Montag, 25. Dezember 2023

Tränen wegzaubern und Kerze anzünden

 


Es gibt Kartoffeln zum Abendessen. „Nudeln“, sagt der Vierjährige. Ich bin zu Besuch, höre es und überhöre es nicht. Klar, denke ich, es wird Kartoffeln geben, das „Nudeln“ lässt sich ausreden, austreiben. Werden die Eltern so machen. Doch das „Nudeln“ bleibt, nimmt zu, steht machtvoll in der Küche, mit Würde. Was ist zu tun? Was ist zu denken?

Nachgeben und Abendfrieden wahren contra den Dackel vertreiben. Den Dackel nämlich, der man ist, wenn man sich den Wünschen, diesen Wünschen der Kinder unterordnet. Dieser Gegensatz von Einlenken und Hartbleiben ist von grundsätzlicher Art. Dieses Paar ist ein Phänomen des Lebens und kommt überall vor, vom Appeasement in der großen Politik über das Berufsleben und die Partnerschaft bis ins Kinderzimmer und die Küche. Also nichts Ungewöhnliches, nichts, was aus dem Ruder läuft, sondern etwas, das dazugehört. Fragt sich, wie man damit umgeht.

Wo verorte ich mich dabei? Wenn es eine Wahl gibt: Ich entscheide, Chefgefühl, Souveränität. Kartoffeln oder Nudeln? Meine Entscheidung. Beim Abendessen mit einem Vierjährigen ist die Machtfrage klar: Die Mutter und der Vater sagen, wo es lang geht. Und das Kind? Der Andere? Der einen anderen Weg gehen will?

Wie soll ich mit einem Andersweg umgehen? Herr/Frau/Kind Andersweg sind in meinem Leben und halten mich an. Ist schon klar, was gewünscht wird. Ich kann einschwenken, meinem Jetztweg einen Korb geben und dem Andersweg folgen. Wie bekomme ich da Ruhe rein, wie zu einer guten Lösung, wie zu meinem Frieden? Wie wichtig ist mir mein Jetztweg? Was bekomme ich von Deiner Wichtigkeit mit? Wie wichtig bin ich mir? Wie wichtig bist Du mir?

Die beiden Eltern sind unterschiedlich unterwegs. Der Vater will sich die Nudeln nicht bieten lassen, die Mutter ist unentschlossen. Ich halte mich zurück, wiewohl ich ja auch etwas sagen könnte. Die Sache beginnt zu eskalieren, der Kleine fängt an zu weinen. Nudeln mit Tränen. Gar nicht gut, geht mir durch den Sinn, so was können Eltern schlecht haben. Dem Kind folgen, wenn es per Tränen unterwegs ist? „Einlenken“, wie das so schön heißt. Ich merke, dass ich für die Nudeln bin, genauer: für den Abendfrieden.

Ich habe solche Szenarien mit meinen Kindern oft erlebt. Auch diese Kartoffeln-Nudel-Geschichte hat es gegeben. Und locker und freundlich habe ich den Herd nochmal angemacht und Nudeln gekocht. Kerze auf den Tisch, Abendessen in Harmonie. Die Kartoffeln? Waren nicht so begeistert, aber war schon ok.

Es ist ja nicht immer so. Ich lasse beim Autofahren den Drängler vorbei, ich lasse sie hinter mir im Kino reden, ich zahle den überhöhten Preis. Oder ich lasse das alles eben nicht zu: den Drängler nicht vorbei, hole die Kinoaufsicht, bestehe auf dem korrekten Preis. What ever – ich entscheide, was ich mitmache und was ich nicht mitmache.

Ich gehöre auch nicht meinem Eben, meiner Erkenntnis, meinem Plänen. Das ist ja alles schön und gut, aber zum Schluss entscheide ich, was sein soll. Vergangenheit, Erkenntnisse, Pläne haben mich nicht im Griff. Getrimmt werden wir auf anderes, auf Konsequenz, auf was sich gehört, wie es sein sollte, wie es geschrieben steht, was angesagt ist. Als Kinder haben wir diese Erzählung zu hören bekommen und in uns aufgenommen. Und wenn es heute Abend Kartoffeln gibt, die ja gewaschen, geschält, gekocht wurden, alles Mühe und Lebenszeit, dann gibt es Kartoffeln. Klar doch. Klar doch? 

Was lebt da bei mir im Untergrund? Kraft und unverbrüchliche Gewissheit (ich bin, ich gehöre mir, ich bin Teil des Unendlichen) – oder braust da so eine süßlähmende Ohnmacht, immer bereit, sich in mir auszubreiten und mir den Weg zu weisen? Ich bin mit mir klar und ein Sternenkind. Und von daher wünsche ich mir, dass die Eltern von dieser großen Beiläufigkeit berührt werden und die Kartoffeln Kartoffeln sein lassen.

„Ich glaub, ich mach ihm Nudeln.“ Die Welt der Mutter lugt in die Küche, breitet sich in der Küche aus. Erreicht den Vater. „Ok“, sagt er. So ganz selbstverständlich. Ich bin fasziniert – sie können das! Tränen wegzaubern und die Kerze anzünden.





Montag, 18. Dezember 2023

Bist Du glücklich?




„Bist Du glücklich?“

Einmal ganz abgesehen davon, was das denn sein soll: „glücklich sein“ – irgendetwas Sinnvolles wird da jeder parat haben. Aber die Frage! Sie trifft mich. Sie hält mich an. Sie geht in die Tiefe. Sie dringt vor zum anderen als Person. Wann fragen wir den anderen? Fragen wir unsere Kinder, ob sie glücklich sind? Kann man Kinder überhaupt so etwas fragen? Welche Antwort könnte es da schon geben? Es wird wahrscheinlich etwas seltsam werden, das Gespräch. Wichtiger ist, dass wir uns diese Frage an unsere Kinder selbst vorlegen, im Stillen fragen: Ist dieser Mensch da vor mir glücklich? Mit seinen 2, 4, 6, 8, 10 ... Jahren?

Mit einer solchen Bereitschaft zum anderen sehen, der stillen Frage nach seiner Zufriedenheit, seinem Wohlbefinden, seinem Glück. Die Verwobenheit mit dem Glück des anderen zerrinnt leicht, geht unter im Alltag. Man kann diese Frage aber immer mal wieder hervorzotteln, den Blick zum anderen auf einmal ganz konzentriert werden lassen, ihm nah sein und diese Frage an ihn in sich selbst spüren.

Bin ich glücklich? Die Frage nach dem Glücklichsein geht auch an mich. Selbstliebe lässt diese Frage zu und geht auf mich zu. „Bist Du glücklich?“ frage ich mich, und allein das Kümmern um mich selbst, das in dieser Frage lebt, ist Kraft und Wärme. Das Kümmern um mich selbst spüren und willkommen heißen. Und dabei wie durch Zauberei merken, dass diese Frage nach innen, an mich, auch nach außen geht, mich zu Dir hinsehen lässt und Dich fragen lässt: „Bist du glücklich?“



Montag, 11. Dezember 2023

Kinder sind eine unterdrückte Klasse


 
 
Ich entdecke in meinem Bücherregal das Buch „Kinder“ der französischen Feministin und Kinderrechtlerin Christiane Rochefort*, blättere darin herum und finde zwei Stellen, die ich heute in den Blog stelle. Sie hat diesen Text schon 1976, vor einem halben Jahrhundert, geschrieben. Sie ist deutlich! Und sie sieht den gesellschaftlichen Kontext. Hat sich etwas geändert?
 

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Mit sechs Jahren ungefähr wird einem allmählich klar, wo man hineingeraten ist – eijeijei. Man kapiert, welchen Preis es kostet, gegen den Strom schwimmen zu wollen. Und welchen Gewinn man hat, wenn man mitspielt. Man hat gelernt zu rechnen. Kurzum: man wird allmählich vernünftig – in dem Sinne, wie der Fragende zum Befragten, der gerade anfängt zu sprechen, sagt: „Ich sehe, dass du vernünftig wirst.“ Um zu überleben, um Ärger zu vermeiden, um Gnade zu finden, um geliebt zu werden, das heißt um der eigenen Sicherheit willen, muss man sich nach diesem seltsamen Begriff „Vernunft“ richten. Wird man sich tatsächlich danach richten?

Bis zu ungefähr zehn, zwölf Jahren trifft man eine Wahl, nicht selten unter heftigen Konflikten.Der Ausgang dieses inneren Kampfes ist von tausend Faktoren abhängig, unter anderem davon, wie viel man von seiner ursprünglichen Lebensenergie hinüberretten konnte, außerdem von der Art und Stärke des ausgeübten Druckes sowie von dem Maß an Liebe, die man für seine Eltern empfindet. Dieser Abschnitt wird vom Psychoanalytiker „Latenzperiode“ genannt. Es wird angenommen, dass während dieser Zeit die Sexualität zurücktritt und das Gedächtnis die Funktion einer Zensur übernimmt.

Die Sexualität muss also wieder mal herhalten, um die gesellschaftliche Kausalität zu verschleiern. Wenn diese Experten jemals wirklich Kinder gewesen wären, dann wüssten sie, dass nichts schwerer zu ertragen ist als die Niederträchtigkeiten, die zu begehen man gezwungen war. Erniedrigung, die schweigend geschluckt wurde. Bei Analysen ohne ödipale Sperre kommt es dann wieder heraus. Es sind keine ruhmreichen Erinnerungen, und man möchte sie lieber vergessen; man denkt nicht gern an so klägliche Erlebnisse zurück.

Am wenigsten tun dies edle und stolze Ritter - und alle Kinder sind Ritter, Mädchen ebenso wie Jungen, solange sie es nicht mit der Angst zu tun kriegen.

Latenzperiode! Eine Periode der Kapitulation, Vergleichsabschlüsse, Kompromisse. Daran ändert auch nichts, dass solche durch höhere Gewalt bewirkt werden: man fühlt sich frei, empfindet das alles nicht als gewaltsam. Und zu den rasenden Schuldgefühlen, die von den moralischen Instanzen erzeugt werden, muss noch die Lust am Verrat hinzukommen. Zum Verrat an etwas Wertvollem, Echtem. Man hat sich ergeben. Die Erwachsenen ahnen ja nicht, was in den Köpfen und Seelen von Rittern auf der Suche nach dem Gral vorgeht.

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Mitten in unserer modernen „Demokratie“ leben die Kinder unter einer Tyrannenherrschaft – mit deren bekannten Abwandlungen: von übermäßiger Herrschsucht bis zum scheinbar einsichtigen und zurückhaltenden Despotentum, was untereinander keinen erheblichen Unterschied macht. Kinder haben keinerlei Rechte außer den von oben herab diktierten, die jederzeit widerrufen werden können.

Kinder werden in ihrer Eigenschaft als gesetzlich diskriminierte Gruppe in ihrer Gesamtheit körperlich und seelisch bearbeitet und geformt im Hinblick auf ihre spätere Ausbeutung. Die Kinder sind eine unterdrückte Klasse. Sie bilden innerhalb der niederen oder höheren Klasse (je nach Wirtschaftssystem, rassischen oder kulturellen Bedingungen), in die sie zufällig hineingeboren werden, immer die nächstniedrigere Klasse. 

 


* Christiane Rochefort, Kinder, München 1977 (Frankreich 1976), S. 49 f.

Ihr Roman "Zum Glück gehts dem Sommer entgegen" ist ein Klassiker der Kinderrechtsbewegung – einfach schön. Erschienen 1977 (Frankreich 1975)


Montag, 4. Dezember 2023

Gleichwertigkeit in der Ungleichheit

 

 

Ich erzähle von der Gleichwertigkeit. Von der zwischen Erwachsenen und Kindern. "Ja", sagen die Leute dann, "das kennen wir. Wir sind achtsam mit den Kindern. Wir sehen, dass sie eigene Persönlichkeiten sind und wir setzen sie nicht herab." Ich merke dann, dass es schwierig wird.

Wenn man achtsam mit den Kindern ist, dann gibt es da noch etwas zu entdecken. Etwas, das über die Achtsamkeit und das Einfühlen hinausgeht. Davon will ich erzählen. Von einer Gleichwertigkeit, die hinter der Ungleichheit existiert. Und auch hinter der Achtsamkeit. 

Als Erwachsener bin ich immer wieder und unvermeidbar derjenige, der sich den Kindern gegenüber durchsetzt. Die dort bestehende Ungleichheit, sie ist, findet statt. Und sie wird auch von den Kindern erlebt. Hingenommen, bekämpft, akzeptiert, wie es kommt und wie die Kinder grad drauf sind. Ich lasse mein Kind nicht an der Steckdose rumspielen, abertausend Situationen, immer prall voll Oben-Unten. Gleichwertigkeit hat da nichts zu suchen. Achtsamkeit und Einfühlen schon. Durchsetzen mit Achtsamkeit und Einfühlen ist die hohe Schule.

"Ich stehe nicht wirklich über Dir, wenn ich mich durchsetze. Ich bin nicht richtiger, wertvoller, besser." Wer soll das verstehen?

Ich weiß um die Gleichwertigkeit in der Ungleichheit. Ich weiß, wie das geht. Und ich erkläre es gern. Es ist mühsam, mir zu folgen. Wer kommt mit?

"Was soll dabei rumkommen?" "Na ja", sage ich. "Entspannung im Alltag mit den Kindern, Harmonie, Frieden halt. Ungebrochene Selbstliebe bei den Kindern, Geborgenheit. Ein besonderes Maß von all dem. Etwas, das sich bei aller Achtsamkeit und Einfühlung nicht erreichen lässt. Ein Mehr an Liebe zwischen Eltern und Kindern als man sich vorstellen kann."

Dann soll ich erzählen. Und dann erzähle ich. Vom Indigenen und dem Büffel, von der Schweineschnauze, vom großen Steinehaufen, von der großen Ebene, vom guten Ton, vom Telefonieren mit Albert, Rudi und Mary, vom Freiheitskämpfer, von Distel und Brennnessel, vom Rauchen, vom Nachhausekommen, von den Eisbällchen.* Und von all diesen vielen Zauberdingen und all den Türen noch. Ich lade die Leute ein, und wenn sie denn mitkommen, sich bedanken und erfüllt sind - dann bin ich zufrieden und fühl mich beschenkt.




* Diese Beispiele und Bilder sind nachzuschlagen in dem Buch über meine Vorträge: „Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen“. Das Buch ist auf meiner Website vorgestellt: amication.de

Montag, 27. November 2023

Wer aber waren wir?

 


Alle unsere Wahrnehmungen von der Welt kommen aus uns selbst, und doch liegen vor und hinter ihnen unendlich viele Wahrnehmungen anderer. All derer, die uns wissen ließen, wie dieses und jenes wahrzunehmen sei, und das wir so oder anders von ihnen übernommen haben. Als Kinder haben wir von Anfang an unzählige Informationen zur Weltdeutung erhalten, von den Erwachsenen unserer Zeit. Ihr Wissen um die Welt wurde zur Grundlage unseres Weltverstehens. Und auch wenn wir später entgegen ihren Deutungen anderen und neuen Sichtweisen folgen, ist es doch so, dass die in der Kindheit erfahrende Weltdeutung niemals wirklich verlassen werden kann.

Wie nehmen wir uns selbst wahr? Wer bin ich? Neben vielen anderen Aspekten der Identitätsfrage gehe ich einem besonderen Gedanken nach: Wir lernten und erfuhren als Tatsache des Lebens, als Selbstverständlichkeit unserer Eltern und Großen, wenn sie über uns nachdachten und etwas über uns sagten und etwas zu uns sagten, wir erfuhren als eine selbstverständliche Basisinformation, dass Kinder anders waren als sie – und dass sie anders waren als wir. Wir und sie – sie und wir: das waren zwei verschiedene Welten. Und im Hintergrund war präsent, dass unsere (Kinder)Art zu sein nicht die eigentliche Art zu sein wäre, wie sie den wirklichen und wahren Menschen, den Großen, ihnen also, zukommt. Wie sie meinten.

Nun lag es damals aber nicht an, zu bemerken, dass wir eines Tages auch groß, so wie sie, sein würden. Merkwürdigerweise spielte das einfach keine Rolle. Merkwürdig deswegen, weil ich heute, selbst groß, denke, wir Kinder hätten es von ihren Gesichtern ablesen können: ihr werdet eines Tages auch Große. Das war so aber nicht der Fall. Nein, es war so: wir hier – sie dort.

Dieses Basiswissen vom eigenen Standort – wir hier, im Unterschied zu euch dort –, der zugleich der Standort vieler anderer auch war, aber nur der anderen, die in der gleichen Situation des Lebens waren, also: der anderen Kinder – dieses Basiswissen und vor allem das Gefühl von diesem Standort gingen nach und nach verloren, zu der Zeit, als man selbst erwachsen wurde. Dann galten andere Bezüge, der andere Standort. Und der Kontakt zum Wissen und Fühlen der damaligen Wahrheit riss ab. Und seitdem leben wir in unserer Welt, der Welt der Erwachsenen.

Doch zurück zu der Basis der Kindheit, zu dieser Basis, dem Wissen und dem Gefühl der eigenen Welt, der eigenen Sprache, der eigenen Interpretation – immer anders als die der Großen, immer gleich wie die der Gleichaltrigen. Und immer vorgegeben von den Großen: vorgegeben aber nur insofern, als es das Faktische betrifft, wie dann, wenn etwas vorgegeben ist, das der eigenen Vereinnahmung bedarf: »Das ist die Sonne« musste von uns Kindern zurechtgelegt werden, übersetzt werden in unsere real existierende Welt, transportiert werden in unser Weltbild. »Das ist ein Auto« ebenfalls. Mit allem ging das so. Und auch mit der Aussage: »Das bist Du«, was übersetzt hieß: »Das bin (also) ich«.

Wer aber waren wir?

 

Montag, 20. November 2023

Kind ist jetzt

 

 

Was wurde uns Kindern gesagt? Neben vielem auch, ohne Worte – wir seien Kinder. Nicht Erwachsene. (Das waren ja sie.) Und Kinder, das weiß jeder Erwachsene, entwickeln sich, sie wachsen, sie werden. Sie werden. Was werden Kinder? Sie werden Erwachsene. Eines Tages. Wir erfuhren also: Ihr seid jetzt Kinder – und damit seid ihr Leute, die werden. Die Erwachsene werden. (Und dann sollten wir außerdem und vor allem gute Erwachsene werden, keine bösen, missratenen sondern vorzeigbare, wertvolle, tüchtige, solche, auf die Verlass ist und auf die man stolz sein kann.) Der Sog zu werden war wie zuckersüßer Sand über uns gestreut, wir nahmen ihn auf und wir wurden.

Wenn wir Kinder um uns haben, sehen wir sie so, wie wir gesehen wurden: als Wesen, die werden. Und wir sehen sie weniger oder nicht oder ganz und gar nicht als Wesen, die sind. Und dennoch: Als wir selbst Kinder waren, war uns präsent, selbstverständlich, Basis: dass wir sind. Jetzt. Und gleich. Und eben. Wir lebten uns und waren in der Zeit, mit der Zeit, nicht im Gegensatz zur Zeit, nicht im Streit mit der Zeit, nicht jenseits oder vor der Zeit, der eigentlichen Zeit. Wir waren nicht im Werden, sondern im Sein.

Wer ist dieses Kind vor mir? Wer ist dieses Jetztwesen? Das interessiert mich, das ist meine Frage, meine Aufmerksamkeit, meine Intuition, meine Art. Ich habe mich gelöst von der Werden-Perspektive. Ich habe diese Perspektive nicht gänzlich verlassen, aber sie kommt mir nicht zur Unzeit dazwischen, sie hat mich nicht im Griff. Ich habe sie bei Bedarf, ich wende sie an, nicht sie mich. Wer ist also dieses Kind vor mir jetzt?

Ein NochEinBrotKind. KeinHausaufgabenMacheKind. Ein BruderKämpfeKind. EinJammerUndGeschreiKind. Ein MitTierenBehutsamUmgeheKind. Ein MüdeKind. Ein JetztEinschlafeKind. Ein DuHastHierNichtsVerlorenKind. Ein IchBinSchonFertigKind. Ein DannSpielIchEbenGarNichtMehrKind. Ein LaßMichInRuheKind. Ein IchHelfeDirKind. Kein SchnallDichAnKind. Ein TreppengeländerRutscheKind. Ein HonigSchmierKind. Kein ZähnePutzKind. Kein MitDemHundRausgehKind. Ein MeinZahnIstWegKind. Ein IchHabeSchlechtGeträumtKind. Kein HändeWaschKind. Kein FährtVernünftigMitDemRadKind. Ein MirIstKaltKind. Ein WieSpätIstEsKind. Ein WannSindWirDaKind. Ein SagIchNichtKind. Ein HabIchAberWohlKind. Ein KlavierspielenÜbeKind. Ein KarateTrainingKind. Ein BlumenstraussPflückeKind. Ein DiskoBesucheKind. Ein NichtraucherKind. Ein IchGehZumReitenKind. Kein IchHabDenSchlüsselVergessenKind. Ein IchHabeMeinZimmerAufgeräumtKind. Ein DaranHabeIchNichtGedachtKind. Ein DasHabeIchDirMitgebrachtKind. Kein FrühstücksbrotAufesseKind. Ein DasWarIchNichtKind. Ein SpielstDuMitMirKind. Ein KicherKind. Ein IchFreuMichAufKind.


 

Montag, 13. November 2023

Einmischen wenn Kinder streiten?

 

  

Ich bekomme mit, wie zwei ältere Kinder (9) ein jüngeres Kind (6) ärgern. Lars und Moritz lassen Nils nicht mitspielen, obwohl sie zu dritt verabredet sind. Nils sitzt da und weint.

Das kann ich nicht so stehen lassen. "Ihr seid zu dritt unterwegs", sage ich zu den beiden. "Lasst Nils nicht hängen." Es kommt nichts Nettes. "Der heult doch nur." Was jetzt?

Soll ich mich kümmern, mehr als diesen Satz einwerfen? Wenn ich weiter interveniere, werde ich als jemand wahrgenommen, der die übliche Macht hat. Die Macht, anzuordnen, was Kinder zu tun und zu lassen haben. Das ist nichts, was ich will, und nichts, wie ich mich verstehe. Ich lasse die Kinder ihre Dinge tun, kommentiere das schon mal, misch mich auch schon mal ein, lass auch kein Kind an der Steckdose rumspielen. Aber eigentlich: lass ich sie ihre Dinge tun.

Eigentlich. Aber jetzt wegschauen? Ich will den weinenden Nils nicht im Stich lassen. Ich will aber den beiden Großen auch nicht vorschreiben, was sie zu tun haben, also Nils mitspielen lassen. Dilemma, Zwickmühle. Da ist Haltung gefragt. Nicht Wegschauen. Hinschauen. Und aktiv werden.

Na ja, das ist ein generelles Problem/Thema. Kommt am Tag zig mal vor, mal kleiner, mal größer. Einmischen bei einem Streit im Supermarkt? Hab ich gemacht. Einmischen bei einem Parkplatzstreit? Hab ich nicht gemacht. Unterschrift für den Erhalt der Kita? Hab ich gemacht. Demonstration für den Hambacher Forst? Hab ich nicht gemacht. Mal schau ich hin und tu was, mal schau ich weg und tu nichts.

Wenn ich nichts tue, obwohl ich etwas tun könnte. Wenn ich das Ungemach/Leid/Übel stehen lasse, was mir über den Weg läuft und mich ruft - dann sag ich, dass ich mich nicht um alles kümmern kann. Was aber so ja nicht stimmt, denn um vieles von dem Alles könnte ich mich ja sehr wohl kümmern. Angefangen damit, vegetarisch zu essen, mit dem Rad zum Einkaufen zu fahren, bei Greenpeace Mitglied zu werden.

Es gibt da eine Bremse in mir. Ein Stoppschild. Ja, ich könnte dem Bettler einen Euro in seinen Becher tun, aber ich tu es nicht. Ziemlich gemein, mein Einkauf hat 25 Euro gekostet, und jetzt kein Euro für den Mann ohne Beine? Ich bin da nicht stolz drauf oder irgendwie so naseweisaufmichaufpasserisch. Ich finds blöd, aber ich lass es dann so sein. Nehme es mir nicht übel, aber find es eben auch nicht schön. So eine Mischung.

Nils' Tränen sind mir aber zu viel. Die fehlenden Beine des Bettlers waren es nicht. Wie soll ich da gut rauskommen? Mir ist klar, dass ich den Großen nicht Sympathie verordnen kann. So was funktioniert nicht. Aber ich kann mich unabhängig von einer Intervention bei Lars und Moritz um Nils und sein Leid kümmern.

"Die wollen nicht mit Dir Spielen." Feststellung, Kontaktaufnahme. Das ganze "Sollen sie aber doch" wisch ich weg. Ich nehme Nils auf den Arm. "Komm, wir holen Salat aus dem Garten fürs Abendessen." Nils sucht einen schönen Salatkopf aus.

 

Montag, 6. November 2023

Die Würde des Bösen - Vortrag Hintergrund

 


 

 Vortragsabend

Dr. Hubertus von Schoenebeck

Die Würde des Bösen

Von Terroristen und anderen Ungeheuern

Vortrag mit Gespräch

 

 Hintergrund


Seit vielen Jahren trete ich dafür ein, dass Kinder nicht pädagogisch-missionarisch gesehen werden sollten, sondern dass ihre eigene innere Welt gleichwertig wie die innere Welt der Erwachsenen erkannt und geachtet wird.

Über diesen postpädagogischen Ansatz habe ich geforscht und an der Universität Osnabrück im Jahr 1980 zum Dr. phil. promoviert. Für die postpädagogische Gleichwertigkeits-Perspektive bin ich seitdem in der Erwachsenen- und Familienbildung und der akademischen Ausbildung mit über 2000 Veranstaltungen tätig und habe zahlreiche Veröffentlichungen publiziert.

Meine Sichtweise auf den Umgang mit Kindern hat eine große Tragweite auch für den Erwachsenen selbst, das groß gewordene Kind. In meinen Veranstaltungen wird dies für jeden Teilnehmenden deutlich, oft sind die Anwesenden am Schluss sehr nachdenklich und angerührt.

In der gegenwärtigen unruhigen Weltlage habe ich mich entschieden, auch Vorträge für ein breiteres Publikum zu halten als für Eltern und pädagogische Fachleute. Dort heißen meine Vorträge und Seminare „Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen“.

Die wichtigste Komponente meiner Sichtweise ist die Gleichwertigkeit der Menschen in Bezug auf ihre Selbstkompetenz und Würde. Diese Würde-Gleichwertigkeit ist für mich unteilbar und gilt auch für die Menschen, die wir als böse erleben. Sei es im Kleinen: „Das Schwein hat mich verlassen“ oder im Großen: „Der Terrorist fällt über Unschuldige her“.

Ich habe erkannt, dass diese Herabsetzung anderer, die wir als böse einstufen, in der traumatischen Kindheitserfahrung als „ungezogenes“ und „böses“ Kind verwurzelt ist.

Hierüber möchte ich in meinem Vortrag zum Nachdenken anregen. Ich zeige den Teilnehmenden, dass der Bezug zur Würde eines „Bösewichts“ niemals verloren gehen muss, auch nicht zu dem „Bösen“ in uns selbst. Was niemanden daran hindern soll, gegen einen solchen „Bösen mit Würde“ so energisch vorzugehen, wie das jeweils für das eigene Wohl und die eigenen Werte erforderlich ist. Kurzgefasst: Durchsetzen ja, herabsetzen nein. Denn: Die Würde des Menschen ist unantastbar.



 

Montag, 30. Oktober 2023

Die Würde des Bösen

 


 

Vortragsabend

Dr. Hubertus von Schoenebeck

 Die Würde des Bösen

 Von Terroristen und anderen Ungeheuern

Vortrag mit Gespräch


In der Kindheit haben wir oft zu hören bekommen, dass wir unartig und böse seien... Doch welche Anmaßung! Wir haben wie jedes Kind, das sich auf die Erde wirft und schreit, unsere Interessen vertreten und waren in innerer Harmonie. Aber wir wurden aus-geschimpft, und das Böse-Narrativ der Erwachsenenwelt fraß sich in unsere Seele. Und so sehen wir heute viele Menschen am Werk, die böse sind – im Kleinen: „Das Schwein hat mich verlassen“ und im Großen: „Der Terrorist fällt über Unschuldige her“.


Der Abend zeigt Ihnen, wie sich dieses herabsetzende Muster, was ja auch uns selbst gegenüber so viel Macht hat, erkennen und überwinden lässt. Nein, niemand ist böse! Wir können uns lieben, so wie wir sind, und das gilt auch für jeden anderen. Denn die Würde des Menschen ist unantastbar – auch wenn er noch so Schreckliches tut und wir uns kraftvoll zur Wehr setzen.


Dr. phil. Hubertus von Schoenebeck hat Sachbücher zu Erziehungsfragen und über die Selbstliebe veröffentlicht und ist seit über 30 Jahren in der Erwachsenenbildung tätig. 

 

 

Montag, 23. Oktober 2023

Political Correctness - Aber!



In unseren Zeiten von überbordender political correctness reizt es mich schon, all dem mein „Alles geschieht aus Liebe“ entgegenzuhalten. Ich bin da ganz gern mal frech. Ich übersehe nicht die Wichtigkeit von MeToo und anderem, und Leid rührt mich an. Mein Mitgefühl gehört den Misshandelten, Unterdrückten, Ohnmächtigen.

Aber! Aber ich zeig den zu Recht Empörten gern mal den großen Teppich: „Leute, kommt mal wieder runter!“ Runter auf den Teppich, auf den das Ganze aus meiner Sicht bei allem Leid eben doch gehört: den Teppich der Würde jedes Einzelnen. Den Teppich, auf dem auch die bösesten Bösewichte der kleinen Welt und der großen Welt stehen.

Montag, 16. Oktober 2023

Es gibt keine Fehler!

 


 

 "Sie sagen, man kann keine Fehler machen. Was meinen Sie damit?" Frage auf dem Vortrag. Ich erkläre, aber ich weiß auch, dass meine Erklärung zum "Keine Fehler machen" nicht jeden erreicht. "Man macht aber doch Fehler. Und man kommt nur weiter, wenn man seine Fehler erkennt und daran arbeitet."

Klar mache ich oft etwas anders als eben. Weil das Eben nicht so war, wie ich es gern gehabt hätte. Ich schlage mir nicht zum zweiten Mal mit dem Hammer auf den Finger, ich parke diesmal vorsichtiger ein, ich ziehe mich wärmer an. Der falsche Schlag, das falsche Parken, die falsche Kleidung: wieviel Fehler steckt da drin? Und passt "falsch" eigentlich?

Ich bin da schon hellhörig. Um das Wort "Fehler" herum gibt es eine Ausstrahlung, eine verborgene Botschaft, eine Hintergrundmusik, die ich nicht mag. Herabsetzung, Besserwisserei, Demütigung, Schlechtsein. Die ungute Bösewelt taucht auf, wenn von einem Fehler die Rede ist. Und da jeder Mensch für mich sinnvoll und Ebenbild Gottes ist, passt das nicht zusammen.

Beim Rechnen kann ich den "Fehler" leichter akzeptieren. 3 plus 3 gleich 7 ist falsch. Ein Fehler? Ein Rechenfehler ja, aber ein Fehler? Wer drei und drei addiert zu sieben, der fällt aus dem Sinn, dem universellen kosmischen Sinn ja nicht heraus. Er ist unkonzentriert in Sachen Algebra, will den Lehrer ärgern, seinen Protest gegen die Mathematik, die die Atombombe hervorgebracht hat, demonstrieren oder sonst was. Er kommt nicht zur mathematisch! richtigen Lösung. Aber seine Lösung "Sieben"" ist nicht in einem höheren Sinn ein Fehler. "Sieben" ist Ausdruck seines Insgesamts, seines Sinns, seiner Liebe und Schönheit. "Fehler" passt nicht, "Rechenfehler" schon.

Bin ich da überdreht? Ist so etwas alltagstauglich? Tja, ich verhandle beim "Fehler" eben etwas Grundsätzliches. Das Fundament der Amication ist gebaut ohne den Fehler. Ohne die ungute Welt, die den Fehler umgibt.

Ungute Welten gibt es bei vielen Wörtern, die wir dann vermeiden. Sie drücken Zusammenhänge aus, die nicht mehr passen und ersetzt werden. So eine politische Korrektheit lässt sich auch übertreiben, aber oft ist es eben stimmig. Statt "Neger" gilt "Schwarze". Und oft fehlt auch ein neues Wort. "Unkraut" für die Distel und die Brennessel? Sie sind die Heimat von Schmetterlingen und habe ihren Platz im
Ökosystem. Ein neues Wort für "Unkraut" fehlt. Wie beim "Fehler". Distel und Brennessel existieren, aber die Unkrautwolke hüllt sie nicht mehr ein. Mein Tun und seine Folgen (Toter Hund, Blechschaden, Erkältung) gibt es, aber ohne Fehlerwolke.

Ich kann also keine Fehler machen, selbst wenn ich es wollte. Weil ich die kosmische Konstruktivität, die mich existieren lässt, nicht verlassen kann. Ich bin aus Konstruktivität entstanden und gewoben, jenseits aller Fehlerei.

"Sie können es jederzeit anders machen als eben", sage ich. "Aber Sie müssen über das Eben nicht schlecht denken. Das Eben war ja grad eine gültige Gegenwart. Warum wollen Sie ihre Vergangenheit schlecht dastehen lassen und ihr – also sich – Vorhaltungen machen? Kann man tun, muss man aber nicht tun. Man muss nichts an sich fehlerhaft finden, auch nicht das, was grad schiefgegangen ist."

Danach kommt dann gleich das Gespräch über das Leid, dass durch Fehler entsteht. Fußgänger angefahren, Kind angebrüllt, Partner verlassen. Ja, durch unser Tun entsteht immer wieder auch Leid, und das ist ein großes anderes Thema. Fehler aber? Passt auch bei der Leidthematik nicht. Ich tue immer Sinnvolles, Fehlerloses, und dabei kann es durchaus immer wieder zu Leid kommen. Fehlerlos sein öffnet nicht das Tor zu leidfrei sein und führt auch nicht in die Lieblosigkeit. Ohne Fehler zu leben schließt kein Tor sondern lässt ein Tor offen. Das Tor, hinter dem ich in Harmonie mit der Welt und mir lebe.

 

Montag, 9. Oktober 2023

Wie soll ich Amication in die Praxis umsetzen?

 


Gestern im Vortrag zur Amication fragt mich eine Mutter, wie sich das denn alles in die eigene Praxis übertragen lässt. Ich sage ihr dann das, was ich dazu einmal aufgeschrieben und in meine Text-Schatzkiste gesteckt habe:

»Wie soll ich Amication in die Praxis umsetzen? « Das geht natürlich nicht! Nicht so, wie es in dieser Frage aufscheint. Als Anwendung. Als etwas, das gekonnt sein will. Das man lernen kann. So geht es eben nicht!

Wie aber dann? Nun – es passiert einfach. Beiläufig. Ohne Absicht. Als Geschenk. Einfach so. Aber: nicht jedem passiert es, und nicht zu jeder Zeit und an jedem Ort. Es braucht günstige Umstände. Gute Zeiten. Sonne am Himmel. Besser: Sonne im Herzen. Denn mit dem Herzen hat es zu tun. Amication ist ja auch eine Herzenssache. Und die kommt gleich nach der Verstandessache. Oder vorher. Mit dem Verstand könnt Ihr herausfinden, welche Gipfel der Erkenntnis überhaupt in Frage kommen. Welche Gipfel der Ethik und Moral, der Philosophie und der Lebensfreude Ihr denn überhaupt als die eigenen ansehen möchtet. Und welche Ihr dann besteigen wollt, die Gipfel, auf denen Ihr zu Hause seid, im Nachdenken, mit dem Verstand, mit der intellektuellen Identität.

»Zu mir gehört Amication«. So ein Satz ist eine klare Kopfposition. Und gleich danach und eigentlich ja davor kommt das Herz: »Das fühle ich, diese amicativen Matterhörner und Wasserfälle, Kuhglocken und Schneereste, Murmeltiere und Alpensegler, Enziane und Berghütten. Das alles fühle ich eben – die amicativen Sonnenstrahlen wärmen mein Herz, erfüllen mich und machen mich froh. Wenn Ihr das fühlt (wenn Ihr das fühlt), dann ist der Rest – der ganze Rest: die so genannte Umsetzung – eine Naturgewalt, die sich eben einfach ereignet. Die nicht inszeniert werden kann, sondern die sich ergibt. Als Ausdruck dieses amicativ schlagenden Herzens, dieses Gefühls: »So – genau so ist es für mich richtig. Alles – die Amication rauf und runter, alle zwölf Punkte der Grundlagen und zigtausend amicative Dinge mehr.«

»Das sagt mir was, die Amciation. Das ist mein Zuhause. Darin lebe ich. Das ist alles für mich so selbstverständlich.« Dann hat die Umsetzung längst begonnen. Euer Herz hat sich verwandelt, Ihr habt es umgesetzt in amicatives Land. Mehr ist nicht nötig, und mehr geht auch gar nicht. Nur so lässt sich Amication »umsetzen«.

»Kann man das nicht ein bisschen konkreter haben? So, dass man sich etwas unter amicativer Umsetzung vorstellen kann?« Bitte was? Wie soll man sich denn eine solche Herzumsetzung vorstellen? So etwas macht kein Arzt und keine Medizin, so etwas wächst. Von allein, oder eben nicht. Und je nach Umständen. Ja, natürlich, man muss dafür offen sein, ein bisschen jedenfalls. Ohne dieses bisschen mitgebrachte Offenheit geht es nicht. Und ob man so ein Stückchen Offenheit im Lebensrucksack hat oder nicht – das ist ein Geheimnis, das jeder in sich hat.


 



 

Montag, 2. Oktober 2023

Raum geben

 




Ich bin mit dem Auto unterwegs. Vor mir, in der Tempo-30-Zone, fahren zwei Jungen (8) mit ihren Tretrollern auf der Fahrbahn: Sie gehören auf den Bürgersteig, schon klar. Tun sie aber nicht, auch klar. Ich kann sie von der Straße scheuchen, ein kurzes Antuten reicht, wieder klar. Tu ich aber nicht.

Ich lass sie in Ruhe vor mir herfahren, halte so viel Abstand, dass sie merken, dass ich sie lasse. Es dauert ja auch nicht lange, nach einer halben Minute sind sie in einer Einfahrt verschwunden.

Ich habe ihnen Raum gegeben. Muss ich nicht machen, kann ich machen. Großer Bogen: Merke ich, wenn mir das Leben Raum gibt? Muss es ja nicht machen, kann es aber machen. Die Jungen haben mein Raum-Geben gemerkt. Ich war schon ungewöhnlich, ein Autofahrer macht so etwas nicht, er bringt Rollerkinder auf Vordermann, auf den Bürgersteig. Merke ich, wann mir das Leben Raum gibt?

Aber was heißt schon das Leben! Es sind die Umstände, der Tag, das Wetter, die Leute rechts und links, die Nahen und die Fernen. Ich sehe auf meiner Radtour 15 Pferde auf einer Koppel. Sie haben Platz. Raum. Hat der Bauer ihnen Raum gegeben? Ich komme am Reiterhof vorbei, die Pferde dort stehen einzeln in ihre Boxen. Kleiner Raum. Auch Raum gegeben? Merken Pferde so etwas? Klar, eine große Koppel ist etwas anders als eine kleine Box.

Auf welcher Koppel bin ich unterwegs? In welcher Box stehe ich? Ein Pferd muss nehmen, was kommt. Ich aber kann dran drehen! Die Jungen müssen auch nehmen was kommt: Der übliche Autofahrer, was Bürgersteig heißt. Oder ein Alien-Autofahrer, was Straße heißt. Ist mein Leben ein üblicher Raumgeber oder ein Alien-Raumgeber? Na ja, das Leben findet statt, macht sein Ding, egal, wer ich bin und was ich davon halte. Ich bin aber derjenige, der die Raumgröße definiert. Wobei man sich alles superschönreden kann: Raum ist in der kleinsten Hütte... Ist die Kabine in der ISS groß oder klein? Die Weiten des Weltalls... Im Frühtau zu Berge: Wanderweite Wälder und Höhen... Gelassenheiten und Aufgeregtheiten ... Die Raumgeschichte ist ein weites Feld. Bei jedem neuen Geburtstag kann ich den Raum sehen, den ich hatte, ein Jahr lang. Und jeden Abend, Tag für Tag, kann ich sehen: wie viel Raum!

Wenn die Kinder beim Anziehen nicht in die Gänge kommen: Ich kann zuwarten - ich kann Tempo machen. Wie viel Raumgeben hat in mir Platz? Kommt drauf an - auf alles, den Tag, die Umstände, die Stimmung, die Pläne, was weiß ich. Eins aber ist klar: Raumgeben ist erhebend, ist eine freudvolle Angelegenheit. Wie ich die beiden Kinder vor mir auf ihren Rollern sehe: es tut einfach gut, sie nicht zu stören. Ich bin gern ein Raumgeber, wenn ich denn ein Raumgeber grad sein kann.

 

Montag, 25. September 2023

Tagesbilder

 

 

Im Rückblick auf zwei Monate Sommerzeit habe ich zig große und kleine Begebenheiten vor Augen. Es ist ein feines Gewebe voller Bilder. Dies alles fließt in der Rückschau dahin wie ein großer Strom. Ich kann überall anhalten und mich an dies und das ranzoomen, an alles, was da in meiner gelebten Zeit so kreuchte und fleuchte. Die Vergangenheit ist ein weites Land hinter einem großen Tor, dem Jetzt-Tor.

Gehört das alles mir? Gehört das alles zu mir? Macht mich meine Vergangenheit aus? In wie viel Resonanz bin ich mit meiner Vergangenheit? Wer bestimmt hier die Auswahl und das Maß der Erinnerung? Bin ich das selbst oder gibt es da etwas, das mir die Bilder und Szenen vorlegt? Wie viel Selbstbestimmung habe ich im Umgang mit der Vergangenheit?

Na ja, ich muss mir solche Fragen nicht stellen. Ich kann all das, was geschehen ist, auch einfach geschehen sein lassen, sich in mir ausbreiten oder wegbreiten lassen, mal hier etwas merken, mal dort etwas nicht merken. Einfach fließen lassen, so wie es kommt. "Passt schon" sagen zum Vergangenheitswirbel in mir.

Beim Schreiben eines Posts, also jetzt, suche ich mir aus der riesigen Vielfalt meiner Erlebnisse irgendetwas heraus, über das ich schreiben will. Ich konzentriere mich und habe dann dieses oder jenes im Blick, hole es heran, drehe und wende es, und lass meine Gedanken drumrumlaufen. Und das, was dann da so läuft, tippe ich in die Tastatur und es wird der neue Post.

Die Geschehnisse des heutigen Tages: viel, sehr viel. Wie immer, jeder Tag hat ja seine 24 Stunden, zwei Drittel davon bin ich wach und ströme wach so in der Zeit dahin. Wo will ich anhalten – was spricht mich in der Rückschau an? So an, dass ich es als Einstieg für meine Zeilen nehmen kann? So dass sich daraus ein Thema ergibt, irgendwie mit Amicationsgedanken verspinnbar?

Von den tausend Heutebildern will ich aber keins für ein Nachsinnen nehmen. Ich sinne ja gern nach und ich sinne gut nach. Aber heute: da lasse ich die Zeitbilder nur kommen und bespinne sie nicht. Aber ich will bei einigen anhalten, sie zeigen, mitteilen, was mir meine Lebenszeit heute so geboten hat:

* Die Müslidose: alles fertiggemacht für den Tag, Apfel, Nüsse, Vollkornflocken – sieht gut aus. * Die Baustelle im Weg auf der Anfahrt zur Autobahn – halt einen Umweg fahren, nervt mich nicht. * Geburtstagsgeschenke von einer Freundin bekommen zum Weitergeben an drei Geburtstagskinder – ihr freudiger Blick auf die kommende Freude der Beschenkten. * Heute Kinderbetreuen, zwei Stunden Anfahrt – mach ich doch gern. *Als ich ankomme, sind die beiden Enkelkinder dabei, Zimtschnecken zu backen – auch hier ist Freude, sie backen ernsthaft und mit Freude. * Autofahrt in die Sonne zur Pizzeria mit den beiden Kindern an Bord – ein schöner Nachmittag beginnt. * Sie wollen auf einmal jetzt gar nichts essen, na gut, aber ich nehme einen Salat – wie unkompliziert wir das hinbekommen. * Salatfuttern auf dem umgefallenen Baumstamm – wir drei sind es zufrieden. * Zack, zack, zack die 129 gezählten Stufen den Longinusturm hoch – schaff ich doch! * Der Rundblick vom Turm auf das Abendsonnenland ringsum – schon magisch. * „Richtig gezählt“ – vom Turmwächter gibt’s eine Schleckerbelohnung. * „Lass das Auto die Straße bergab rollen, mal sehen, wie weit wir kommen“ – die Kinder schlagen ein Spiel vor, und ich spiele gern mit. * Auto anhalten, ein Enkel malt mit einem weißen Stein den Haltepunkt des ausgerollten Autos auf die Straße – so ein Nonsens, aber einfach schön! * Auf der Rückfahrt einen Bauernschleichweg einschlagen – noch etwas Nonsens, und wieder schön. * Die Katze kommt auf mich zu – ich fühle mich geehrt.

Endlos, diese Bilder des Tages. Sie lassen sich ja nicht vermeiden, wir leben in der Dimension der Zeit. Aber all diese Dinge da draußen vor mir sind ja auch in mir entstanden. Und in Resonanz zu all dem, was sich in mir im Laufe der vielen Jahre meines Lebens verdichtet hat. Dank und Willkommen Euch allen!





 


Montag, 24. Juli 2023

Sommerferien

 


Ich bin in den Sommerferien, der nächste Post kommt Mitte September. Habt alle eine schöne Zeit!  

 *

Ferienlektüre? Mein aktuelles Buch:


Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen. 296 Seiten. EUR 16,-, E-Book EUR 3,99


Montag, 17. Juli 2023

Schulzeugnisse




Mein Enkel hat vor ein paar Tagen sein erstes Schulzeugnis bekommen. Tja – die Zeugnisse gibt es immer noch. Und immer noch enthalten sie ein grandioses Unrecht.

Ich war Lehrer – und ich habe selbstverständlich! auch Noten gegeben. Ohne Notengebung kein Lehrersein. Klarer Fall, kein Pardon: Ich war genauso anmaßend und unterdrückend wie jeder andere Lehrer. Ich war mir aber darüber klar, welches Unrecht da von mir ausgeht. (Warum ich dann überhaupt als Lehrer gearbeitet habe, ist eine andere Frage.) Und mit diesem Bewusstsein konnte ich etwas erkennen, was "normalen" Lehrern verborgen ist. Und ich habe auch anders gehandelt, ein bisschen wenigstens... Aus meinem Schultagebuch*:

Große Debatte mit einer Gruppe von zehn Kindern (6a) die ganze Stunde über. Es geht um meine Notengebung. "Warum gibst Du Elisabeth keine Zwei, wo sie doch Zwei steht, wie Du selbst sagst?". Ich erkläre, dass es nicht gestattet ist, jemandem eine Zwei zu geben, wenn er auf dem letzten Zeugnis eine Fünf hatte. Und dass die Note am Ende des Schuljahres eine Gesamtnote für das ganze Schuljahr ist, dass also die Frühjahrsnote mit berücksichtigt werden muss. Aber das interessiert sie nicht.

Sie lassen sich nichts vormachen, wenn es um ihre Interessen geht. "Wenn Du meinst, dass sie eine Zwei kriegen kann, dann steht ihr das zu." Sie haben ihre eigenen Bezugsgrößen und Relevanzkriterien, die ihnen Auskunft darüber geben, was gut für sie ist und was nicht.

Ich trickse dann, um ihr die Zwei doch geben zu können. "Ja, da gibt es eine andere Regel, die sagt, dass man die bei einer Konferenz eingereichten Zensuren nicht mehr ändern darf." Die Begründung interessiert sie nicht, sie sind zufrieden, dass Elisabeth ihre Zwei bekommt. Mir aber ist sauunwohl dabei, der so nicht gültigen Vorschrift und der Kollegen wegen. Ich tröste mich damit, dass es nicht an die große Glocke kommen muss.

Und in mir kommt Wut über diesen ganzen Notenquatsch hoch. Selbstverständlich sind die Noten, die ich ihnen verpasst habe, von mir subjektiv zusammengebraut. Diese blödsinnigen Ansichten über "objektive" Notengebung! Derartige Beurteilungen sind Herrschaftsausübung, Kommunikationsvernichter, schlicht widerliche Angelegenheiten, inhuman. Wer anders darüber denkt, weiß nicht, was Sache ist bei denen, die das alles ertragen müssen. Und natürlich bin ich dafür, überhaupt keine Noten zu geben, all das "Ich weiß was über Dich" schleunigst sein zu lassen und statt dessen in ehrliche und gleichwertige Kommunikation einzutreten.

Mit der 5c bespreche ich die Noten auf dem Rasen. Ich gehe deswegen extra nach draußen. Es ist eine abgesicherte Gelegenheit, rauszugehen.

Mit vielen geht es schnell. Ich setze die Noten nach Gefühl fest und mit Hilfe von Notizen, wer mitgemacht hat. Ich gebe keine Fünf. Das mache ich sowieso nur dort, wo ich wegen schriftlicher Arbeiten nicht anders kann, also in Mathe. Aber in Bio und Physik, wie hier in der 5c, denke ich nicht daran, diesen Superirrsinn mit den Fünfen mitzumachen. Da habe ich keinerlei Skrupel, hier kann ich echt mal etwas machen. Denn in Fächern ohne schriftliche Arbeiten kann es sich jeder Lehrer sparen, Fünfen zu geben. Wer nie mitgemacht hat, kriegt eben eine Vier und Schluss.

Bei einigen schwanke ich, sie wünschen eine bessere Zensur. Sie sollen sie haben. Bei zwei anderen bleibe ich hart. Die akzeptieren. Insgesamt bin ich mit der Sache zufrieden und denke, dass ich mit meiner Notengebung fair bin.

Zum Schluss sind sie dann besessen von der Notengeberei. Sie hängen so davon ab. Das geht mir durch und durch. Sie leben mir vor: Gute Note heißt gut sein. Oh Mann!

Letzter Schultag vor den Ferien. In den Klassen werden die Zeugnisse verteilt. Ich denke daran, dass dies jetzt überall im Land passiert. Noten, deren Wirkung entweder heimlich, hinterrücks ist: Zerstörung des Selbstvertrauens, des Setzens auf sich selbst, durch die "guten" Noten der Erwachsenen. Oder brutal offen: Schlechte Note = schlechtes Kind.


* H.v.S., Kinderkreis im Mai, Die Revolution der Schule, 258 Seiten, Nienhagen 2006, EUR 14,80, ISBN 978-3-88739-028-0

(Erstausgabe 1980, Fischer-TB: „Der Versuch, ein kinderfreundlicher Lehrer zu sein“)


















Montag, 10. Juli 2023

Ärger? Ja mei!

 


 

Ich bin beim Babysitten. Ich hole Bilderbücher zum Anschauen. Als ich ein Tierbuch aufblättere, schiebt es der Zweijährige weg. Vorher hat er genickt, als ich Bücheransehen vorschlug. Er schiebt das Buch zweimal weg, dreimal, viermal. Ärger, in mir?

Das Rad eines Neunjährigen ist platt und muss repariert werden. "Ich will fahren" - klar. "Hilfst Du?" "Ja." Er hilft auch mit. Fünf Minuten. Dann hat er keine Lust mehr. Ich soll allein weitermachen. Ärger, in mir?

Ich besuche einen Freund. Wir quatschen. Auf einmal nimmt er sein Handy und tippt drauflos. Meine letzte Frage - hat er nicht mitbekommen. Ärger, in mir?

Heute habe ich drei Situationen erlebt, bei denen auf einmal Ärger in der Luft lag. Es ist etwas abgemacht (Buch anschauen, Rad reparieren, Quatschen), aber das, worauf man sich einstellt, sich einlässt, sich drauf freut, wird gekippt. Wie geht es mir mit
solchen Geschichten?

Klar gibt es Gründe, Zusagen nicht einzuhalten und Pläne zu ändern. In diesen drei Geschichten hat das aber eine besondere Qualität: Ich bin in die Änderung nicht eingebunden, sie wird mir vorgesetzt. Ich komm mir als Spielfigur im Spiel des
anderen vor, hin- und hergeschoben. Respektlos, würdelos.

Ärger steht vor der Tür. Klar kann ich das thematisieren, klar kann ich mich wehren. Die Bücher wegräumen, das Rad Rad sein lassen, nach Hause gehen. Mach ich auch, wenn ich mich würdelos behandelt fühle.

Ich kann aber auch anders. Also: ohne Ärger, ohne Würdekratzer. Ich kann auch gelassen, so wie ich Ärger kann. Kommt ganz drauf an, wie ich drauf bin. Gelassen: Ich weiß ja, dass jeder in seiner Welt unterwegs ist. Die ich nicht verstehen muss. Die ich aber gelten lassen kann. Kein Buch lesen - ja mei. Keine Reparaturhilfe mehr - ja mei. Keine Antwort, das Handy wird mir bevorzugt - ja mei.

Ich bin eigentlich immer angefasst, wenn ich hängen gelassen werde. Wenig Prozent oder viel Prozent. Aber Null gibt es nicht. Ich ziehe mich zurück und lass dem anderen seinen Kram. Ich kann es auch thematisieren, muss aber nicht sein. Bei dieser Handygeschichte bin ich längst im Humor: dieser Freund, wie viele andere, können gar nicht mehr anders. Irgendwie eine Zeitkrankheit.

Wenn mir etwas widerfährt, was ja gar nicht geht, was der andere aber so nicht mitkriegt: was soll ich davon halten? Will ich mit solchen Menschen zu tun haben? Soll ich mich äußern? Beschweren? Poltern oder den rechten Ton treffen? Einen Kurs in "Wie äußere ich verständnisvoll und effektiv mein Unbehagen" buchen?

Ich bin mir oft sicher, dass die anderen genau wissen, was los ist. Vordrängeln an der Kasse, Vorfahrt nehmen, Weggekicktwerden beim Gespräch. Sie wollen sich nicht – ja was? Benehmen? Achtungsvoll sein? Mich ernst nehmen? Ein weites Feld. Und ich habe keine Lust, da herumzustochern und ein Fass aufzumachen, das mir dann um die
Ohren fliegt.

Ärger - in mir? Bei einem Zweijährigen? Bei einem Neunjährigen? Bei einem Vertrauten? Heute ging es für mich ohne Ärger aus. Klar, bei dem schönen Wetter...





 

Montag, 3. Juli 2023

Wie geht das zusammen: Durchsetzen und Gleichwertigkeit?






"Durchsetzen" ist ein weites Feld. Wie ich mich denn durchsetze, wenn die Kinder nicht erzogen werden. Wenn sie sich selbst gehören, dann geht das mit dem Durchsetzen doch gar nicht. Folge: die Kinder können tun, was sie wollen. Bedeutet: Ganz und gar unrealistisch. Dass ich Unsinn erzähle, liegt im Raum.

Wenn ich mich durchsetze, bin ich oben und der andere ist unten. Nun spreche ich aber die ganze Zeit von der Gleichwertigkeit. Der generellen Gleichwertigkeit, als Paradigma der Postmoderne. Wie geht das zusammen, Durchsetzen und Gleichwertigkeit?

Menschen sind in zwei Dimensionen zu Hause: In der Welt der Dinge und in der Welt der Gefühle, im Außen und im Innen. In der Welt der Dinge wird das Oben-Unten nicht beendet, aufgegeben, schlecht geredet, verworfen. In der äußeren Welt bin ich immer wieder oben, der andere ist unten. Ich nehme Medizin, um Bakterien zu töten. Ich halte mein Kind von der Steckdose fern, um sein Leben zu wahren. Ich gewinne den 100-Meter-Lauf, die anderen verlieren. Amication verlässt in der Welt der Dinge nicht das Oben-Unten. Und in dieser Welt gibt es mit dem Oben halt das Durchsetzen.

Ich setze mich also durch. Wann? Große Vielfalt! Und ich kann mein Durchsetzen auch abbrechen oder es gleich ganz bleiben lassen. Wie es kommt. Wenn ich mich nicht durchsetze, werde ich durchgesetzt. Dann bin ich unten und der andere ist oben. Das lässt sich oft nicht vermeiden, es gehört dazu. Genauso, wie es dazu gehört, dass ich mich durchsetze. Von Gleichwertigkeit ist da keine Rede. Dennoch: Die Gleichwertigkeit zählt. Aber nur da, wo es passt und nicht aus dem Leben herausfällt. In der Welt der Dinge ist Gleichwertigkeit als etwas, das uneingschränkt gelten soll, Nonsens. In der Welt der Dinge kommt selbstverständlich die Gleichwertigkeit vor. Aber nicht als Nur, sondern als Auch. Die Waage im Gleichgewicht ist ein gutes Bild dafür. Oder das Unentschieden im Sport. Oder derselbe Preis beim Einkaufen.

Die Gleichwertigkeit zählt für mich uneingeschränkt, als Basiswert, als Paradigma in der Welt der Gefühle, Einstellungen, Werte, in der unsichtbaren Welt, im Innen. Muss nicht sein: Du Schwein, Neger, Unkraut, Spinner, Affe... Da lässt sich genug Oben-Unten finden. Auslachen, Demütigen, Beleidigen, Häme, Verachten, Hassen: Gibt´s genug von. Muss aber für mich nicht sein, und ist für mich nicht. Ich erkenne in der psychischen Dimension die Gleichwertigkeit. Das sehe ich so, das denke ich so, das will ich so. Das ist meine Position.

Diese Innen-Gleichwertigkeit verliere ich nicht bei der Außen-Ungleichwertigkeit. Ich setze mich durch und setze den anderen dabei nicht herab. Durchsetzen ja, Herabsetzen nein. Eigentlich einfach. Eigentlich ganz einfach.

Ja, eigentlich. Wenn man denn diese innere Gleichwertigkeitsidee gut findet und ihr folgen will. Aber. Aber heißt: wir sind in einer Kultur des Oben-Unten auch im Innen groß geworden, mit den Leitgrößen Gut und Böse. Das lässt sich nicht so ohne weiteres ins Museum bringen. Diese Ungleichwertigkeit hat ihr Eigenleben in uns. Macht aber nichts! Soll sie! Ich nehme es mir nicht übel, wenn das erlernte innere/psychische Oben-Unten irgendwie in mir rumspukt, immer mal wieder zum Vorschein kommt. Wobei ich ja von mir sage, dass mir das nicht mehr passiert, ein stolzes Wort.

Dass ich also niemanden herabsetze, auslache, demütige, beleidige, häme, verachte, hasse und Co. So bin ich halt unterwegs, und von diesem Unterwegssein in der Gleichwertigkeit erzähle ich auf den Vorträgen. Von den Ebenbildern Gottes, die wir alle sind, die wir aber unterschiedliche Wege gehen. Und wenn mir so ein Weg eines anderen nicht passt, dann stoppe ich ihn klipp und klar in der äußeren Welt. Halte einen Mörder fest, bis die Polizei kommt. Aber ich verachte ihn nicht. Da finde ich meine Position der uneingeschränkten Gleichwertigkeit in der inneren Welt doch sehr friedensmächtig und mach das einfach mal.

Montag, 26. Juni 2023

Abenteuerland, Gleis Neun





Vorigen Freitag habe ich meinem jüngsten Enkel (2) von der Kita abgeholt. Ich bin mit ihm dorthin gewandert, wo ich vor vier Jahren mit seinem Bruder oft war – zum Gleis Neun. Er hat mich angerührt, dieser Erinnerungsgang - und deswegen stelle ich den Post von damals heute noch einmal in den Blog.

*

"Kommst Du mit Deinem Enkel mit in den Zoo?" wurde ich neulich gefragt. Einige Tage später sah ich, wie eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter in ein Akrobaten-Varieté ging. Eltern nehmen ihre Kinder mit auf Abenteuer. Nicht, weil es sein muss (wie in abenteuerlichen Lebensumständen), sondern - warum eigentlich?

Ich bin mit meinen Kinder oft in den Wald gegangen, unser Abenteuerland. Auch in den Zoo, Zirkus, Kino, Badesee, Konzert, usw. Was schwingt da mit und was soll das? Das Leben für uns Erwachsene ist meistens straff organisiert, Verstecke und Nischen gibt es kaum. Mit den Kindern unterwegs sein ist offener, nicht so durchgestylt, nicht so wirklich berechenbar. Mit Einladung zum Chaos, zur Pause, zum Abenteuer. Die Kinder im Schlepp - das öffnet. Lässt sich nicht vermeiden, gehört dazu. Wenn Kinder dabei sind, sind alle Planungen nur solche auf Abruf.

Kinder fallen hin und brauchen Pflaster. Kinder haben Hunger und Durst. Kinder rennen hierhin und dorthin. Kinder weinen und lachen. Kinder hören weg und woanders hin. Kinder quengeln und widersetzen sich. Kinder fassen Hunde und Katzen an. Kinder ignorieren (Erwachsenen)Regeln und stellen eigene auf. Kinder beschmieren und bekleckern sich. Kinder kichern und schreien. Kinder rennen weg und platzen rein. Kinder sollen folgen und tun es nicht. Kinder sehen unordentlich aus und sind dreckig. Kinder machen keine Hausaufgaben sondern hängen am Handy.  Kinder gehen barfuß und ins Wasser. Kinder amüsieren und nerven. Kinder sind einfach nicht erwachsen.

So viele Unwägbarkeiten, so viele Fluchtwege, so viele verbotene Früchte, so viele Einladungen des Lebens. Und dem geben wir nach, gebe ich gerne nach, lass mich an die Hand nehmen: ins Abenteuerland. Klar, ich organisier den Einstieg. "Wir fahren in den Wald", "Heute Zoo, ok?", "Wir gehen ins Varieté". Aber der Impuls und der Schwung, das überhaupt in Erwägung zu ziehen, anzuzetteln und zu machen: Der kommt aus der Resonanz mit den Kindern. Es ist das Ding: gehe ich allein los? Weniger. Ich zieh mit den Kindern los. Ich höre ihr unausgesprochenes Summen: "Was machen wir heute?" Sie kommen schon klar, sie haben ihr Abenteuer, ihr Kinderleben ist ein einziges Abenteuer. Aber da kommt war rüber, bei mir an, lässt mich einschwingen. Und dann nehme ich sie in meine Spielwiesen mit, meinen Wald, Zoo oder Varieté.

Wenn ich gelegentlich meinen dreijährigen Enkel von der Kita abhole, gehen wir immer ein Stündchen zum Bahnhof, Bahnhof Altona. Gleis Neun. Bis gaaanz nach vorn, da, wo niemand mehr ist. Die rote Lok. Die schwarze Lok. Der blaue Zug. Der grüne Zug. Der weiße Zug. Der rote Zug. Es kommt einer. Es fährt einer. Der Lokführer. Der Kinderwagen. Die Stolperplatten. Signal rot. Signal grün. Einsteiger. Aussteiger. Mülltrennboxen. Wartehäuschen. Schaltkasten. Prellbock. Vornwind. Hintenwind. Vornsonne. Hintensonne. Zugbegleiter. Müllsammler. Ansagestimme. Das ganze Ambiente - reines Abenteuerland. Ich esse meinen Hamburger (nur das Fleisch, ohne die Pappe), er sein Schokoeis (im Becher mit Waffel). Das besorgen wir vorher, und dabei gerate ich in die Vorfreude: gleich verlassen wir die Leute, verlassen die Realität, biegen vom Hauptweg ab, ins Gleis Neun...

Montag, 19. Juni 2023

Alles geschieht aus Liebe

 


 

In der Postmoderne, dem philosophischen Großraum der Amication, gilt als Grundlage die Gleichwertigkeit aller Phänomene. Wenn aber alles den gleichen Rang hat - was ist dann richtig und was ist falsch? Was ist die Orientierung? Nun, jeder einzelne Mensch ist Orientierungspunkt. Was sind meine eigenen, subjektiven und privaten Werte? Ich entscheide mich in der großen Vielfalt der unendlichen Möglichkeiten. Ich bin der Mittelpunkt der Welt und des Universums. Ich sehe ringsum und beziehe meine Position. Ich wähle. Ich verantworte vor mir.

Meine Wahl und meine Werte stehen dabei nicht über der Wahl und den Werten anderer. Ich bin jedoch meinen Werten verpflichtet und setze mich für sie ein.

"Wenn alles gleichen Rang hat, dann kann doch jeder tun, was er will. Das gibt nur Mord und Totschlag und ist gewaltiger Nonsens und rechtfertigt allen Unsinn!" Kann tun, was er will? Tun? Der, den ein Kritiker da im Sinn hat (den durchgeknallten Bösewicht nämlich), ist nicht allein auf diesem Planeten. Milliarden andere Einzelne sind um ihn herum. Mit ihren Werten. Und wenn der angeführte Bösewicht anfängt, sein Ding zu TUN, dann sind die anderen drumherum und lassen es sich bieten - oder eben nicht. Und wenn sie es sich nicht bieten lassen, dann ist es aus mit dem "Der kann tun, was er will".

Ein jeder könnte tun, was er will. Könnte! Wenn die anderen ihn lassen. Mord und Totschlag? Ich bin einer der Milliarden Einzelnen, und in meiner Gegenwart gibt es weder Mord noch Totschlag (sofern ich die Gelegenheit und die Mittel habe, das zu verhindern). Amication ist keine offenes Tor fürs Drauflos des Einzelnen. Amication nimmt aus den Möglichkeiten die Oben-Unten-Position heraus und legt die Gleichwertigkeit zugrunde. Amication ist keine Betriebsanleitung für die Praxis ("Mach, was Du willst!"). Amication zeigt eine Verortungswelt auf, ist Hintergrundmusik für unser Handeln, Sinfonie der Gleichwertigkeit.

Ich bin nicht zimperlich. Wenn jemand in meiner Gegenwart seine Vorstellungen (die meinen gleichwertig sind) realisieren will und mir nicht passt, was er vorhat, dann unterbinde ich das. Mit den Mitteln, die ich habe und in der Hoffnung, dass sie ausreichen. Ich gewinne ja auch nicht immer, aber oft. In meiner Gegenwart schlägt kein verzweifelter Vater sein Kind, kein Dieb kommt mit der Handtasche einer alten Frau davon, kein Terrorist erschießt die Leute, kein Diktator zettelt einen Weltkrieg an.

Wenn ich interveniere, dann energisch, so dass das passiert, was ich will. Wenn ich einen Kindsmörder zur Strecke bringen kann, bevor er mein Kind abschlachtet und ich ihm zum Schluss in die Augen sehe, dann sage ich ohne Worte: "Du bist ein Ebenbild Gottes wie ich, kein Schwein. Aber Du willst einen Weg gehen, den ich nicht mitgehen kann." Ich töte ihn, aber ich nehme ihm nicht die Würde. Ich stehe nicht über ihm. Wie der Indigene den Büffel tötet, ohne über ihm zu stehen.

Wenn jeder aus seiner Sicht das für ihn Sinnvolle tut, tun will, dann folgt er einem universellen Sinn: Der Konstruktivität, die ihn leitet. Diese Konstruktivität gibt es im Universum seit dem Urknall, sie existiert in jedem Atom, Galaxie, Stern, Planeten, Stein, Pflanze, Tier, Mensch. Überall eben. Da bewegt sich nichts gegen sich. Und auch kein Mensch handelt gegen sich, und falls es doch so aussieht (sich jemand die Arme aufschlitzt, Heroin nimmt, von der Brücke springt), so geschieht es immer noch aus seinem Sinn, aus seiner Konstruktivität heraus.

Ein überhöhter Begriff für die universelle Konstruktivität mit Verortungen in vielen religiösen, spirituellen, philosophischen Bereichen ist Liebe. Alles geschieht aus diesem Ur. Ur was? Urplasma? Urstoff? Urphänomen? Urprinzip? Aus diesem Ur eben. Jeder einzelne ist in diesem Ur eingebettet, ist daraus gemacht und bewegt sich darin. Wie jedes einzelne Wassermolekül im Ozean, den Wolken, dem Regen. Es gibt kein Gegen-Ur. Keinen Gegensatz. Weder gut noch böse, richtig noch falsch. Einheitlich: Liebe.

Das aufs reale Leben runterzubrechen ist schwer. Der Kindsmörder ist Liebe und handelt aus Liebe? Adolf? Stalin? Mao? Putin? Tja. Aber so ist es.

Wenn man die Dinge so sieht, bekommt alles eine besondere Bedeutung. Alles wird handfest leichter, kraftvoll entspannter. Alles gibt, nichts nimmt. Die Würde bleibt. Nichts davon macht meine Entschlossenheit kleiner, diese Herrschaften zu stoppen in ihrem Tun. Meine Entschlossenheit ist ein scharfes Schwert. Und oft schaffe ich das ja auch. Kein verzweifelter Vater schlägt in meiner Gegenwart sein Kind...

Montag, 12. Juni 2023

Worum geht es in meinem Buch?



 

Ich bin grade dabei, Zeitungen und Zeitschriften ein Ansichts- und Rezensionsexemplar meines Buches "Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen" zu schicken. Dafür habe ich einen Informationstext gechrieben: Worum geht es in dem Buch? 


Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen

 

Intention und Zielgruppe

In meinem Buch geht es um die Würde des Kindes. Ich bin seit vielen Jahren hier engagiert, habe 2000 Vorträge und Seminare durchgeführt und etliche Bücher zu dieser Thematik publiziert. Dieses jetzt geschriebene Buch ist die Quintessenz all der Jahre. Ich möchte Eltern, aber auch pädagogische Fachleute für die Würde des Kindes sensibilisieren und die Empathie im Kinderzimmer fördern. Mein Buch soll Eltern helfen, sich vom Erziehungsdruck zu entlasten und dadurch der Erziehungstraumatisierung des Kindes entgegenwirken.

 

Inhalt

Es geht um das Projekt „Unterstützen statt erziehen“. Es unterscheidet sich vom traditionellen erzieherisch geprägten Umgang mit Kindern: Kinder sind vollwertige Menschen von Anfang an, sie müssen nicht erst durch Erziehung dazu gemacht werden. Ich nenne das den „postpädagogischen“ Ansatz und habe über diese Thematik zum Dr. phil. promoviert (Universität Osnabrück, 1980). Ich komme nicht antiautoritär daher, ein Nein ist ein Nein, aber das verletzende „Sieh das ein, ich habe recht“ gibt es bei mir nicht. Ich handle so wie alle Eltern – nur der seelische Grundton ist von einer spezifischen, im Buch erfahrbar vorgestellten achtungsvollen Art. „Ich bin ein vollwertiger Mensch, kein Erziehungswesen – ich brauche keine pädagogische Missionierung“: So verstehe ich Kinder, und wenn das eine freundliche Revolution im Kinderzimmer sein sollte – so ist mir das recht!

 

Geist, Stil, Leseabenteuer

Ich habe mit Esprit und Verve, persönlich und humorvoll geschrieben und viele, auch verblüffende Sprachbilder und manchmal surreale Erlebnis-Sequenzen geschaffen. So lasse ich auch Kinder, Babys und Embryos zu Wort kommen. Ich erzähle viel vom Erziehungshandeln, auch vom Klein-Klein des Alltags mit Kindern. Der Text hat eine eigene Dynamik und ist voller Überraschungen. Abschnitt für Abschnitt nehme ich die Leserin und den Leser behutsam mit in eine neuartige Welt des Umgangs mit Kindern – leicht zu lesen, unterhaltsam, mit Tiefgang und sehr anspruchsvoll in seiner Humandimension. Auch anrührend, aber nie übergriffig oder besserwisserisch. Ich präsentiere einen fulminanten phantasievollen Flug ins Kinderland. Doch trotz aller Märchenhaftigkeit bleibt es ein (persönlich geschriebenes) Sachbuch.

 

Aufbau

Das Buch besteht aus zwei Teilen. Ich beginne mit dem Wiederfinden der Kinder in meinem Lehrerstudium, berichte von meiner Verblüffung über den selbstverständlichen Umgangsmodus „Erziehung“ und führe nach und nach mit grundsätzlichen Gedanken und vielen Praxisbeispielen zu meinem Konzept „Unterstützen statt erziehen“ und seinen Implikationen. Ich runde mit Überlegungen darüber ab, dass die vorgestellten Ausführungen zum Umgang mit Kindern auch für die Erwachsenen selbst eine spezifische und emanzipatorische Bedeutung haben.

Im etwa gleich umfangreichen zweiten Teil gehe ich auf die Umsetzung und Praxis ein, die sich aus meiner Ideenwelt ergeben. Ich beantworte Praxisfragen von Teilnehmerinnen und Teilnehmern meiner Vorträge. Danach berichte ich von meiner eigenen Praxis mit meinen Kindern und Enkeln und von Erlebnissen mit Kindern aus meiner Dissertation. Details aus meiner Kindheit bilden den Abschluss des Buches. Im Anhang gehe ich auf die Postmoderne und die Frage nach Gut und Böse ein.

 

Montag, 5. Juni 2023

Handytime

 

 

Vor acht Jahren war ich mit den Handys meiner Kinder schwer beschäftigt. Wieviel lasse ich zu? Wann wird es mir zu viel? Was geht, was geht nicht? Bei einem Besuch bei Freunden in Polen hatte ich dann mein Aha-Erlebnis. 

Diese Woche war ich mit meinem Sohn wieder einmal bei den Freunden. Ich erinnere mich, klar und deutlich sehe ich die kleine Szene vor mir. Diese Szene - eingefangen in einem Post 2017:


*

Wie viel Handy, Smartphon und Co. darf in Kinderhänden sein? 1, 2, 3 Stunden am Tag? 24 Stunden? Ich habe gelernt, dazugelernt. Am besten finde heute ich die Allezeit-Position: die und auch meine Kinder geben ihrem Handysein Raum, sie bestimmen selbst über ihre Handyzeit. Allezeit. Wenn mir unbehaglich ist, sag ich das. Wenn ich es nicht mehr sehen kann, sag ich das. Was dann passiert? Mal sehen, je nachdem wie alles so spielt. Dann wird es ausgeschaltet, oder auch nicht. Dann fühl ich mich missachtet oder auch nicht. Dann geht das Abendland unter oder auch nicht. Dann hau ich auf den Putz oder auch nicht. Situation, flexibel, wenn die Sonne scheint ist es anders als wenn es regnet. 

Statt Brandenburger Tor: Handy. Statt Amsel: Handy. Statt Stadt-Land-Fluss: Handy. Geht ja gar nicht! Aber wenn sie so leben? Anders: Sie leben so. Sind in ihrer Welt unterwegs. Das Tor, die Amsel, das Spiel: kommen nicht zur rechten Zeit. Jetzt kommt's: Wer bestimmt, wann rechte Zeit ist? Mein Ding? Hallo, wer bin ich denn! Die Kinder leben ihr Leben. Ich freu mich, dass sie da sind. Muss mehr sein? Mehr muss nicht sein. 

Osterbesuch. Anna ist 16, voll im Handywahn. Mittagessen. Gäste - wir - sind da. Alle sitzen am Tisch, es ist festlich. Anna: nicht da. Ihre Eltern: Voll entspannt. Absolut kein Thema, die Nicht-Anna. Wir beginnen. Anna kommt. Mit Handy. Setzt sich hin, Handytime. Drei Löffel Suppe, nebenbei. Hauptmahlzeit: Handy. Und jetzt, so fantastisch, so magisch, so alle Bedenken niederreißend, so herzanrührend: sie schmiegt ihren Kopf an den Arm ihres Vaters, er hält sie, er isst weiter, er unterhält sich weiter. Mehr Harmonie geht nicht. Nach drei weiteren Löffeln geht sie wieder. Es ist so ... gut einfach. 

"Es ist ihre Welt. Ihr Leben. Wir sehen ein bisschen in ihre Zukunft, 2030, 2040. Wir sind dabei. Sie gestaltet ihr Leben." Ihr Vater liebt sie, sie fühlt sich bei ihm wohl, er fühlt sich bei ihr wohl. Diese Familie hat absolut kein Handyproblem. "Macht sie auch noch mal was anderes?" frage ich. Brandenburger Tor, Amsel, Stadt-Land-Fluss. Meine Dunkelwelt reißt an mir. Ihr Vater erzählt mir, was sie alles macht: Tor, Amsel, Spiel. Sie ist kein Alien. Sie ist Anna. Ein ganz normales Kind.  

 

*

Und Anna heute? Ist weltoffen, hat ihr Abitur gemacht und studiert. Ein ganz normales Kind.
 

Montag, 29. Mai 2023

Von Fischen und Wildschweinen

 

 

Ich bin mal wieder mit meiner Tochter und meinen Enkeln im Wildgehege unterwegs. Wir kommen zur Aussichtsplattform für die Wildschweine. Ich erinnere mich an das Erlebnis vor vier Jahren und stelle den Text von damals noch einmal in den Blog.

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Ich bin mit meiner Tochter und ihren Kindern im Wildgehege unterwegs. Nach einer Weile: "Spielst Du mit mir?" Mein dreijähriger Enkel will nicht die Tiere, nicht sein Laufrad, er will mich. Ich aber will mich grade ausruhen, ein bisschen herumgehen, ein bisschen Quatschen, ein bisschen Tiere, ein bisschen Family. Aber Spielen? Das braucht Konzentration, Aktion, Fantasie und Geduld. Was will ich?
 

Ich höre meinen Wunsch nach ruhiger Kugel, ich höre seinen Wunsch nach mir. Was Ende der Kugel heißt, was Kinderwelt heißt, irgendwie anstrengend. Ok, sage ich mir, na gut, und ich lass mich breitschlagen, fühl mich auch vom Kinderwunsch geehrt und vom Kind gemocht. Ich schließe meine Ruhetür und öffne die Spieltür. 

Erst gibts ein Versteckspiel. Hinter den Bäumen und Büschen. Das ist lustig. Dann sind wir oben auf der Aussichtplattform für die Wildschweine. Da liegt ein Stock rum, schon gibts Angelspiel. Fische werden an Land gezogen. Im Herd gebraten, mit Öl. Und gegessen, mit Zitrone und Petersilie. Mindestens 20 Fische werden geangelt. Dann nochmal Verstecken. Das Ganze dauert eine halbe Stunde, danach wandern wir alle zurück zum Parkplatz. 

"Spielst Du mit mir?" Das ist eine der schönen Fragen des Lebens. Wenn ich diesem Anruf folge, löst er mich aus meiner Ichwelt und bringt mich in die Wirwelt. Das ist zur richtigen Zeit, das ist zur falschen Zeit, das ist beglückend, das ist anstrengend - so, wie es gerade kommt. 

Es ist so was wie Zeitverschwendung dabei. Überflüssiges. Kinderkram eben. Und es ist Erhabenes dabei, Wahrheit, Sinn. Ist Spielen nicht wichtiger als meine ganzen Alltagsaktivitäten und Geschäftigkeiten? Es ist wichtiger, aber das Spielen hat nicht oft die Chance. Heute aber war sie da, diese Lebenschance, ergriffen, erlebt, erfüllt. 

"Spielst Du mit mir?" Wenn das Leben das an mich heranträgt und wenn ich das merke: dann ist es grandios. Dann beschwingt es mich, macht alles leicht, freundlich, unkompliziert. Ich lasse mich fallen in den Augenblick. 

Wie immer geht es um die Frage, wer ich sein will. Ich entscheide das. Aber ich will auch gefragt und gelockt sein. Wenn ich ernsthaft und denkgelähmt unterwegs bin, hat das Spielen es schwer. Doch die Leichtigkeit des Seins gibt nicht auf, sie ist ja da, und umgarnt mich, hält zu mir, fängt mich ein - und ihr nachzugeben ist himmlich. Ich muss nur den Schritt durch die Spieltür hinbekommen. Bei den Kindern. Bei den Freunden. In der Partnerschaft (!). 

Und das alles ist ja nicht "nur ein Spiel". Es ist Herz, Vertrauen und Liebe. Es sind die Momente, die in meinem Lebenstagebuch mit einem Stern versehen werden. Mein Enkel hat mich heute in diese Sternenwelt hineingezaubert.