, die rasche Sternschnuppe, die kalte Hundeschnauze, den Schmerz des Schienbeinstoßes, das Zwitschern der Schwalben, ...

Wenn wir Kinder all dies für uns allein erlebten oder mit anderen Menschen teilen konnten, denen wir vertrauten und uns anvertrauten - hätte das nicht völlig ausgereicht, um in Demut und Hosianna die Welt zu umarmen? Wozu brauchte es da noch eine Unterweisung, Schulung, Belehrung? Wo könnten wir heute sein, in unserem Erwachsenenleben, wenn wir diesen selbstverständlichen und beiläufigen Pfad der Religiosität, Spiritualität und Harmonie hätten ungestört weitergehen können?

Religion ist für Kinder das Unvermutete. Das Harte. Das Organisierte. Das Verordnete. Das Seltsame. Das Unverständliche. Religion ist das, was uns klein sein lässt, aufschauen lässt, uns bemüht sein lässt, uns tugendhaft selbstdiszipliniert aufsagen läßt "Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein". War das wirklich nötig? Und wohin hat es uns geführt?

Religion führt Kinder zu Absonderlichkeiten: Zum Händefalten, zum Hinknien, zum Seltsame-Bewegungen–mit-dem-rechten-Arm-Machen ("Bekreuzigen“), zum Unverständliches-Sagen ("Wie auch wir unseren Schuldigern"), zu Verwirrung und Versteh-Ich-Nicht, zu einem seltsamen Leben (nämlich dem nach dem Tod). Religion riss uns fort von der Ungezwungenheit und der Natürlichkeit, von der Freude und der Wahrhaftigkeit, damals, in der frühen Kindheit.

Und die christliche Religion zwang uns Entsetzlichkeiten auf. Erbsünde, Schuldgefühl, Böses, Satan, Hölle - die ganze spirituelle Seite des Lebens wurde in schauriges Gekrächze verzerrt. Wir ver-stummten erschrocken und zutiefst verunsichert vor dem Monströsen: da hing an der Wand ein mißhandelter Mensch, genagelt an ein Stück Holz, mit dem Geruch von Tod und Elend, in düsteren Gemäuern, umheult von unterwürfigen Jubelgesängen und angstschwitzendem Trauergemurmel der Großen, im irrflackernden Kerzenlicht und atemnötigendem Qualm.

Was unsere Großen aber in völlig verdrehter Weise gut fanden und dem sie sich hingaben. Als wäre uns Kindern ihre Todesangst vor all dem verborgen geblieben, und wenn sie noch so laut ihr "Loben Dich" sangen. Und wie sie das alles mit einem knappen Megabombastic-Wort auf den Punkt brachten und uns damit niedermachten, jedem "Bitte, was soll das?" den Boden entzogen, jeglichen Ausweg zumauerten: mit diesem Machtwort GOTT.

Wir waren voll Lebensfreude und Lachen. Wir kamen von der Heuwiese und dem Tau des Morgens, dem frischen Schnee und dem Lachen unserer Spiele. Und wir wurden geschafft hinter große Tore und dicke Mauern, in Unwelten, die sie "Kirche" nannten. Und sie zeigten uns dieses mißhandelte Wesen und beteten es an! Und unterwarfen sich ihm, und all ihre tiefe und wahre Empfindsamkeit für sich selbst und eine Existenz in Harmonie war weggewischt, verdreht und verloren. Nur GOTT konnte ihnen einen Funken Hoffnung geben, dass sie irgendwann einmal, "nach dem Tod" im Licht sein würden. In dem Licht, das für uns Selbstverständlichkeit war, in jedem Spiel, in jedem Spinnennetz, Raureif, Sturmrauschen ...

Unter welche armen, von Düsternis und Verdammnis gezeichneten Monster waren wir da um alles in der Welt geraten? Waren das die Menschen, die wir lieben konnten, denen wir vertrauen konnten, denen wir uns anvertrauen konnten? "Was ist mit Euch?" Diese stumme Frage blieb uns im Hals stecken, zu erschüttert waren wir vor dieser seltsamen Schaurigkeit, und zugepackt waren wir von ihrem unerbittlichen Sog, der uns in ihre Religion zerrte.

Und wie sie es uns schrecklich schön redeten, dieses absurde Theater: es gab die Liebe Gottes, seine Gnade, Vergebung, das ewig Leben, einen Sohn, der für uns starb, eine vollkommene Mutter, ach, und all diese jedes Märchen weit weit übertreffenden Fieberphantasien und Verhexungen. Und dann natürlich: die ERLÖSUNG und das PARADIES. Mein Gott, da lebten wir doch längst, jeden Tag, vom Aufwachen bis zum Einschlafen. Weshalb vertrieben uns die Großen daraus, hin zu ihrer Religion?
Lässt sich da nicht ein religiöser Kindesmissbrauch sehen? Ein religiöser Menschenmissbrauch? Eine Religions-Traumatisierung der Gesellschaft?

Wie immer gibt es die Frage an sich selbst: "Was will ich? Wer bin ich?" Will ich diesen Diebstahl meines religiösen Herzens? Will ich diesen kaum mehr wahrgenommenen Verlust meiner Spiritualität? Will ich verstümmelt in meiner religiösen Ursprünglichkeit und Wahrhaftigkeit weiter durchs Leben gehen? Will ich tatsächlich in ein solches Haus gehen, in dem Kinder von ihrer Harmonie und der Sinfonie des Lebens fortgerissen werden? Kirche, Kreuz, Weihnachten, Krippe? Welche Tränen sind zu weinen über diesen Verlust der Seele!

Weihnachten hat ein Kind als Mittelpunkt. Wir waren Kinder, wir sind Kinder. Wir können all dem noch einmal begegnen, in der Kirche, in der Weihnachtspredigt, vor der Krippe. Wir können mit diesem Kind dort im Verbund sein und uns stolz und aufrecht aus diesem Jammerhaus entfernen. Hinausgehen, in die klare Nacht des Winters und uns von der Unbestechlichkeit der Sterne Freundliches sagen lassen. Und beginnen, unsere Religiosität zurückzuerobern - mit dem Kind in der Krippe, das wir so befreien wie uns selbst. Beginnen, uns mit unserer durch das Christentum unterdrückten Religiosität selbst zu versöhnen.

Und so hängen wir an die Stelle des Kreuzes etwas, das jenseits jeglicher Tod-Leben-Symbolik unmittelbar und eindeutig von der Weisheit und der Liebe des Lebens kündet. Wir hängen Bilder auf, die uns begleiten, voller Religiosität, Ehrfurcht und Andacht: Wie wir unsere Kinder voll Freude an uns drücken, wie wir dem Konzert der Frösche lauschen, wie wir in heiliger Verliebtheit miteinander verschmelzen, wie wir wunderbar frühstücken, wie wir uns den Klängen unserer Lieblingsmusik hingeben, wie wir den Geschichten des Murmelbaches zuhören ...

„Was sind Deine Bilder, Jesus? Was willst Du dort aufhängen? Was ist der Spiegel Deiner Seele? Was bewegt Dein Leben? Was erfüllt Dich? Was ist Dir heilig? Das Bild vom Esel, der Dich nach Jerusalem trägt? Von Maria Magdalena, von Eurer Liebe? Von der Peitsche im Tempel und Deinem Zorn? Von Lazarus? Von Deinen Freunden? Vom Konzert der Frösche? Von Deiner Lieblingsmusik? Vom Murmelbach?"

Jeder hat seine eigenen Erfahrungen mit der Religion. Und wem sie wertvoll und heilig ist, diese Botschaft von Jesus, seinem Vater und dem Heiligen Geist, dem sei das unbenommen. Ein jeder ist sein eigener Chef, auch in der religiösen Frage. Nichts ist über dem anderen stehend, und was dem einen sein Gott oder Allah, ist dem anderen sein Buddha oder Manitu. Aber dennoch: Weihnachten und das Kind in der Krippe sind eine Gelegenheit, sich seinen eigenen religiösen Kindheitserfah-
rungen zuzuwenden. Einmal hinzuschauen, was sich dort alles sehen lässt. Wie mit uns umgegangen wurde in dieser Oben-Unten-Religion.

Jeder kann sich lieben, auch in seiner religiösen und spirituellen Dimension. Und jeder kann auch dort eine Revolution beginnen, wie in der pädagogischen Frage. Revolutionen des Herzens beginnen mit dem Wieder-Merken und mit dem Noch-einmal-Hinschauen. Wie in der Wahrheitskommission in Südafrika ist das Aussprechen der Wahrheit ein machtvoller Impuls, der die Trauer einlädt und die Heilung beginnen lässt. Niemand muss erzogen werden, ein jeder ist ein vollwertiger Mensch von Anfang an, eben kein Erziehungsmensch. Und ebenso muss niemand zu einem Religionsmenschen gemacht werden. Wir sind wie jedes Kind, auch das Kind in der Krippe, vollwertige Menschen von Anfang an, auch in dieser Frage: Ebenbilder des Göttlichen und Frohe Botschaft. Von nun an bis in Ewigkeit!





Samstag, 16. Dezember 2017

Schule, grundsätzlich





















Eine Mutter erzählte, dass ihr Sohn (2. Klasse) im Schwimmunterricht
mit einigen Mitschülern auf der Bank neben dem Becken warten muss,
bis der Lehrer mit den anderen Kindern im Wasser fertig ist. Und sie
dann wieder dran kommen und ins Wasser dürfen. Abwechselnd. Er
muss also mit nasser Badehose draußen warten und friert. Das hat
dazu geführt, dass er zweimal nicht zum Schwimmen mitgegangen
ist. Erst jetzt hat er es seiner Mutter erzählt. Sie überlegt, ob sie den
Lehrer zur Rede stellen oder es auf sich beruhen lassen soll.

Das führt mich mal wieder zur Schule, und zwar grundsätzlich. Ich
suche einen Text raus (aus meinem Buch "Schule mit menschlichem
Antlitz"), der dazu passt.

*

Die Schule ist eine Institution, die ganz und gar unabhängig von
uns existiert. Wir sind immer konkrete Menschen, und das heißt
für die Eltern und Kinder: dieser Vater, diese Mutter, diese Kinder.
Unabhängig von uns als Familie existiert viel in der Welt: die Kneipe
nebenan, das Stadttheaterr, der Bundestag, und eben auch die
Müller-Schule in der Meierstrasse und die Meier-Schule in der
Müllerstrasse. Klar, das hat auch etwas mit uns zu tun, denn wir
gehen ja in die Kneipe und ins Theater, wir wählen das Parlament
und schicken die Kinder zur Schule. Aber es ist eben auch wahr,
und das zu übersehen macht die Macht der Schule aus, dass diese
Institution, die Schule, jede Schule zunächst einmal mit uns nichts,
aber auch ganz und gar nichts zu tun hat. Die Schulgesetze: nicht
von uns beschlossen. Die Lehrer: nicht von uns bestellt. Die Schul-
ordnung: nicht von uns in Auftrag gegeben. Die Lehrpläne: nicht
unsere Erfindung. Methodik, Didaktik, Motivation, Evaluation
und das ganze weitere depersonalisierende Brimborium: weiß
Gott nicht unsere Sache. Nichts, aber auch gar nichts ist von der
Schule auf unser Konto zu buchen. Wir hier - die Schule dort.

So - und von dieser radikalen, grundsätzlichen und wesentlichen
Unterscheidung aus sehe ich mir an, was das dort denn ist, die
Schule, wie sie strukturiert ist, was sie will, was sie bewirkt.
Und von daher kommt meine Entschlossenheit, für meine Kin-
der einzustehen und den Anforderungen der Schule immer
wieder mit Verwunderung zu begegnen: "Tatsächlich - das 
hat der Lehrer gesagt? Was hat er sich eigentlich dabei ge-
dacht?" Immer wieder. Und von daher kommen dann meine
Reaktionen, mein Umgang mit dem Merkwürdigen da draußen
- das Schule heißt und durch das ich selbst damals, zu meiner
Zeit, durchwanderte, durchmusste. Exotisch schon damals, eine
seltsame Erfindung, umgeben von der Aura des Absoluten, wie
Sonne, Mond und Sterne. Nur: dass ich heute diese Fiktion
sehe, als Erwachsener darum weiß, dass die Schule eben nicht
als göttlich Ding vom Himmel auf die Erde gekommen ist, son-
dern ein ganz und gar menschlich Ding ist, ersonnen und ge-
macht von Menschen wie Du und ich, und dass man das alles
gänzlich anders sehen kann.

Ich lade also jeden ein, sich von der Schulideologie zu befreien.
Big Brother, das Kuckucksnest, Trumans World zu verlassen,
diese gläserne Glocke, die Kinder leibhaftig einfängt, niemals
wirklich entlässt, sondern sie als großgewordene Kinder lebens-
lang gefangen hält. Schule muss nicht sein! Sollte sie sein? Jeder
von uns gibt hier seine eigene Antwort. Ein Tip für Unentschlossene:
Fragen Sie die Kinder, ein halbes Jahr nach der Zuckertüte. Sie
kennen noch den Zusammenhang, wissen noch um das, was mög-
lich ist, sie haben es noch im Blick, was Leben ohne Schule heißt.

Dies alles zu wissen macht sehr sicher, die eigenen, aus der familiären
Situation kommenden Antworten zu finden. Keine Hausaufgaben
gemacht? "Ran an die Arbeit" oder "Dann lass es eben". Ein Brief,
dass mein Kind sich in der Schule nicht benimmt? Wozu sollte es
sich benehmen? Und was heißt eigentlich "Benehmen" in der Schule?
Schlägt es andere Kinder? Vielleicht war das wichtig und richtig.
Redet es zu laut im Unterricht? Vielleicht war das wichtig und richtig.
Tut es nicht, was der Lehrer will? Vielleicht war das wichtig und
richtig. Jeder Mensch, auch jeder junge Mensch, auch jedes Kind
in der Schule tut immer etwas Sinnvolles, mit Grund, aus seiner ei-
genen, individuellen Schlüssigkeit und Weltdeutung heraus. Das in-
teressiert mich. Also: Warum keine Hausaufgaben? Was führte zur
Schlägerei? Zu Gegenreden? Ich liebe mein Kind und ich freue mich,
wenn ich es mehr und mehr immer wieder neu verstehen lerne. Soll
ich mein Kind korrigieren um der Schule willen? Soll ich einen leben-
digen Menschen korrigieren, weil Herr Meier das gern so von mir
hätte? Wer bin ich denn?

*

Was also ist im Fall mit dem Schwimmunterricht zu tun? Ich habe
gesagt, ein Gespräch mit dem Lehrer kann nicht schaden. Motto:
Ich habe keine Lust, dass mein Kind sich erkältet. Aber das weiß
er doch selbst. Er kann seinen Unterricht besser handhaben, wenn
die einen Kinder im Wasser sind und die anderen auf der Bank.
Erkältungsrisiko eingeschlossen. Wie immer hat auch dieser Lehrer
sein eigenes System, mit den Kindern und seinem Lehrauftrag zu-
rechtzukommen. Eltern stören da nur. Doch auch wenn das alles
so ist: Ich bin nicht für die Schule und den Lehrer da, sondern für
mein Kind. Und dann interveniere ich. "Ich möchte nicht, dass mein
Kind mit nasser Badehose rumsitzt und sich erkältet."


 

Mittwoch, 13. Dezember 2017

Kunst






















Wir sind im Wald. Klara (6) und Kolja (4) legen gelbe Blätter
auf dem Waldboden zu Linien und Kreisen, sie malen mit den
Herbstblättern. Es sieht nicht nach Natur aus sondern nach Kul-
tur. Nach Kunst. Kunst im Wald.

Die Kinder spielen. Ist Kunst Spielen, verspielt? Ich habe immer
mitbekommen, dass Kunst mit einem hohen Anspruch daher-
kommt. Picasso, Rembrandt, Beethoven, Mozart - das ist Hoch-
kultur, Kunst. Die Wasserfarbenbilder der Kinder, das Graffiti
an der Mülltonne: das ist keine Kunst.

Wie relativ darf es sein in der Kunst? Wann kommt der Kitsch
um die Ecke? Wann der Unsinn? Woran läßt sich erkennen, ob
es Kunst ist oder nicht? An den Unis wird Kunst gelehrt, es
gibt Kunstschmiede und Kunsthandwerk, Kunsthonig und
Kunstseide. Es gibt Künstler und gekünstelte Sprache, Kunst-
auktionen und Kunstfälscher. "Ist doch keine Kunst" und
"Jeder Mensch ist ein Künstler".

Was soll ich davon halten? Von dem ganzen Tamtam, der
um die Kunst gemacht wird? Es nervt mich, wenn irgendein
objektiver Anspruch im Spiel ist, sowieso, aber auch bei der
Kunst. Im Kunstunterricht in der Schule bekam ich für ein
Bild nur eine Drei, und dabei fand ich mein Bild super und
voller Ideen. Spinnt er, der Kunstlehrer? Sein Sohn war in
meiner Klasse und bekam für alles, was er ablieferte, eine
Eins, immer! Da ging ich auf Distanz zur Kunst.

Das war doch alles eine absurde abgekartete Sache, irgend-
welche Schriftgelehrte legten fest, was Kunst ist und was
es eben nicht ist. Kirchenfenster, documenta, Mona Lisa:
Ja was denn nun? Kunst ist offensichtlich Kunst. Da weiß
man Bescheid, und die Herren und Damen Künstler sowie-
so.

Echt jetzt, da soll er doch malen. Oder dichten. Oder kom-
ponieren, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Als sein
eigener Meister. Und dann kann er mir zeigen oder vorfüh-
ren, was Sache ist. Gefällt mir, oder nicht. Und fertig. Was
soll das Gelaber von "Kunst" dabei?

Ich finde das seltsam übergriffig, wenn jemand seine ge-
bastelten Dinge als Kunst rüberbringt. Mit einem hohen
Anspruch versieht. Wenn sie in Altamira ihre Tierchen
an die Wand bringen: Ist ihr gutes Recht, sind ihre Erin-
nerungen, Visionen, Botschaften. Das kann ich respek-
tieren, so wie ich den Menschen respektiere und achte,
der damit unterwegs war. Aber in Ehrfurcht erstarren?
Da macht jemand sein Ding. Gefällt mir, Beifall klat-
schen und staunen. Oder gefällt mir eben nicht.

Wie immer bin ich auch in Sachen Kunst mein eigener
Chef und lass mich nicht ins Boxhorn jagen. Es ist in der
Kunst so wie sonst auch: Entweder spielt sich das alles
in einem Oben-Unten-Raum ab mit objektiven Maßstä-
ben. Oder es bleibt in der postmodernen Welt, in der
nichts über dem anderen steht und alles gleichwertig ist.
Mit subjektiven Vorlieben und Unlieben.

Klar ist der eine geschickter mit der Hand und dem Kopf
als der andere. Und wenn es mir gefällt, hör ich gern zu
und seh ich gern zu und ess ich gern zu. Ich mag klas-
sische Musik, impressionistische Bilder, Blätter auf dem
Waldboden. "Spiel mit mir" sagen die Töne, die Farben,
die Blätter. Es ist ein leichtes und heiteres Geschehen.
"Mach mit" rufe ich der Kunst zu, und sie atmet durch
und läuft erleichtert auf mich zu. "Endlich" antwortet sie.
 "Na klar doch", sage ich, "und was machen wir heute?" 










Donnerstag, 7. Dezember 2017

Dankbar Sein





















In letzter Zeit geht mir immer wieder durch den Sinn: "Dankbar
sein". Besser: "Dankbar Sein", mit großem S. Es ist keine Er-
mahnung oder Aufforderung, was ich da gefasst habe, es ist
ein Zustand. Ich schwinge in Dankbar Sein.

Ich habe gemerkt, erst wenig, wie ein Flüstern, dann mehr und
stärker, dass es so viel in meinem Leben gibt, für das ich dankbar
bin. Im Schauen zurück, in die vielen Jahre. Da gibt es unendlich
viele Kleindankbarkeitigkeiten. Und auch viele wuchtige Groß-
dankbarkeitigkeiten. Und da ich nun dabei bin, in diesem Dank-
barkeitsmodus grad unterwegs bin, merke ich diese Dankigkeiten
Tag für Tag. Verblüffend viele!

Heute: Ich bin zu Besuch bei meiner Mutter, sie ist jetzt 96. Wir
fahren nachmittags los, um einen Adventskranz zu ergattern.
Einen schlichten, so wie sie ihn mag. Es ist aber schon der 6.
Dezember, und es ist fraglich, ob die Blumengeschäfte und
Gärtnereien noch einen haben. Dreimal klappt es nicht, es
gibt nur noch besonders Edle. Die will sie nicht. Hartnäckig
wie ich bin, versuchen wir es wieder: und siehe da, eine große
Gärtnerei außerhalb hat genau den, den sie sich wünscht. Tja,
da bin ich einfach kleindankbar.

Auf dem Weihnachtsmarkt im Dorf ist es knallvoll. Ich breche
ab und komme um neun, kurz vor Schluß wieder. Schon besser,
aber die Stände haben nichts, was ich suche, Kleinigkeiten zum
Verschenken zu Weihnachten. Na gut, dann eben nicht. Da bin
ich auch nicht dankbar, liegt nicht an. Zum Schluß gibt es aber
genau den Stand, der was für mich hat: Glasschmuck zum Auf-
hängen am Fenster. Ich komme mit dem Mann ins Gespräch,
der die Glassterne gemacht hat. "Für einen Stern brauche ich
eine knappe halbe Stunde." Er ist für mich ein Künstler, ich kann
bewundern, was er gezaubert hat. Als ich gehe, bin ich wieder im
Kleindankbarkeitsmodus. Doppelt: Ich habe doch noch ein schö-
nes Geschenk gefunden. Und das Leben hat mir einen Künstler
geschickt, wir waren einige Minuten gemeinsam unterwegs.

Ich zähl mal bis zehn, Dankbarkeiten heute: 1) Ich hatte ein
gutes, das heißt: persönliches Gespräch mit dem Meister mei-
ner Autowerkstatt. 2) Die Bremsklötze meines Autos, das ich
verkaufen will, müssen nicht erneuert werden. 3) Die Dahlien
haben sich butterweich im Garten rausmachen lassen: ruck-zuck
fertig. 4) Meine Mutter wollte ihren täglichen Spaziergang doch
noch machen, nach dem Einkaufen, im Dunkeln. 5) Sie hat über
die Leuchthalsbänder der Hunde gestaunt, wie ein Kind halt.
6) Es gab hier im Haushalt tatsächlich eine funktionierende
Luftpumpe für mein Radjoggen. 7) Die Zulassung meines neuen
Autos beim Bürgeramt klappte wie am Schnürchen. 8) Felix hat
mir doch noch die Adresse vom Theater gesimst, wo ich morgen
für ihn besondere Lampen abholen soll. 9) Ich habe heute morgen
meine Lieblingsschokolade im Nikolausschuh entdeckt.10) Das
Toastbrot eben beim Abendessen war echt lecker!

Zum Geburtstag hatte mir eine Freundin ein besonderes Buch
geschenkt: Ledereinband, leere Seiten. "Was immer Du damit
anfangen willst." "Ich werde reinschreiben, worüber ich mich
am Tag gefreut habe. Eine Dankbarkeit am Tag." 




Samstag, 2. Dezember 2017

Kinderstreit und Sonnenstrahlen





















Klara (6) und Kolja (4) sind zum Babysitten da. Alles läuft gut, doch
dann will Kolja auch mal den Leuchtstab haben, den Klara hat. Aus
meiner Sicht berechtigt, Klara spielt damit seit 10 Minuten. Koljas
Bitte wird nachdrücklicher, Klara rückt ihn nicht raus. Es kommt zum
Streit. Lauter Streit, Tränen.

Soll ich intervenieren? Das "Kolja ist jetzt auch mal dran" ist da, es
ruft mich auf. Aber ich will das nicht von mir aus tun. Fänd ich ir-
gendwie unpassend, unhöflich. So eine Intervention sagt für meine
Ohren im Subtext: "Ihr könnt Eure Konflikte nicht allein lösen. Ihr
seid da unzuverlässig. Nicht vertrauenwürdig. Unfähig. Kinder eben,
die das noch nicht können." Ich wäre die Ordnungsmacht. Meine
Intervention käme mir übergriffig vor.

Lasse ich die Kinder im Stich? Bin ich herzlos, unsensibel? "Du
kannst doch nicht einfach nur zusehen, wenn sie sich streiten und
nicht weiterwissen." Das hör ich schon. Doch ich seh nicht nur zu.
Ich sehe zu ohne "nur". Ich bin ja da, und sie sehen mich. Ich schicke
Freundliches, Anteilnahme. Ich schicke keine Ungeduld, Vorwurf,
Grummel. Und ich bin ja da, wenn sie mich zu Hilfe rufen sollten.
Und auch ein "Soll ich Euch helfen?" ist schon viel zu viel Einmischen,
stößt sie aus ihrer Konzentration aufeinander.

Nein, ich trage ihren Streit, ihr Geschrei, ihre Tränen. Ich ertrage
sie nicht, ich trage sie. Und all die vielen üblichen Möglichkeiten,
die an mich heranwabern, schicke ich weg, auch freundlich und
gelassen. Möglichkeiten: Den weinenden Kolja auf den Arm neh-
men, Klara ins Gewissen reden, "Wenn ihr Euch nicht einigt, ver-
schwindet der Leuchtstab mal für eine Weile", Ablenkungsmanöver
starten, sie rausholen aus der Situaiton ("Wir gehen jetzt in den
Wald"), Thematisieren Streit und Gerechtigkeit, usw.

Ich habe Geduld, krame in der Küche weiter rum. Klara behält
den Stab, aber auch sie hat Tränen in den Augen. Es wird ruhiger,
es wird still. Dann höre ich an ihren Stimmen, dass sie sich nicht
mehr Gram sind, sie verhandeln irgendetwas, dass nicht mit dem
Leuchtstab zu tun hat. Sie kommen zu mir, suchen meine Nähe,
und wir besprechen, ob wir rausgehen. Der Stab in Klaras Hand
hält die Klappe.

Einen Satz sage ich ihnen aber doch. Ich habe ihre Gesichter
beim Streit gesehen. "Wir tun etwas Ungehöriges." Beschämt-
sein, Schuldgefühl. Schnute, Blick auf den Boden. Ich sage
ihnen: "Bei mir könnt Ihr auch streiten. Das ist ok. Da gibt es
keine Schimpfe." Mir liegt daran, ein Pflaster zu kleben, ein
Trostbonbon zu geben, Sonnenstrahlen zu schicken.

Und ich freue mich: Ich habe sie nicht aus ihrer Balance ge-
stoßen, ich habe ihre Souveränität nicht angetastet. Ich habe
den Pfad iher Würde nicht verlassen: "Auch wenn Ihr streitet
und schreit und Tränen fließen - Ihr seid Menschen mit einer
Würdekrone." Ich weiß aber auch, dass ich das nur kann,
weil mich ihre Töne, Emotionen, Kinderbotschaften, Signale
aus meiner eigenen Kindheit nicht verwirren, zum Intervenie-
ren drängen. Und ich merke, dass ich dankbar bin für dieses
Friedensgeschenk.