Montag, 24. April 2023

Die Kümmer-Verantwortung und die Missions-Verantwortung

 


Auf dem Seminar vorige Woche ging es mal wieder um die Verantwortung, die Eltern für ihre Kinder haben. Mein „Ich bin nicht für Kinder verantwortlich“ kam nicht so gut. Ich stand als jemand da, der sich nicht um Kinder kümmert. Lieblosigkeit und unrealistisches Hängenlassen standen im Raum. Da habe ich dann klar gemacht, wie ich das meine und was es mit der Verantwortung und der Selbstverantwortung so auf sich hat.

Die Zuhörenden sind bei der Verantwortungsthematik in einem anderen Nachdenken unterwegs als ich, wenn ich vom „Ich bin nicht für Kinder verantwortlich“ spreche.

Zwei Nachdenk-Räume also. Das kann ich thematisieren, aussprechen, klarmachen, und das tue ich auch, damit das Gespräch überhaupt richtig funktioniert.

„Ich erziehe Kinder nicht“ – auch so ein Satz, der in die Irre führt, wenn ich seinen konstruktiven Hintergrund nicht gleich mit vermittele. „Unrealistisch, antiautoritär, der spinnt doch“ ist dann ein schnelles Urteil. Dabei ist es weder unrealistisch noch antiautoritär noch gesponnen, sondern etwas sehr Sinnvolles. Wie bei der Verantwortungsthematik.

Für eine Klarstellung gebrauche zwei verschiedene Vor-Worte:

 

Die Kümmer-Verantwortung

Die Kümmer-Verantwortung: Ich kümmere mich um alles möglich. Die Kinder, das Fahrrad, den Arzttermin, die Katze, endlos. Da passt das „Ich bin verantwortlich für“ gut: Ich bin für die Kinder verantwortlich (kümmere mich um sie), damit sie sich wohl fühlen. Ich bin für das Fahrrad verantwortlich (kümmere mich um es), damit es sicher fährt. Ich bin für den Arzttermin verantwortlich (kümmere mich um ihn), damit ich ihn nicht verpasse. Ich bin für die Katze verantwortlich (kümmere mich um sie), damit sie was zu futtern hat. Ich bin für Endlos verantwortlich (kümmere mich darum), damit es gut endet. – Hier gehen alle mit.


Die Missions-Verantwortung

Sie ist nicht leicht zu verstehen und zu erfühlen. Sie taucht nicht auf am Horizont der Wahrnehmung, wenn es um die Kinder geht. Sie enthält nämlich einen versteckten, untergründigen Machtwillen und einen gutgemeinten, gouvernantenmäßigen Herrschaftsanspruch, beide so selbstverständlich, dass sie nicht bemerkt werden. Es gibt keine Sensibilität dafür, dass im „Ich bin für Kinder verantwortlich“ etwas Übergriffiges, Verletzendes, Herabsetzendes stecken kann. Diese Missions-Verantwortung gehört in unserer Kultur ganz automatisch zu unseren Umgang mit Kindern, und sie wird nicht als Anmaßung erlebt – sondern als sinn- und liebevolle Fürsorge.

Was meine ich mit der Missions-Verantwortung? Ein Beispiel für eine solche Anmaßung und ihre Überwindung: „Männer sind für Frauen verantwortlich, weil die Frauen das nicht selbst sind. Männer sind in bester Absicht und voll Fürsorge für die Frauen unterwegs. Männer wissen, was für Frauen gut ist.“ Diese patriarchalische Missions-Position ist heute von den Männer erkannt und überwunden. Nicht bei allen, aber immerhin. Männer haben verstanden: Frauen sind selbstverantwortlich. Was ja ein Sorgen und Kümmern ohne Missionshaltung nicht ausschließt.

Wenn das „Ich weiß, was für Dich gut ist“ mit einem Macht-, Missions- und Herrschaftsimpuls daherkommt, wie richtig ein solches Wissen und Kümmern auch sein mag, dann ist so etwas vergiftet. „Ich weiß, was für Dich gut ist, denn ich bin für Dich verantwortlich und kümmere mich um Dich“ – wenn diese Denkwelt mit einem missionarischen Darüberstehen über dem anderen daherkommt, dann kann man sagen: das geht ja auch nicht anders. Jedenfalls in Bezug auf Kinder geht es nicht anders. Oder man kann sagen, und das sage ich: das geht sehr wohl anders, auch im Zusammensein mit Kindern. Und dann beginnt meine Argumentationswelt:

Jedes Lebewesen trägt für sich selbst Verantwortung, von Anfang bis Ende. Wer das nicht so sieht, wird von dem Lebewesen, von dem er das nicht sieht, als Übergriffiger, Mißachter, unguter Missionar, Herabsetzer und Unterdrücker erlebt. Wenn jedes Lebewesen eine solche Selbstverantwortung denn hat – was aber meine Position ist. Ich sage: Jedes Lebewesen hat diese Selbstverantwortung – mithin auch menschliche Lebewesen, von Beginn (Zeugung) bis Ende (Tod). Mithin auch Embryos, Neugeborene, Säuglinge, Kleinkinder, Kinder, Jugendliche, Heranwachsende, Erwachsene, Senioren, Pflegebedürftige, Sterbende.

Und von daher ist ein „Ich bin für Dich verantwortlich“, bei dem das „Du bist es nicht (noch nicht, nicht mehr)“ mitschwingt, ungut und destruktiv. Was ich nicht mitmache. Von daher kommen Respekt vor und Achtung für die Selbstverantwortung des Kindes. Ich bringe das mit dem Statement „Ich bin nicht für Kinder verantwortlich“ zum Ausdruck, und füge gleich zum Verstehen hinzu: „Weil die Kinder das selbst sind.“

Ich kümmere mich um Kinder, bei allem und jedem, was gekümmert sein will. Von der Windel bis zur Hustenmedizin. „Ich bin für Dich verantwortlich – Deine Windelhygiene, Deine Lungengesundheit.“ So weit, so klar: Die Kümmer-Verantwortung.

„Ich bin nicht für Dich verantwortlich – Deine Windelhygiene, Deine Lungengesundheit“. Auch klar. Die Missionsverantwortung wird mit diesem Statement abgelehnt. Somit: „Ich bin nicht für Kinder verantwortlich, weil die Kinder das selbst sind.“ Menschenkinder sind selbstverantwortliche Wesen wie alle lebenden Organismen, von Anfang an.

Wie sie das dann alles so hinbekommen, diese Selbstverantwortlichen? Sie nutzen – in ihrer Verantwortung – ihre Ressourcen: Plazenta, Mama, Papa, Gesellschaft. Und Plazenta, Mama, Papa, Gesellschaft geraten in Resonanz und geben den Kindern, was diese brauchen und einfordern. Oder verweigern, stoppen, begrenzen das, was die Kinder wollen. Sie kümmern sich, aus ihrer Kümmer-Verantwortung heraus. Und das können sie tun ohne Missions-Verantwortung. Wenn sie es denn schaffen … und diesen subtilen Adultismus überwinden.










Montag, 17. April 2023

Selbstverantwortung üben

 

 

Im letzten Post habe ich über das Selbst-Verantortung-Trainng geschrieben. Das zentrale Element dieser psychodynamischen Übung ist das "Selbstverantwortlich sein". Ich stelle es vor: 

 

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Die Entfaltung der Selbstverantwortung findet in den Gruppensitzungen statt. Hier sind Menschen zusammengekommen, die mit Hilfe einer speziellen Psychodynamik lernen möchten, ihre Selbstverantwortlichkeit neu anzuwenden. Das Zusammensein mit den anderen in der Gruppensitzung konfrontiert die einzelnen immer wieder mit diesen Fragen: Was will ich hier eigentlich – in diesem Kreis? Wie kann ich hier das tun, was ich will? Was will ich wirklich?

Die vielen kleinen und großen Geschehnisse einer Gruppensitzung setzen jede und jeden Teilnehmenden einem Ansturm von Entscheidungssituationen aus. Dabei erleben sie immer aufmerksamer, dass tatsächlich jede und jeder einzelne für alles und jedes, was sie hier tun oder lassen, selbst die Verantwortung tragen:

Soll ich auf dem Stuhl oder auf dem Kissen sitzen?

Will ich, dass das Fenster offen oder geschlossen ist?

Soll das Licht ein oder ausgeschaltet sein?

Soll ich diese Frage stellen?

Diese Antwort geben?

Diesen Wunsch äußern?

Diesem Vorschlag folgen?

Diesem Gespräch weiter zuhören?

Diesen Dialog unterbrechen?

Dieses Gefühl mitteilen?

Was will ich wirklich?

Die Gruppensitzung ist voller Chancen, sich selbst immer wieder als die und den eigentlich Verantwortlichen für das eigene Verhalten zu entdecken: So wird die Selbstverantwortung in kleinen und kleinsten Schritten nebenbei und unthematisiert trainiert.

Beim Selbst-Verantwortungs-Training gibt es neben den Gruppensitzungen sitzungsfreie Zeiten (Mahlzeiten, Pausen). Sie sind wichtige Zeiten für die Gesamterfahrung. Die Teilnehmenden können die Pausen so nutzen, wie sie es gern wollen. Spazierengehen, lesen, Musik hören, ausruhen, schlafen, sich austauschen. Gespräche und Begegnungen in den Pausen erfolgen nach Sympathie und Interesse.

Ein jeder ist auch in Bezug auf die Seminarzeiten selbstverantwortlich. Die Sitzungszeiten werden auf einem Zeitplan ausgehängt. Jede und jeder entscheiden für sich, ob sie überhaupt, pünktlich oder später kommen.

Das Verlassen einer Gruppensitzung wird ebenso selbstverantwortlich realisiert. Wer eine Unterbrechung benötigt, kann das jederzeit tun. Während beim Unterbrechen jemand seinen situativen Einfällen folgt, fahren die anderen in der Gruppensitzung mit dem psychodynamischen Lernen fort.

„Soll ich weiter an der Gruppe teilnehmen oder nicht?“ Jede und jeder legen den Umfang ihres Trainings selbst fest. Während die einen nicht genug von der Psychodynamik der Gruppe bekommen können und ihnen jede Sekunde wichtig ist, schätzen andere die Möglichkeit des Rückzugs und die Situation außerhalb der Gruppe. Und alle haben auch stets die Möglichkeit, das psychodynamische Lernen in der Gruppe wieder aufzunehmen.

 

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Selbst-Verantwortungs-Training, Wochenend-Seminar 17.-29. November 2023 in Sprockhövel bei Dortmund.

Leitung Hubertus von Schoenebeck

Information und ausführliches Konzept beim Amication – Förderkreis e.V.




 


 

Montag, 10. April 2023

Selbst-Verantwortungs-Training



Seit vielen Jahren führe ich das "Selbst-Verantwortungs-Training" durch. Jetzt habe ich das Konzept aktualisiert und stelle den Anfang des Textes vor. Das gesamte Konzept schicke ich gern auf Anfrage per E-Mail-Anhang (PDF) zu. Meine E-Mail-Adresse: amication@t-online.de


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Wie jeder Organismus hat auch der Mensch die Energie, sich in der Umwelt zu behaupten und sich für die eigenen Bedürfnisse einzusetzen. Und wie jedes Lebewesen spürt auch jeder Mensch selbst am besten, was für ihn gut ist und was ihm schadet. Diese Fähigkeiten werden dem Menschen von der Natur mitgegeben. Von Anfang an entfaltet sich die von innen kommende Kraft, das Leben nach den eigenen Kriterien zu gestalten und für sich selbst Verantwortung zu tragen. Selbst Verantwortung für sich zu tragen ist den Menschen als wichtige Voraussetzung für eine sinnvolle und glückliche Lebensführung mitgegeben. 

Doch die Tradition erkennt im Menschen nicht ein Wesen, das von Anfang an in der Lage ist, für sich verantwortlich zu sein. Die Wirklichkeit der Kinder ist voller Erwachsener, die sagen: „Ich weiß besser als Du, was für Dich gut ist!“ Das traditionelle „Ich bin für Dich verantwortlich“ verhindert die Entfaltung der mitgebrachten Selbstverantwortungsfähigkeit in der Kindheit. Den Menschen geht dadurch eine wichtige Zeit verloren, in der sie lernen können, diese innere Kraft wahrzunehmen und als Kompass für alle Situationen des Lebens zu benutzen.

 Dieser Erfahrungsverlust bleibt nicht ohne Folgen. Wer ein Kinderleben lang gelernt hat, dass nicht er selbst für sein Leben die Verantwortung tragen könne, sondern dass andere für sein Glück und Leid zuständig seien, trägt diese Abhängigkeit in sein Erwachsenenleben. Er wird leicht zum Spielball fremder Interessen, Werte und Normen, und es fehlt ihm die Kraft, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und durchzusetzen.

Über diesen Zusammenhang klärt die postpädagogische Weltsicht (Amication) auf. Jeder kann dadurch bemerken und erkennen, dass er in der Kindheit am eigenen Ich vorbeigeschleust wurde. Und jeder kann heute die Verantwortung für sich selbst wieder zur uneingeschränkten Basis seines Lebens machen.


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Das Selbst-Verantwortungs-Training unterstützt die Entfaltung der Selbstverantwortung durch eine besondere Form der psychodynamischen Gruppenarbeit und gehört zu den Hilfen, die es im Rahmen der Humanistischen Psychologie gibt.

Die postpädagogischen Aussagen zur Selbstverantwortung werden auf spezifische Art und Weise so in einen gruppendynamischen Prozess eingebracht, dass die Teilnehmenden intensiv erleben und fühlen können, was es bedeutet, für sich verantwortlich zu sein.

Durch das Selbst-Verantwortungs-Training gewinnen die Teilnehmenden ein klareres Bewusstsein davon, was ihnen tatsächlich wichtig ist und wie sie es Wirklichkeit werden lassen können.

Die Selbstverantwortung wurde in der Kindheit unterdrückt. Beim Selbst-Verantwortungs-Training wird dieser negativen Erfahrung entgegengewirkt. Die Teilnehmenden erleben, wie sie mit gleichgestellten, gleichwertigen Personen im Kreis sitzen – wie in ihrer Kindheit. Damals trafen sie sich als Kinder im Versteck, verschworen und verborgen vor den Erwachsenen, um den eigenen Gefühlen und den eigenen Wahrheiten zu folgen. Heute kommen sie zusammen, um das Gefühl für die eigenen Wichtigkeiten gemeinsam wieder zu beleben und zu trainieren.

Die Teilnehmenden erleben sich in ähnlicher Weise als grundlegend loyale und solidarische Gefährten wie damals. Gemeinsam wehren sie sich gegen Behinderungen, die längst verinnerlicht sind.

„Du kannst für Dich nicht selbst die Verantwortung tragen – Wir sind für Dich verantwortlich – Wir wissen, was für Dich gut ist – Wir sagen, was Du tun und lassen musst – Wir haben recht – Sieh das ein“: Diese Grundposition der Eltern und Erzieher zersetzte damals das eigene Selbstverantwortungsgefühl und verfestigte sich zum Misstrauen sich selbst und den anderen gegenüber. Minderwertigkeitsgefühle und Ohnmacht gegenüber dem Herrschaftsanspruch anderer wurden die Folgen für den Erwachsenen.

Beim Selbst-Verantwortungs-Training wird gemeinsam gegen diese tief wirkenden Strukturen Front gemacht und mit Hilfe der anderen eine befreiende Gegenerfahrung gewonnen: die Teilnehmenden beginnen ihrer Selbstverantwortung mehr und mehr zu folgen und den damals aufgegebenen Glauben an sich selbst zurückzuerobern.


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Selbst-Verantwortungs-Training, Wochenend-Seminar 17.-29. November 2023 in Sprockhövel bei Dortmund.

Leitung Hubertus von Schoenebeck

Information und ausführliches Konzept beim Amication – Förderkreis e.V.













 

Montag, 3. April 2023

Mein neues Buch ist da! * Prolog

 

 

Mein neues Buch "Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen" ist erschienen. Vor 10 Jahren hatte ich zum ersten Mal die Idee, meinen Vortrag über das "Unterstützen statt erziehen" zu Papier zu bringen und erste Texte geschrieben. Dann blieb das Buchprojekt liegen, bis ich es vor drei Jahren wieder aufgriff. Ich hatte verschiedene Konzepte, wie ich das in Angriff nehmen sollte, es gab viele Versionen. Nach und nach schälte sich dann die Fsssung heraus, in der jetzt vorliegt.

Das letzte Jahr war vom Feinschliff gekennzeichnet, und nach der ersten Druckversion vor sechs Monaten kamen die Rechtschreibkorrekturen und die inhaltlichen Verbesserungen dran. Der letzte Fehler, der erwischt wurde, war ein fehlendes "d": Da stand doch tatsächlich "leuchtenviolett" statt "leuchtendviolett". Wie oft habe ich das überlesen!  

Auf der Website des Amication - Förderkreises www.amication.de wird das Buch ausführlich beschrieben. Es wird auch das Inhaltsverzeichnis vorgestellt und es gibt eine Leseprobe. Bei Medien/Literatur der Website. 

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"Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen"

Taschenbuch, 296 Seiten, ISBN 978-3-88739-034-1, 16.- EUR

E-Book, 296 Seiten, ISBN 978-3-88739-035-8, 3,99 EUR

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In meinen Buch geht es um die Erwachsenenperspektive und die Kinderperspektive. Der Prolog fängt dies ein:


Prolog 

Honig, pures Glück

»Hast Du genascht?«

Das Honigglas steht auf dem Tisch vor mir, es ist offen, der Deckel liegt auf dem Tisch. Der Finger, der eben noch süß im Mund war, ist blitzschnell verborgen in der anderen Hand. Ich bin gelähmt, erstarrt. Die Sonne, das Licht, die Bienen, der Garten draußen mit all den Blumen und den Düften, die klangvolle Sommerwelt: aus. Eine dunkle Wolke dringt von der Stimme des Großen hinter mir in die Küche.

»Ich sehe doch, dass Du genascht hast!«

Ich will all das schützen, bewahren, bergen. All das, was gut, heilig, schön, prächtig, liebevoll ist. Den Honig im Glas, die zigtausend Bienen, die mir ihr Geschenk gemacht haben, die Freude, die vom Mund aus in mich hineinzieht, der erfüllte Wunsch, die Verheißung: Du kannst glücklich sein. Honig, pures Glück.

»Nein.«

Ich will mir das nicht entreißen lassen, wegstehlen lassen, schlechtreden lassen. Ich bin im Rosenland unterwegs, im Honigland, im Lichtland. Diese verhexende Dunkelheit in meinem Rücken, ich spüre ja, wie sie stärker wird, der Schicksalstornado rast heran. Ich kenne das ja, ich werde mitgerissen werden, zerschellt irgendwo stranden, zerschlagen, gedemütigt, herabgesetzt, vertrieben.

»Zeig her!«

Die Finger der Bergehand werden aufgestemmt, der Honigfinger triumphierend hochgerissen, Beweis meiner Unartigkeit, Türöffner für die folgende Seelenfingerei. Grenzüberschreitung, Willkür, Gehirnwäsche. Ich bin chancenlos, ich bin ausgeliefert, mein Herz, meine Seele, meine Liebe: beiseite gestoßen, Pech und Schwefel über mich.

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»Hast Du genascht?«

Ich fahre erschrocken hoch … und weiß mich doch geborgen. Klar habe ich genascht, wie die Großen das nennen. Ich bin dem Honig gefolgt, der Einladung der Bienen, des Lichts und des Lebens, des Sommers und der Blumen. Er steht uns Kindern zu, dieser Honig, ein Finger voll, viele Finger, das ganze Glas. Die Wucht der Richtigkeit meines Seins und die Wahrheit des Honigs tragen mich. Die Stimme des Mädchens hinter mir schwingt ein, sie ist so süß wie der Honig im Glas.

»Willst Du auch?«

Schnelle Schritte, Einverständnis der Herzen, leuchtende Augen, wir lachen, und es tut gut. So viel Friede, so viel Freude. So viel Vertrauen, so viel In-die-Seele-Sehen. Ja, wir sind auch verschmitzt. Wir wissen schon, was die Großen davon halten. Aber sie sind fern, wir sind geschützt durch die Macht des Honigs und durch unseren Glauben an uns selbst. Wir schließen das Glas, klettern durchs Fenster und laufen in unser Glück.