Montag, 27. April 2020

Wieder Schule







Coronamäßig sollen die Kinder demnächst ja wieder in die Schule gehen. Ob das eine gute Idee ist, wird sich zeigen. Ob Kinder überhaupt in der Schule gut aufgehoben sind, wenn Erwachsene sie dort bilden, formen und erziehen wollen? Dazu habe ich ja nun seit Jahr und Tag meine eigene Meinung. Hier ein Text darüber aus meiner Schatzkiste. Es geht um meine ersten Begegnungen mit der fremden Art "Schulkinder".

 *

Kann ich die Verantwortung für die Kinder übernehmen? Eltern sind für alles und jedes verantwortlich, richtige Ernährung, richtige Kleidung, alles. Als Lehrer bin ich nicht für alles verantwortlich, sondern nur für das Oberstübchen der Kinder, für ihre geistige Entwicklung. Und per Sport auch ein bisschen für ihren Körper. Ich werde also für die Kinder in Bezug auf ihre geistige Entwicklung verantwortlich sein.

Den Haken hier zu setzen war eigentlich ganz einfach. „Kann ich Verantwortung?“, habe ich mich gefragt. Wofür wird man denn Lehrer? Damit in den Kopf der Kinder das reinkommt, was rein gehört. Aber es war nicht ganz einfach. Es war überhaupt nicht einfach. Es gab einen Widerstand. In mir. Bin ich wirklich für die Kinder verantwortlich? Habe ich zu entscheiden, was in ihrem Kopf sein soll? Haben Erwachsene das überhaupt zu entscheiden? Eltern für ihre Kinder? Lehrer für die Kinder? Ja doch, Eltern und Lehrer lieben Kinder und sind für sie verantwortlich. Aber so ging das nicht. Es gab einen unerklärlichen Widerstand in mir.

Da habe ich die Kinder gefragt, beim nächsten Unterrichtsbesuch, in der Pause. „Soll ich für Euch die Verantwortung übernehmen? Für eure geistige Entwicklung? Und ein bisschen auch für eure körperliche und allgemeine Entwicklung, sozial und so?“ Die Kinder sind solche Fragen von Erwachsenen nicht gewohnt. Sie sahen mich seltsam an und rannten weg. Ich habe sie mir dann gepackt, und sie mussten antworten.

„Willst Du eine ehrliche Antwort?“ „Na klar.“ „Wirklich?“ „Ja.“ Und dann kam es: „Okay, wenn Du es wissen willst: Du hast sie wohl nicht alle! Du bist doch nicht für uns verantwortlich. Sowieso nicht und auch nicht für unseren geistige Entwicklung. Wir gehören uns selbst, nicht den Erwachsenen, nicht den Eltern, nicht der Schule, nicht den Lehrern, nicht der Gesellschaft noch sonst wem. Wir gehören uns! Lass den Unsinn, Dich für uns verantwortlich zu fühlen. Wir gehören uns selbst und sind selbst für uns verantwortlich! Du bist nicht für uns verantwortlich!“.

Peng! Da stand ich da. Klare Antwort: Ich bin nicht für Kinder verantwortlich. Also kein Haken an die Verantwortung. Nun ja, man redet nicht so mit Kindern, ich habe sie ja nicht wirklich gefragt. Ich habe mir die Kinder angesehen bei den Unterrichtsbesuchen und mir selbst diese Frage vorgelegt, diese Frage nach der Verantwortung für Kinder. Und in mir selbst die Antwort gehört. Diese Antwort: „Du bist nicht für jemanden verantwortlich, der das selbst ist. So etwas ist herabsetzend, entmündigend und demütigend.“ Ich war in Resonanz geraten mit einem Wissen, das in mir aufstieg, einem Wissen aus meiner eigenen Kindheit.







Montag, 20. April 2020

Am Mississippi







Bei der Durchsicht meiner CD "Amication live"* bleibe ich bei einer Passage hängen. Ich hielt damals einen Vortrag vor angehenden Erzieherinnen und wollte ihnen klar machen, dass es verschiedene Menschenbilder gibt. Es sollte später um das pädagogische und das nichtpädagogische Bild vom Kind gehen. Um ihnen die Sache mit den Menschenbildern nahe zu bringen, sprach ich erst einmal über zwei Bilder, die sie kannten: Über das Bild vom Afrikaner als einem den Weißen gleichwertigen Menschen. Und über das Bild vom Afrikaner als einem den  Weißen nicht gleichwertigen Menschen. Sie wußten natürlich, dass Schwarze früher als Sklaven gehalten wurden und dass da keine Gleichwertigkeit im Spiel war. An diese überholte Sichweise von damals konnte ich anknüpfen. Hier die Passage:

   "Welche Bilder hat man denn vom Nächsten, vom anderen? Wo kommen diese Bilder her? Sie sind in der eigenen Biographie entstanden, in der eigenen Kindheit. Zum Beispiel: ob schwarze Leute richtige Menschen sind oder ob die nicht besser Sklaven sind und Nigger. Nun stellt Euch vor, Ihr wärt am Mississippi groß geworden vor 200 Jahren. Da würden Euch Eure Eltern erzählt haben, Eure Verwandten und Bekannten und Freunde, dass die Schwarzen gar keine richtigen Menschen sind. Und das glaubt man dann ja auch, weil alle das erzählen. Und wenn man so mit den Schwarzen zu tun hat, den Sklaven auf der Farm, dann weiß man als kleines Kind, als mittleres Kind, als großes Kind, als Erwachsener, dass man es mit fast richtigen Menschen zu tun hat. Aber die ganz richtigen Menschen, die zum Beispiel auch politische Rechte haben, die spricht man anders an und die sind weiß. Und keiner der Famersleute da unten am Mississippi kommt auf die Idee, dass man Unrecht tut, wenn man sie mit der Peitsche schlägt oder wenn man sie verkauft. Denn Schwarze sind keine richtigen Menschen. Das ist das Bild, das sie dort am Mississippi im Herzen tragen."

   "Dann kann es passieren, dass Ihr mit zwanzig Jahren nach New York müsst um die Baumwolle zu verkaufen. Für Eure Eltern, die gerade nicht reisen können. Und Ihr kommt mit Bürgerrechtlern ins Gespräch. Große Diskussion, und die Bürgerrechtler in New York erzählen, dass die Schwarzen doch richtige Menschen sind. Dann seid Ihr verwirrt und fangt zum ersten Mal an, richtig darüber nachzudenken. Und fahrt nach Hause und seht die Schwarzen auf Eurer Farm mit anderen Augen, mit anderem Herzen. Ein anderes Bild. Und vielleicht ändert sich dann ganz viel."

Im weiteren Verlauf des Vormittags an der Fachschule erzähle ich dann von den zwei Bildern, die es von Kindern gibt. Dem erzieherischen, mit dem sie groß geworden sind und das sie in sich tragen. Und von dem anderen Bild, dem Bild von Kindern als Wesen, die schon richtige Menschen sind und die nicht erst per Erziehung dazu gemacht werden müssen. Zwei Bilder wie in New York. Und die Studentinnen fahren nach Hause und sehen die Kinder mit anderen Augen, mit anderem Herzen. Ein anderes Bild. Und vielleicht ändert sich dann ganz viel...




* Die CD "Amication live" ist auf meiner Website www.amication.de/audio.html zu finden und kann dort gehört werden. Ich kann sie auch kostenfrei zuschicken, zum Hören zu Hause oder im Auto und zum Kopieren und Verschenken.

Montag, 13. April 2020

Welch ein Singen, Musiziern







"Draußen spielt sich gerade ein Wunder ab, für das man nicht einmal das Haus verlassen muss. Es genügt, das Ohr zu öffnen - und das Herz." Les ich in der ZEIT*. Stimmt, denke ich, würd das aber nicht so hoch hängen. Es geht um den Gesang der Vögel, die jetzt zu Frühlingsanfang wieder zu singen beginnen. Einige sind hiergeblieben, andere kommen nach und nach aus dem Süden zurück.

Seit meiner Studentenzeit habe ich Verbindung zu ihnen, den Vögeln. Ich machte Exkursionen mit, hörte Schallplatten und hatte dann alle auf Tonband. Es war wirklich nicht leicht, die Stimmen den richtigen Vögeln zuzuordnen. Aber nach und nach kannte ich immer mehr. Ich war frühmorgens raus, hörte und staunte, erwischte mit dem Fernglas auch mal Seltenheiten wie Birkhuhn und Goldregenpfeiffer. Die Große Rohrdommel am Dümmer zu hören - das war schon was! Und ich stiefelte auch mal mit Freunden der Ornithologengesellschaft durch die Rieselfelder, um nachts Vögel aus den aufgespannten Netzen zu nehmen, im Bauwagen zu vermessen und zu beringen. Meine Lehrer-Examensarbeit für die 1. Staatsprüfung schrieb ich über Hilfen für das Erlernen von Vogelstimmen.

Eines Morgens um fünf auf Beobachtungsstation im Moor. Der Große Brachvogel bewachte Revier und Frau. Als ein schöner fremder Mann auftauchte, gabs großes Theater und eine wilde Verfolgungsjagd, die beiden waren weg. Da kam der Dritte fröhlich trillernd eingeschwebt und nutzte seine Chance. Ja mei!

Die Vögel begleiten mich durchs Leben. Und jetzt im Frühling nehm ich mein Fernglas, geh raus und schaue ihnen zu. Und trainiere weiter neue Arten, die ich noch nicht im Ohr habe. Den Schilfrohrsänger vom Sumpfrohrsänger zu unterscheiden... Drosselrohrsänger und Teichrohrsänger krieg ich schon hin. Aber Blaukehlchen und Braunkehlchen - abwarten.

Ich sinne darüber nach, wie man hobbymäßig seine Zeit verbringen will. Tausend Varianten! Mir ist das mit den Vögeln zugefallen. Und wie jeder sein Hobby schön findet, fühle ich mich auch rundum wohl, wenn ich draußen bin, auf Vogelstimmenexkursion. Ich mache das, weil - ja, da hab ich keine wirkliche Antwort. Oder zig Antworten. Es ist eben stimmig für mich. Weil halt!

Im Zeitartikel lese ich etwas Hintergründliches: "Das Spektakel des Vogelgesangs erzeugt ein hochkomplexer, filigraner Stimmapparat, die Syrinx. Sie ist nicht größer als eine Linse und zusammengesetzt aus einem Dutzend Knochenringen sowie zwei Dutzend Muskeln. Die Stimmlippen können sich bis zu 200-mal pro Sekunde zusammenziehen. Der Gesang ist stimmliche Präzisionsarbeit im Millisekundenbereich." Tja, echt jetzt! Das ist schon interessant, und es macht Staunen. Meine Freude an dem ganzen Szenario gründet aber woanders, nicht im Wissen um diese fantastischen Zusammenhänge, um diese Wunder der Natur. Meine Freude kommt aus einem Mitgenommenwerden und Mitgenommensein. Ich gerate in Resonanz mit all dem, was den Gesangskosmos um mich herum ausmacht. Die Musik, die Farben, die Lebenskraft, das Naturambiente drumrum, die große Harmonie. Und sie gehen ja auch miteinander, gründen eine Familie und ziehen die Kinder groß. Und dann auf große Fahrt übers Meer nach Afrika...

Vielleicht bin ich da auch zu pathetisch. Egal. "Der Luft wird Gesang verliehen"**, ja so ist es gut gesagt. "Ich liebe mich so wie ich bin", eins meiner Mottos und eins meiner Bücher: genau das höre ich von jedem Vogel, wenn er singt. Es ist einfach nur schön.

 


*   Pfeifen, Zwitschern, Tiriliern. Fritz Habekuss, DIE ZEIT Nr. 14 vom 26.3.20, S. 37
** a.a.O., Fritz Habekuss zitiert den Schriftsteller David Haskell

Montag, 6. April 2020

Was sollte ich mich grämen?







Bei dem schönen Wetter bin ich draußen. Ich sitze auf einer Bank am Waldrand, esse meinen Apfel und sehe den Vögeln zu. Blaumeise, Kohlmeise, Sumpfmeise, Buchfink, Zilpzalp und Co. Es ist idyllisch. Aber es gibt ja Corona. Seit Tagen und Tagen das Hintergrundgeräusch. Und das Zukunftsgeräusch. Oder eher Hintergrundmusik und Zukunftsmusik? Egal, das Welttheaterstück Corona belgeitet mich.

Ich gehe irgendwie gelassen damit um. Obwohl es ja viel von meiner Konzentration einfordert. Und meiner Zeit. Ich bin auch anteilnehmend und interessiert. Aber, und das habe ich neulich schon geschrieben, ich kann das alles ja auch ausblenden. Wie die 3 Millionen Kinder unter 5 Jahren, die jedes Jahr an Hunger sterben. Angerührt ja, ausblenden ja. Wie so viel anderes Leid auf der Welt, wohin man auch schaut.

Ob ich Corona, das alles nicht ganz schlimm finde, katastrophal? Ein Freund fragte mich. Na ja, was heißt  hier katastrophal? Jedes individuelle und persönliche Leid und Elend ist eine Katastrophe. Aber ich habe das dann doch mal an anderen Groß-Schrecknissen gemessen, die hier passieren könnten. Die Coronakrise ist ja kein Atomunfall, mit Blitz und Donner und zigtausend Toten auf einmal und zigtausend Toten in den Jahren danach. Könnte ja auch passieren, es gibt noch sechs laufende Atomkraftwerke in Deutschland. Es ist ja auch kein gewaltiges Erdbeben mit zigtausend Toten, könnte ja auch passieren, meine nächste Erdbebenzone ist in der Eifel. Es ist ja auch kein Vulkanausbruch mit zigtausend Toten. Könnte ja auch passieren, in der Vulkaneifel oder sonstwo in Deutschland, es gibt 9 Vulkanzonen hierzulande. Es ist ja auch kein Militärüberfall mit zigtausend Toten, könnte ja auch passieren, die Weltpolitik ist grad mal nicht so berechenbar.

Es ist ja auch nicht die Pest ausgebrochen. Es ist ein Virus. Sagen wir mal: nur ein Virus. Irgendwie überschaubar. Klar, wenn wir nichts unternehmen, gibt es auch zigtausend Tote, es könnten Millionen werden. Aber wir, alle, tun ja etwas, damit das nicht passiert, damit es keine wirkliche Katastrophe wird. Also: die Coronakrise ist keine Katastrophe, sie ist harmlos im Vergleich zu den grade aufgezählten Szenarien, die wirkliche Katastrophen wären. Und die Wirtschaft? Das wird schon wieder.

So weit, so klar. Was ja noch kommen kann. Wer weiß das schon. 100 Millionen Corona-Infizierte auf der Welt mit 10 Millionen Corona-Toten? Marke Spanische Grippe wie vor 100 Jahren, da gab es 500 Millionen Infizierte mit 50 Millionen Toten. Nur, aber, also: Ich warte das mal ab. Gemach. Ich habe da so eine gewisse Gelassenheit den Unbilden, Umglücken, Katastrophen gegenüber, in die ich geraten könnte, die über mich herfallen könnten. Katastrophal für mich wäre ein Autounfall, Vergiftung, Geiselnahme und so etwas. Zum Leben gehört das Lebensrisiko. Man kann auch die Treppe runterfallen und aus ists.

Soviel zum Gruseligen. Ich will mir da nichts schönreden, ich mache mir nur einen angemessenen Rahmen. Und bleib mal auf dem Boden.

Es gibt ja auch Schönes in der ganzen Coronakrise: Die vielen Mitmenschlichkeiten, Einfühlungskeiten, Humorigkeiten, Fröhlichkeiten. Die Leute sind doch so positiv! Sie singen von den Balkonen, sie applaudieren von den Balkonen, sie nähen selbst Masken, sie halten beim Spazierengehen Abstand. Die Leute sind irgendwie auch beschwingt und erfülllt in ihrer Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit und Fürsorglichkeit. Ich werde von Fremden angelächelt. Manchmal kommt ein fürsorglicher Blick, ich gehöre ja zur Risikogruppe...

Wir immer ist jeder sein eigener Chef, auch darin, wie er mit Corona umgehen will. Ich nehm Corona nicht auf die leichte Schulter, halte den Anstand ein und wasche mir sorgfältig die Hände. Aber ich mach mich nicht verrückt. Ich habe - natürlich - eine Hollywoodszene vor Augen, die mich erst irritiert hat, dann aber schlüssig wurde und die ich immer dabei habe. Im Erdbeben-Katastrophenfilm "2012" gab es auch einen Vulkanausbruch. Der Protagonist berichtet davon aus der Nähe per Funk. Und er hat keine Chance. Das weiß er, doch er ist einfach nur begeistert, das miterleben zu können. Die Welt würde untergehen, klar, gleich würde es aus mit ihm sein, und so kam es dann auch (andere überlebten, der Film sollte ja weitergehen). Aber er berichtet - grade auch angesichts seines bevorstehenden Endes - unverdrossen, fröhlich und begeistert davon, was er sieht: wie sich die Erde wölbt und dann der grandiose Ausbruch. Das lässt er sich nicht nehmen - was sollte er sich grämen?

Was sollte ich mich grämen?