Sonntag, 31. Dezember 2017

Sein und Werden








Alle unsere Wahrnehmungen von der Welt kommen aus uns selbst, und doch liegen vor und hinter ihnen unendlich viele Wahrnehmungen anderer. All derer, die uns wissen ließen, wie dieses und jenes wahrzunehmen sei, und das wir so oder anders von ihnen übernommen haben. Als Kinder haben wir von Anfang an unzählige Informationen zur Weltdeutung erhalten, von den Erwachsenen unserer Zeit. Ihr Wissen um die Welt wurde zur Grundlage unseres Weltverstehens. Und auch wenn wir später entgegen ihren Deutungen anderen und neuen Sichtweisen folgen, ist es doch so, dass die in der Kindheit erfahrende Weltdeutung niemals wirklich verlassen werden kann.

Wie nehmen wir uns selbst wahr? Wer bin ich? Neben vielen anderen Aspekten der Identitätsfrage gehe ich einem besonderen Gedanken nach: Wir lernten und erfuhren als Tatsache des Lebens, als Selbstverständlichkeit unserer Eltern und Großen, wenn sie über uns nachdachten und etwas über uns sagten und etwas zu uns sagten, wir erfuhren als eine selbstverständliche Basisinformation, dass Kinder anders waren als sie – und dass sie anders waren als wir. Wir und sie – sie und wir: das waren zwei verschiedene Welten. Und im Hintergrund war präsent, dass unsere (Kinder)Art zu sein nicht die eigentliche Art zu sein wäre, wie sie den wirklichen und wahren Menschen, den Großen, ihnen also, zukommt. Wie sie meinten.

Nun lag es damals aber nicht an, zu bemerken, dass wir eines Tages auch groß, so wie sie, sein würden. Merkwürdigerweise spielte das einfach keine Rolle. Merkwürdig deswegen, weil ich heute, selbst groß, denke, wir Kinder hätten es von ihren Gesichtern ablesen können: ihr werdet eines Tages auch Große. Das war so aber nicht der Fall. Nein, es war so: wir hier – sie dort.

Dieses Basiswissen vom eigenen Standort – wir hier, im Unterschied zu euch dort –, der zugleich der Standort vieler anderer auch war, aber nur der anderen, die in der gleichen Situation des Lebens waren, also: der anderen Kinder – dieses Basiswissen und vor allem das Gefühl von diesem Standort gingen nach und nach verloren, zu der Zeit, als man selbst erwachsen wurde. Dann galten andere Bezüge, der andere Standort. Und der Kontakt zum Wissen und Fühlen der damaligen Wahrheit riss ab. Und seitdem leben wir in unserer Welt, der Welt der Erwachsenen.

Doch zurück zu der Basis der Kindheit, zu dieser Basis, dem Wissen und dem Gefühl der eigenen Welt, der eigenen Sprache, der eigenen Interpretation – immer anders als die der Großen, immer gleich wie die der Gleichaltrigen. Und immer vorgegeben von den Großen: vorgegeben aber nur insofern, als es das Faktische betrifft, wie dann, wenn etwas vorgegeben ist, das der eigenen Vereinnahmung bedarf: »Das ist die Sonne« musste von uns Kindern zurechtgelegt werden, übersetzt werden in unsere real existierende Welt, transportiert werden in unser Weltbild. »Das ist ein Auto« ebenfalls. Mit allem ging das so. Und auch mit der Aussage: »Das bist Du«, was übersetzt hieß: »Das bin (also) ich«.

Wer aber waren wir? Was wurde uns gesagt? Neben vielem auch, ohne Worte – wir seien Kinder. Nicht Erwachsene. (Das waren ja sie.) Und Kinder, das weiß jeder Erwachsene, entwickeln sich, sie wachsen, sie werden. Sie werden. Was werden Kinder? Sie werden Erwachsene. Eines Tages. Wir erfuhren also: Ihr seid jetzt Kinder – und damit seid ihr Leute, die werden. Die Erwachsene werden. (Und dann sollten wir außerdem und vor allem gute Erwachsene werden, keine bösen, missratenen sondern vorzeigbare, wertvolle, tüchtige, solche, auf die Verlass ist und auf die man stolz sein kann.)
Der Sog zu werden war wie zuckersüßer Sand über uns gestreut, wir nahmen ihn auf und wir wurden.

Ich will damit sagen: Wenn wir Kinder um uns haben, sehen wir sie so, wie wir gesehen wurden: als Wesen, die werden. Und wir sehen sie weniger oder nicht oder ganz und gar nicht als Wesen die sind. Und dennoch: Als wir selbst Kinder waren, war uns präsent, selbstverständlich, Basis: dass wir sind. Jetzt. Und gleich. Und eben. Wir lebten uns und waren in der Zeit, mit der Zeit, nicht im Gegensatz zur Zeit, nicht im Streit mit der Zeit, nicht jenseits oder vor der Zeit, der eigentlichen Zeit. Wir waren nicht im Werden, sondern im Sein.

Wer ist dieses Kind vor mir? Wer ist dieses Jetztwesen? Das interessiert mich, das ist meine Frage, meine Aufmerksamkeit, meine Intuition, meine Art. Ich habe mich gelöst von der Werden-Perspektive. Ich habe diese Perspektive nicht gänzlich verlassen, aber sie kommt mir nicht zur Unzeit dazwischen, sie hat mich nicht im Griff. Ich habe sie bei Bedarf, ich wende sie an, nicht sie mich. Wer ist also dieses Kind vor mir jetzt?

Ein NochEinBrotKind. KeinHausaufgabenMacheKind. Ein BruderKämpfeKind. EinJammerUndGeschreiKind. Ein MitTierenBehutsamUmgeheKind. Ein MüdeKind. Ein JetztEinschlafeKind. Ein DuHastHierNichtsVerlorenKind. Ein IchBinSchonFertigKind. Ein DannSpielIchEbenGarNichtMehrKind. Ein LaßMichInRuheKind. Ein IchHelfeDirKind. Kein SchnallDichAnKind. Ein TreppengeländerRutscheKind. Ein HonigSchmierKind. Kein ZähnePutzKind. Kein MitDemHundRausgehKind. Ein MeinZahnIstWegKind. Ein IchHabeSchlechtGeträumtKind. Kein HändeWaschKind. Kein FährtVernünftigMitDemRadKind. Ein MirIstKaltKind. Ein WieSpätIstEsKind. Ein WannSindWirDaKind. Ein SagIchNichtKind. Ein HabIchAberWohlKind. Ein KlavierspielenÜbeKind. Ein KarateTrainingKind. Ein BlumenstraussPflückeKind. Ein DiskoBesucheKind. Ein NichtraucherKind. Ein IchGehZumReitenKind. Kein IchHabDenSchlüsselVergessenKind. Ein IchHabeMeinZimmerAufgeräumtKind. Ein DaranHabeIchNichtGedachtKind. Ein DasHabeIchDirMitgebrachtKind. Kein FrühstücksbrotAufesseKind. Ein DasWarIchNichtKind. Ein SpielstDuMitMirKind. Ein KicherKind. Ein IchFreuMichAufKind.

Die Kinder sind Sein-Wesen, nicht Werde-Wesen. Ich sehe sie so und ich begegne ihnen dort: Im Sein, schön oder schrecklich, entspannt oder anstrengend, plus oder minus, egal: im Sein, nicht im Werden. Sie sind im Sein, dort treffe ich sie, dort treffen wir uns. Und: nur dort. Und auch wenn es um Künftiges geht: von dort aus wird die Zukunft gesehen. Anmerkung: Das ist nicht die Hier-und-Jetzt-Position, Leben im Hier und Jetzt, Carpe Diem, Sorge Dich nicht – lebe. Das ist es alles nicht. So etwas ist die nostalgische und immer vergebliche Position von Erwachsenen, die ganz genau wissen, dass sie eben nicht nur in der Gegenwart leben können, sondern die um Entwicklung und Zukunft wissen, die sich wünschen, wünschen, das anders geschehen zu lassen. Hier-und-Jetzt ist eine blasse Fotokopie des bunten und lebendigen Originals, das die Kinder leben.

Wer hat damals erlebt, dass die Großen uns in unserem Sein besuchten, fanden, Kontakt aufnahmen, um mit uns ein Stück in unserem Sein zu wandern, mit uns in unserem Sein zu leben? Nicht ausnahmsweise, an Sonn- und Feiertagen, sondern montags, an Werktagen? Immer? Als Basis ihrer Wahrnehmung von uns? Und wie ist das heute mit den groß gewordenen Kindern, mit uns Kindern von damals? Wie sehen wir uns selbst? Leben wir heute mit uns im Sein oder im Werden? »Ja – ich bin so« oder: »Ich sollte eigentlich so sein, wie ich sein sollte«.

Mit anderen Worten: Sich selbst lieben hat Erinnerungen und Wurzeln. In der Erfahrung, dass wir Sein-Wesen waren, wenn auch alle Erwachsenenwelt uns für Werde-Wesen hielt. Wir waren der Mittelpunkt unserer Welt, tief verwurzelt im Sinn, der so oder anders war, aber er war, in dieser unserer Realität existierend, kein Später, kein Werden. (Bis auf die Ausnahmen, drei Tage vor Weihnachten.) Ich liebe mich so wie ich bin – nicht: so wie ich sein werde. »Lass Dich in Ruhe, lass Dich einfach in Ruhe, Du bist schon ein richtiger Mensch« antworte ich auf die Frage »Wie macht man es, sich zu lieben?«

Und das Werden wird ja nicht übersehen oder verbannt. Es hat nur keine Macht mehr über mich. Es hat seine Bedeutung, und ist Realität, auch, selbstverständlich (wir werden sterben), und es ist wichtig, aber es herrscht nicht mehr, es geschieht: zu seiner Zeit. Ich bin nicht ohne Perspektiven. Aber die Basis ist Innehalten und Merken: Ich bin. In der Beziehung zu mir selbst und zu den anderen. Auch und gerade und sowieso zu den Kindern.

PS:
Aber keine neue Forderung! Wer Kinder nur oder vor allem oder oft oder zu oft oder leider unter der Werden-Perspektive sieht: das ist dann so. Und Punkt. Nichts daran ist falsch oder irgendwie verkehrt. Nur dass es da auch diese andere Möglichkeit gibt, man kann sie hervorkramen, sich erinnern, es gibt eine Einladung. Eine Einladung zum Mitsein im Sosein.





Samstag, 30. Dezember 2017

Vom Nichteinmischen





















Eine Mutter erzählt mir: "Mein Sohn (8) war allein unterwegs und
hatte Krach mit einem Erwachsenen, einem Freund der Familie.
Was hätte ich tun sollen?"

Die Kinder geraten immer wieder mal in unangenehme oder auch
gefährliche Situationen. So etwas bricht über sie herein, oder sie
haben ihren Anteil daran. In diesem Fall hatte der Sohn den Freund
der Familie durch sein Verhalten verärgert, er wurde schließlich
angefaucht. Und kam empört zu seiner Mutter.

Wenn die Kinder mit anderen unterwegs sind, ist das schön, aber
auch voller Risiken. Das Balancieren über das Brückengeländer
ist voll prickelndem Reiz, aber auch voll Risiko. Wenn der Junge
dabei ins Wasser fällt, helfen Eltern ihm heraus, keine Frage.
Aber hier? Soll sie zu dem Freund hingehen und die Wogen
glätten? Oder kann das Kind allein herauskommen, wenn es
in so ein Beziehungsgewässer gefallen ist?

Falsch machen geht nicht. Die Mutter kann intervenieren oder
die Sache bei ihrem Sohn lassen. Es kommt wie immer darauf
an, was man will. Sie erzählte, dass sie gespürt hat, das Ganze
ihrem Kind zu überlassen. Er war angefasst und kam zu ihr.
Beschwerde. Ein Eingreifen lag in der Luft. Aber sie hat es eben
anders gemacht.

Sie hat das Herauskommen aus dem Wasser ihm überlassen. War
eigentlich seine Sache. Einmischen fühlte sich drängend, aber in
Untergrund übergriffig an. "Es gehört ihm und er schafft das schon."
Und so kam es auch. Ihr Sohn kam wieder runter, und nach einer
Weile ging er zu dem Erwachsenen zurück "um das mit ihm zu
besprechen".

Fand ich beeindruckend. Von der Mutter: nicht hinstürzen,
sondern erst mal schauen, was wirklich Sache ist. Bei ihr
und ihren Mutterhelfegefühlen und bei ihm und seinem "Kann
ich selbst hinkriegen". Das feine Hinhören fand ich beein-
druckend. Das Zuwarten. Das Offenhalten einer Tür. Es wäre
nichts dabei gewesen, sofort zu intervenieren - wenn ihr Ge-
fühl so ist. Aber sie hat eben den anderen Weg genommen.

Ich habe dann überlegt, dass wir Eltern oft, ganz oft, ich sage:
viel zu oft anspringen, wenn die Kinder mit einem Beschwer
daherkommen. Dann verpassen wir, dass die Beschwernisse
der Kinder eben auch ihnen gehören. Ich bin dann schon da-
bei und in Hab-Acht-Position. Aber ich muss meinem Kind
sein Beschwer nicht sofort, rasch, auf der Stelle aus der Hand
nehmen (auf dass es ihm besser gehen möge). Ich kann in ge-
wissen Respekt vor dem Beschwer sein - dem kaputten Knie,
dem Wasserfall, dem Anfauchen. Ich meine, es sind Gescheh-
nisse aus der Welt meines Kindes. Sie gehören ihm. Ich nehm
da nichts fort, ziehe sie nicht rüber in meinen Bereich, ich
vereinnahme sie nicht. Weiter: Ich vereinnahme mein Kind
nicht. Wiewohl die Gelegenheit günstig ist und der Reiz groß.

Wieviel achtungsvolle Distanz haben wir unseren Kindern
und ihrer Welt gegenüber? Kann man da sensibel sein? Lässt
sich erkennen, was mein und was dein ist? Wieviel Verstrik-
kung ist gesponnen, wieviel lässt sich überhaupt bemerken?
(Was ja auch unter Liebenden/Partnern/Freunden ein großes
Thema ist.)

Ich habe das Gefühl, dass die Mutter eine gute Botschaft
gesendet gat. "Ok, ich hör Dir zu und ich bin da." Sie hat
noch nicht einmal mitgesendet "Brauchst Du mich?" Sie hat
einfach nur schwingen lassen, dass sie da ist, dass er nicht
allein ist, dass er sich auf sie verlassen kann. Was ihm offen-
sichtlich gereicht hat. Was ihn nicht weggekippt hat aus seiner
Späre, verlockt hat, den schlappmachenden Süßeweg in ihre
Arme zu nehmen. Den alle Kinder kennen, gut kennen. Der
oftundoft nötig aber eben auch so süchtevoll ist.

Der Junge konnte bei sich und seiner Power bleiben. Er trug
sich nach einer Verschnaufzeit zurück ins Getümmel. In die
Welt der Beziehungen, ins wilde Leben.





Montag, 25. Dezember 2017

Revolution in der Krippe










Religiöse Gefühle, Spiritualität und die ganze Welt, die damit zusammenhängt, sind sehr private Angelegenheiten. Aber es lässt sich auch etwas Grundsätzliches dazu sagen. Weihnachten ist eine gute Gelegenheit dazu. Ich konzentriere mich und höre tief in mich hinein...
Es beginnt damit, dass unsere Kultur und damit auch unsere Religion vom Oben-­Unten-Muster charakterisiert werden, und dass wir als Kinder in diesen kulturellen und religiösen Oben-Unten-Strukturen aufgewachsen sind. Die christliche Religion ist für die Menschen, die sie bejahen und in sich tragen, voll Hoffnung, Trost und Liebe. Das sehe ich sehr wohl. Und auch mit einer amicativen Einstellung kann jeder soviel Christ oder Muslim oder Buddhist sein, wie er will - er entscheidet dies aus seiner Souveränität heraus. Aber Oben-Unten enthält eben immer auch ein Unten, und als Kinder waren wir dort, unten, auch als wir in die Religion unserer Kultur eingewiesen wurden. Und hierüber möchte ich nachdenken und dem Weg nachspüren, den auch das Christentum aufzeigen will: den Weg zum Licht, beginnend in der Heiligen Nacht.

Mit Religiosität, Spiritualität, Einschwingen in den Sinn des Ganzen, Teilhabe an der Harmonie des Lebens und der Welt - damit hat ein jeder zu tun. So etwas ist in den Menschen, in ihrem Gefühl und ihrer Existenz. Wenn wir uns als Kinder im Zauber des Tages und in der Magie der Nacht erleben, spüren wir den Atem des Unendlichen, und wir sind voll davon und Teil dieser göttlichen Macht. Wir brauchen keine Pfadfinder, geschweige denn Vormünder, die uns die Wege dort weisen. Wir gehen sie von selbst, mit der Sicherheit derer, die dort zu Hause sind.

Ihr werdet Euch an unzählige Beispiele hierfür erinnern, wenn Ihr einmal inne haltet und zurück-schaut. Auf ein Spinnennetz, den Raureif des Herbstblattes, das Sturmrauschen der Zweige, den Nachtschrei der Eule, das Summen der Bienen, das Donnern des Gewitters, die Sommerhitze des Gehwegs an den Fußsohlen, die rasche Sternschnuppe, die kalte Hundeschnauze, den Schmerz des Schienbeinstoßes, das Zwitschern der Schwalben, ...

Wenn wir Kinder all dies für uns allein erlebten oder mit anderen Menschen teilen konnten, denen wir vertrauten und uns anvertrauten - hätte das nicht völlig ausgereicht, um in Demut und Hosianna die Welt zu umarmen? Wozu brauchte es da noch eine Unterweisung, Schulung, Belehrung? Wo könnten wir heute sein, in unserem Erwachsenenleben, wenn wir diesen selbstverständlichen und beiläufigen Pfad der Religiosität, Spiritualität und Harmonie hätten ungestört weitergehen können?

Religion ist für Kinder das Unvermutete. Das Harte. Das Organisierte. Das Verordnete. Das Seltsame. Das Unverständliche. Religion ist das, was uns klein sein lässt, aufschauen lässt, uns bemüht sein lässt, uns tugendhaft selbstdiszipliniert aufsagen läßt "Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein". War das wirklich nötig? Und wohin hat es uns geführt?

Religion führt Kinder zu Absonderlichkeiten: Zum Händefalten, zum Hinknien, zum Seltsame-Bewegungen–mit-dem-rechten-Arm-Machen ("Bekreuzigen“), zum Unverständliches-Sagen ("Wie auch wir unseren Schuldigern"), zu Verwirrung und Versteh-Ich-Nicht, zu einem seltsamen Leben (nämlich dem nach dem Tod). Religion riss uns fort von der Ungezwungenheit und der Natürlichkeit, von der Freude und der Wahrhaftigkeit, damals, in der frühen Kindheit.

Und die christliche Religion zwang uns Entsetzlichkeiten auf. Erbsünde, Schuldgefühl, Böses, Satan, Hölle - die ganze spirituelle Seite des Lebens wurde in schauriges Gekrächze verzerrt. Wir ver-stummten erschrocken und zutiefst verunsichert vor dem Monströsen: da hing an der Wand ein mißhandelter Mensch, genagelt an ein Stück Holz, mit dem Geruch von Tod und Elend, in düsteren Gemäuern, umheult von unterwürfigen Jubelgesängen und angstschwitzendem Trauergemurmel der Großen, im irrflackernden Kerzenlicht und atemnötigendem Qualm.

Was unsere Großen aber in völlig verdrehter Weise gut fanden und dem sie sich hingaben. Als wäre uns Kindern ihre Todesangst vor all dem verborgen geblieben, und wenn sie noch so laut ihr "Loben Dich" sangen. Und wie sie das alles mit einem knappen Megabombastic-Wort auf den Punkt brachten und uns damit niedermachten, jedem "Bitte, was soll das?" den Boden entzogen, jeglichen Ausweg zumauerten: mit diesem Machtwort GOTT.

Wir waren voll Lebensfreude und Lachen. Wir kamen von der Heuwiese und dem Tau des Morgens, dem frischen Schnee und dem Lachen unserer Spiele. Und wir wurden geschafft hinter große Tore und dicke Mauern, in Unwelten, die sie "Kirche" nannten. Und sie zeigten uns dieses mißhandelte Wesen und beteten es an! Und unterwarfen sich ihm, und all ihre tiefe und wahre Empfindsamkeit für sich selbst und eine Existenz in Harmonie war weggewischt, verdreht und verloren. Nur GOTT konnte ihnen einen Funken Hoffnung geben, dass sie irgendwann einmal, "nach dem Tod" im Licht sein würden. In dem Licht, das für uns Selbstverständlichkeit war, in jedem Spiel, in jedem Spinnennetz, Raureif, Sturmrauschen ...

Unter welche armen, von Düsternis und Verdammnis gezeichneten Monster waren wir da um alles in der Welt geraten? Waren das die Menschen, die wir lieben konnten, denen wir vertrauen konnten, denen wir uns anvertrauen konnten? "Was ist mit Euch?" Diese stumme Frage blieb uns im Hals stecken, zu erschüttert waren wir vor dieser seltsamen Schaurigkeit, und zugepackt waren wir von ihrem unerbittlichen Sog, der uns in ihre Religion zerrte.

Und wie sie es uns schrecklich schön redeten, dieses absurde Theater: es gab die Liebe Gottes, seine Gnade, Vergebung, das ewig Leben, einen Sohn, der für uns starb, eine vollkommene Mutter, ach, und all diese jedes Märchen weit weit übertreffenden Fieberphantasien und Verhexungen. Und dann natürlich: die ERLÖSUNG und das PARADIES. Mein Gott, da lebten wir doch längst, jeden Tag, vom Aufwachen bis zum Einschlafen. Weshalb vertrieben uns die Großen daraus, hin zu ihrer Religion?
Lässt sich da nicht ein religiöser Kindesmissbrauch sehen? Ein religiöser Menschenmissbrauch? Eine Religions-Traumatisierung der Gesellschaft?

Wie immer gibt es die Frage an sich selbst: "Was will ich? Wer bin ich?" Will ich diesen Diebstahl meines religiösen Herzens? Will ich diesen kaum mehr wahrgenommenen Verlust meiner Spiritualität? Will ich verstümmelt in meiner religiösen Ursprünglichkeit und Wahrhaftigkeit weiter durchs Leben gehen? Will ich tatsächlich in ein solches Haus gehen, in dem Kinder von ihrer Harmonie und der Sinfonie des Lebens fortgerissen werden? Kirche, Kreuz, Weihnachten, Krippe? Welche Tränen sind zu weinen über diesen Verlust der Seele!

Weihnachten hat ein Kind als Mittelpunkt. Wir waren Kinder, wir sind Kinder. Wir können all dem noch einmal begegnen, in der Kirche, in der Weihnachtspredigt, vor der Krippe. Wir können mit diesem Kind dort im Verbund sein und uns stolz und aufrecht aus diesem Jammerhaus entfernen. Hinausgehen, in die klare Nacht des Winters und uns von der Unbestechlichkeit der Sterne Freundliches sagen lassen. Und beginnen, unsere Religiosität zurückzuerobern - mit dem Kind in der Krippe, das wir so befreien wie uns selbst. Beginnen, uns mit unserer durch das Christentum unterdrückten Religiosität selbst zu versöhnen.

Und so hängen wir an die Stelle des Kreuzes etwas, das jenseits jeglicher Tod-Leben-Symbolik unmittelbar und eindeutig von der Weisheit und der Liebe des Lebens kündet. Wir hängen Bilder auf, die uns begleiten, voller Religiosität, Ehrfurcht und Andacht: Wie wir unsere Kinder voll Freude an uns drücken, wie wir dem Konzert der Frösche lauschen, wie wir in heiliger Verliebtheit miteinander verschmelzen, wie wir wunderbar frühstücken, wie wir uns den Klängen unserer Lieblingsmusik hingeben, wie wir den Geschichten des Murmelbaches zuhören ...

„Was sind Deine Bilder, Jesus? Was willst Du dort aufhängen? Was ist der Spiegel Deiner Seele? Was bewegt Dein Leben? Was erfüllt Dich? Was ist Dir heilig? Das Bild vom Esel, der Dich nach Jerusalem trägt? Von Maria Magdalena, von Eurer Liebe? Von der Peitsche im Tempel und Deinem Zorn? Von Lazarus? Von Deinen Freunden? Vom Konzert der Frösche? Von Deiner Lieblingsmusik? Vom Murmelbach?"

Jeder hat seine eigenen Erfahrungen mit der Religion. Und wem sie wertvoll und heilig ist, diese Botschaft von Jesus, seinem Vater und dem Heiligen Geist, dem sei das unbenommen. Ein jeder ist sein eigener Chef, auch in der religiösen Frage. Nichts ist über dem anderen stehend, und was dem einen sein Gott oder Allah, ist dem anderen sein Buddha oder Manitu. Aber dennoch: Weihnachten und das Kind in der Krippe sind eine Gelegenheit, sich seinen eigenen religiösen Kindheitserfah-
rungen zuzuwenden. Einmal hinzuschauen, was sich dort alles sehen lässt. Wie mit uns umgegangen wurde in dieser Oben-Unten-Religion.

Jeder kann sich lieben, auch in seiner religiösen und spirituellen Dimension. Und jeder kann auch dort eine Revolution beginnen, wie in der pädagogischen Frage. Revolutionen des Herzens beginnen mit dem Wieder-Merken und mit dem Noch-einmal-Hinschauen. Wie in der Wahrheitskommission in Südafrika ist das Aussprechen der Wahrheit ein machtvoller Impuls, der die Trauer einlädt und die Heilung beginnen lässt. Niemand muss erzogen werden, ein jeder ist ein vollwertiger Mensch von Anfang an, eben kein Erziehungsmensch. Und ebenso muss niemand zu einem Religionsmenschen gemacht werden. Wir sind wie jedes Kind, auch das Kind in der Krippe, vollwertige Menschen von Anfang an, auch in dieser Frage: Ebenbilder des Göttlichen und Frohe Botschaft. Von nun an bis in Ewigkeit!





Samstag, 16. Dezember 2017

Schule, grundsätzlich





















Eine Mutter erzählte, dass ihr Sohn (2. Klasse) im Schwimmunterricht
mit einigen Mitschülern auf der Bank neben dem Becken warten muss,
bis der Lehrer mit den anderen Kindern im Wasser fertig ist. Und sie
dann wieder dran kommen und ins Wasser dürfen. Abwechselnd. Er
muss also mit nasser Badehose draußen warten und friert. Das hat
dazu geführt, dass er zweimal nicht zum Schwimmen mitgegangen
ist. Erst jetzt hat er es seiner Mutter erzählt. Sie überlegt, ob sie den
Lehrer zur Rede stellen oder es auf sich beruhen lassen soll.

Das führt mich mal wieder zur Schule, und zwar grundsätzlich. Ich
suche einen Text raus (aus meinem Buch "Schule mit menschlichem
Antlitz"), der dazu passt.

*

Die Schule ist eine Institution, die ganz und gar unabhängig von
uns existiert. Wir sind immer konkrete Menschen, und das heißt
für die Eltern und Kinder: dieser Vater, diese Mutter, diese Kinder.
Unabhängig von uns als Familie existiert viel in der Welt: die Kneipe
nebenan, das Stadttheaterr, der Bundestag, und eben auch die
Müller-Schule in der Meierstrasse und die Meier-Schule in der
Müllerstrasse. Klar, das hat auch etwas mit uns zu tun, denn wir
gehen ja in die Kneipe und ins Theater, wir wählen das Parlament
und schicken die Kinder zur Schule. Aber es ist eben auch wahr,
und das zu übersehen macht die Macht der Schule aus, dass diese
Institution, die Schule, jede Schule zunächst einmal mit uns nichts,
aber auch ganz und gar nichts zu tun hat. Die Schulgesetze: nicht
von uns beschlossen. Die Lehrer: nicht von uns bestellt. Die Schul-
ordnung: nicht von uns in Auftrag gegeben. Die Lehrpläne: nicht
unsere Erfindung. Methodik, Didaktik, Motivation, Evaluation
und das ganze weitere depersonalisierende Brimborium: weiß
Gott nicht unsere Sache. Nichts, aber auch gar nichts ist von der
Schule auf unser Konto zu buchen. Wir hier - die Schule dort.

So - und von dieser radikalen, grundsätzlichen und wesentlichen
Unterscheidung aus sehe ich mir an, was das dort denn ist, die
Schule, wie sie strukturiert ist, was sie will, was sie bewirkt.
Und von daher kommt meine Entschlossenheit, für meine Kin-
der einzustehen und den Anforderungen der Schule immer
wieder mit Verwunderung zu begegnen: "Tatsächlich - das 
hat der Lehrer gesagt? Was hat er sich eigentlich dabei ge-
dacht?" Immer wieder. Und von daher kommen dann meine
Reaktionen, mein Umgang mit dem Merkwürdigen da draußen
- das Schule heißt und durch das ich selbst damals, zu meiner
Zeit, durchwanderte, durchmusste. Exotisch schon damals, eine
seltsame Erfindung, umgeben von der Aura des Absoluten, wie
Sonne, Mond und Sterne. Nur: dass ich heute diese Fiktion
sehe, als Erwachsener darum weiß, dass die Schule eben nicht
als göttlich Ding vom Himmel auf die Erde gekommen ist, son-
dern ein ganz und gar menschlich Ding ist, ersonnen und ge-
macht von Menschen wie Du und ich, und dass man das alles
gänzlich anders sehen kann.

Ich lade also jeden ein, sich von der Schulideologie zu befreien.
Big Brother, das Kuckucksnest, Trumans World zu verlassen,
diese gläserne Glocke, die Kinder leibhaftig einfängt, niemals
wirklich entlässt, sondern sie als großgewordene Kinder lebens-
lang gefangen hält. Schule muss nicht sein! Sollte sie sein? Jeder
von uns gibt hier seine eigene Antwort. Ein Tip für Unentschlossene:
Fragen Sie die Kinder, ein halbes Jahr nach der Zuckertüte. Sie
kennen noch den Zusammenhang, wissen noch um das, was mög-
lich ist, sie haben es noch im Blick, was Leben ohne Schule heißt.

Dies alles zu wissen macht sehr sicher, die eigenen, aus der familiären
Situation kommenden Antworten zu finden. Keine Hausaufgaben
gemacht? "Ran an die Arbeit" oder "Dann lass es eben". Ein Brief,
dass mein Kind sich in der Schule nicht benimmt? Wozu sollte es
sich benehmen? Und was heißt eigentlich "Benehmen" in der Schule?
Schlägt es andere Kinder? Vielleicht war das wichtig und richtig.
Redet es zu laut im Unterricht? Vielleicht war das wichtig und richtig.
Tut es nicht, was der Lehrer will? Vielleicht war das wichtig und
richtig. Jeder Mensch, auch jeder junge Mensch, auch jedes Kind
in der Schule tut immer etwas Sinnvolles, mit Grund, aus seiner ei-
genen, individuellen Schlüssigkeit und Weltdeutung heraus. Das in-
teressiert mich. Also: Warum keine Hausaufgaben? Was führte zur
Schlägerei? Zu Gegenreden? Ich liebe mein Kind und ich freue mich,
wenn ich es mehr und mehr immer wieder neu verstehen lerne. Soll
ich mein Kind korrigieren um der Schule willen? Soll ich einen leben-
digen Menschen korrigieren, weil Herr Meier das gern so von mir
hätte? Wer bin ich denn?

*

Was also ist im Fall mit dem Schwimmunterricht zu tun? Ich habe
gesagt, ein Gespräch mit dem Lehrer kann nicht schaden. Motto:
Ich habe keine Lust, dass mein Kind sich erkältet. Aber das weiß
er doch selbst. Er kann seinen Unterricht besser handhaben, wenn
die einen Kinder im Wasser sind und die anderen auf der Bank.
Erkältungsrisiko eingeschlossen. Wie immer hat auch dieser Lehrer
sein eigenes System, mit den Kindern und seinem Lehrauftrag zu-
rechtzukommen. Eltern stören da nur. Doch auch wenn das alles
so ist: Ich bin nicht für die Schule und den Lehrer da, sondern für
mein Kind. Und dann interveniere ich. "Ich möchte nicht, dass mein
Kind mit nasser Badehose rumsitzt und sich erkältet."


 

Mittwoch, 13. Dezember 2017

Kunst






















Wir sind im Wald. Klara (6) und Kolja (4) legen gelbe Blätter
auf dem Waldboden zu Linien und Kreisen, sie malen mit den
Herbstblättern. Es sieht nicht nach Natur aus sondern nach Kul-
tur. Nach Kunst. Kunst im Wald.

Die Kinder spielen. Ist Kunst Spielen, verspielt? Ich habe immer
mitbekommen, dass Kunst mit einem hohen Anspruch daher-
kommt. Picasso, Rembrandt, Beethoven, Mozart - das ist Hoch-
kultur, Kunst. Die Wasserfarbenbilder der Kinder, das Graffiti
an der Mülltonne: das ist keine Kunst.

Wie relativ darf es sein in der Kunst? Wann kommt der Kitsch
um die Ecke? Wann der Unsinn? Woran läßt sich erkennen, ob
es Kunst ist oder nicht? An den Unis wird Kunst gelehrt, es
gibt Kunstschmiede und Kunsthandwerk, Kunsthonig und
Kunstseide. Es gibt Künstler und gekünstelte Sprache, Kunst-
auktionen und Kunstfälscher. "Ist doch keine Kunst" und
"Jeder Mensch ist ein Künstler".

Was soll ich davon halten? Von dem ganzen Tamtam, der
um die Kunst gemacht wird? Es nervt mich, wenn irgendein
objektiver Anspruch im Spiel ist, sowieso, aber auch bei der
Kunst. Im Kunstunterricht in der Schule bekam ich für ein
Bild nur eine Drei, und dabei fand ich mein Bild super und
voller Ideen. Spinnt er, der Kunstlehrer? Sein Sohn war in
meiner Klasse und bekam für alles, was er ablieferte, eine
Eins, immer! Da ging ich auf Distanz zur Kunst.

Das war doch alles eine absurde abgekartete Sache, irgend-
welche Schriftgelehrte legten fest, was Kunst ist und was
es eben nicht ist. Kirchenfenster, documenta, Mona Lisa:
Ja was denn nun? Kunst ist offensichtlich Kunst. Da weiß
man Bescheid, und die Herren und Damen Künstler sowie-
so.

Echt jetzt, da soll er doch malen. Oder dichten. Oder kom-
ponieren, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Als sein
eigener Meister. Und dann kann er mir zeigen oder vorfüh-
ren, was Sache ist. Gefällt mir, oder nicht. Und fertig. Was
soll das Gelaber von "Kunst" dabei?

Ich finde das seltsam übergriffig, wenn jemand seine ge-
bastelten Dinge als Kunst rüberbringt. Mit einem hohen
Anspruch versieht. Wenn sie in Altamira ihre Tierchen
an die Wand bringen: Ist ihr gutes Recht, sind ihre Erin-
nerungen, Visionen, Botschaften. Das kann ich respek-
tieren, so wie ich den Menschen respektiere und achte,
der damit unterwegs war. Aber in Ehrfurcht erstarren?
Da macht jemand sein Ding. Gefällt mir, Beifall klat-
schen und staunen. Oder gefällt mir eben nicht.

Wie immer bin ich auch in Sachen Kunst mein eigener
Chef und lass mich nicht ins Boxhorn jagen. Es ist in der
Kunst so wie sonst auch: Entweder spielt sich das alles
in einem Oben-Unten-Raum ab mit objektiven Maßstä-
ben. Oder es bleibt in der postmodernen Welt, in der
nichts über dem anderen steht und alles gleichwertig ist.
Mit subjektiven Vorlieben und Unlieben.

Klar ist der eine geschickter mit der Hand und dem Kopf
als der andere. Und wenn es mir gefällt, hör ich gern zu
und seh ich gern zu und ess ich gern zu. Ich mag klas-
sische Musik, impressionistische Bilder, Blätter auf dem
Waldboden. "Spiel mit mir" sagen die Töne, die Farben,
die Blätter. Es ist ein leichtes und heiteres Geschehen.
"Mach mit" rufe ich der Kunst zu, und sie atmet durch
und läuft erleichtert auf mich zu. "Endlich" antwortet sie.
 "Na klar doch", sage ich, "und was machen wir heute?" 










Donnerstag, 7. Dezember 2017

Dankbar Sein





















In letzter Zeit geht mir immer wieder durch den Sinn: "Dankbar
sein". Besser: "Dankbar Sein", mit großem S. Es ist keine Er-
mahnung oder Aufforderung, was ich da gefasst habe, es ist
ein Zustand. Ich schwinge in Dankbar Sein.

Ich habe gemerkt, erst wenig, wie ein Flüstern, dann mehr und
stärker, dass es so viel in meinem Leben gibt, für das ich dankbar
bin. Im Schauen zurück, in die vielen Jahre. Da gibt es unendlich
viele Kleindankbarkeitigkeiten. Und auch viele wuchtige Groß-
dankbarkeitigkeiten. Und da ich nun dabei bin, in diesem Dank-
barkeitsmodus grad unterwegs bin, merke ich diese Dankigkeiten
Tag für Tag. Verblüffend viele!

Heute: Ich bin zu Besuch bei meiner Mutter, sie ist jetzt 96. Wir
fahren nachmittags los, um einen Adventskranz zu ergattern.
Einen schlichten, so wie sie ihn mag. Es ist aber schon der 6.
Dezember, und es ist fraglich, ob die Blumengeschäfte und
Gärtnereien noch einen haben. Dreimal klappt es nicht, es
gibt nur noch besonders Edle. Die will sie nicht. Hartnäckig
wie ich bin, versuchen wir es wieder: und siehe da, eine große
Gärtnerei außerhalb hat genau den, den sie sich wünscht. Tja,
da bin ich einfach kleindankbar.

Auf dem Weihnachtsmarkt im Dorf ist es knallvoll. Ich breche
ab und komme um neun, kurz vor Schluß wieder. Schon besser,
aber die Stände haben nichts, was ich suche, Kleinigkeiten zum
Verschenken zu Weihnachten. Na gut, dann eben nicht. Da bin
ich auch nicht dankbar, liegt nicht an. Zum Schluß gibt es aber
genau den Stand, der was für mich hat: Glasschmuck zum Auf-
hängen am Fenster. Ich komme mit dem Mann ins Gespräch,
der die Glassterne gemacht hat. "Für einen Stern brauche ich
eine knappe halbe Stunde." Er ist für mich ein Künstler, ich kann
bewundern, was er gezaubert hat. Als ich gehe, bin ich wieder im
Kleindankbarkeitsmodus. Doppelt: Ich habe doch noch ein schö-
nes Geschenk gefunden. Und das Leben hat mir einen Künstler
geschickt, wir waren einige Minuten gemeinsam unterwegs.

Ich zähl mal bis zehn, Dankbarkeiten heute: 1) Ich hatte ein
gutes, das heißt: persönliches Gespräch mit dem Meister mei-
ner Autowerkstatt. 2) Die Bremsklötze meines Autos, das ich
verkaufen will, müssen nicht erneuert werden. 3) Die Dahlien
haben sich butterweich im Garten rausmachen lassen: ruck-zuck
fertig. 4) Meine Mutter wollte ihren täglichen Spaziergang doch
noch machen, nach dem Einkaufen, im Dunkeln. 5) Sie hat über
die Leuchthalsbänder der Hunde gestaunt, wie ein Kind halt.
6) Es gab hier im Haushalt tatsächlich eine funktionierende
Luftpumpe für mein Radjoggen. 7) Die Zulassung meines neuen
Autos beim Bürgeramt klappte wie am Schnürchen. 8) Felix hat
mir doch noch die Adresse vom Theater gesimst, wo ich morgen
für ihn besondere Lampen abholen soll. 9) Ich habe heute morgen
meine Lieblingsschokolade im Nikolausschuh entdeckt.10) Das
Toastbrot eben beim Abendessen war echt lecker!

Zum Geburtstag hatte mir eine Freundin ein besonderes Buch
geschenkt: Ledereinband, leere Seiten. "Was immer Du damit
anfangen willst." "Ich werde reinschreiben, worüber ich mich
am Tag gefreut habe. Eine Dankbarkeit am Tag." 




Samstag, 2. Dezember 2017

Kinderstreit und Sonnenstrahlen





















Klara (6) und Kolja (4) sind zum Babysitten da. Alles läuft gut, doch
dann will Kolja auch mal den Leuchtstab haben, den Klara hat. Aus
meiner Sicht berechtigt, Klara spielt damit seit 10 Minuten. Koljas
Bitte wird nachdrücklicher, Klara rückt ihn nicht raus. Es kommt zum
Streit. Lauter Streit, Tränen.

Soll ich intervenieren? Das "Kolja ist jetzt auch mal dran" ist da, es
ruft mich auf. Aber ich will das nicht von mir aus tun. Fänd ich ir-
gendwie unpassend, unhöflich. So eine Intervention sagt für meine
Ohren im Subtext: "Ihr könnt Eure Konflikte nicht allein lösen. Ihr
seid da unzuverlässig. Nicht vertrauenwürdig. Unfähig. Kinder eben,
die das noch nicht können." Ich wäre die Ordnungsmacht. Meine
Intervention käme mir übergriffig vor.

Lasse ich die Kinder im Stich? Bin ich herzlos, unsensibel? "Du
kannst doch nicht einfach nur zusehen, wenn sie sich streiten und
nicht weiterwissen." Das hör ich schon. Doch ich seh nicht nur zu.
Ich sehe zu ohne "nur". Ich bin ja da, und sie sehen mich. Ich schicke
Freundliches, Anteilnahme. Ich schicke keine Ungeduld, Vorwurf,
Grummel. Und ich bin ja da, wenn sie mich zu Hilfe rufen sollten.
Und auch ein "Soll ich Euch helfen?" ist schon viel zu viel Einmischen,
stößt sie aus ihrer Konzentration aufeinander.

Nein, ich trage ihren Streit, ihr Geschrei, ihre Tränen. Ich ertrage
sie nicht, ich trage sie. Und all die vielen üblichen Möglichkeiten,
die an mich heranwabern, schicke ich weg, auch freundlich und
gelassen. Möglichkeiten: Den weinenden Kolja auf den Arm neh-
men, Klara ins Gewissen reden, "Wenn ihr Euch nicht einigt, ver-
schwindet der Leuchtstab mal für eine Weile", Ablenkungsmanöver
starten, sie rausholen aus der Situaiton ("Wir gehen jetzt in den
Wald"), Thematisieren Streit und Gerechtigkeit, usw.

Ich habe Geduld, krame in der Küche weiter rum. Klara behält
den Stab, aber auch sie hat Tränen in den Augen. Es wird ruhiger,
es wird still. Dann höre ich an ihren Stimmen, dass sie sich nicht
mehr Gram sind, sie verhandeln irgendetwas, dass nicht mit dem
Leuchtstab zu tun hat. Sie kommen zu mir, suchen meine Nähe,
und wir besprechen, ob wir rausgehen. Der Stab in Klaras Hand
hält die Klappe.

Einen Satz sage ich ihnen aber doch. Ich habe ihre Gesichter
beim Streit gesehen. "Wir tun etwas Ungehöriges." Beschämt-
sein, Schuldgefühl. Schnute, Blick auf den Boden. Ich sage
ihnen: "Bei mir könnt Ihr auch streiten. Das ist ok. Da gibt es
keine Schimpfe." Mir liegt daran, ein Pflaster zu kleben, ein
Trostbonbon zu geben, Sonnenstrahlen zu schicken.

Und ich freue mich: Ich habe sie nicht aus ihrer Balance ge-
stoßen, ich habe ihre Souveränität nicht angetastet. Ich habe
den Pfad iher Würde nicht verlassen: "Auch wenn Ihr streitet
und schreit und Tränen fließen - Ihr seid Menschen mit einer
Würdekrone." Ich weiß aber auch, dass ich das nur kann,
weil mich ihre Töne, Emotionen, Kinderbotschaften, Signale
aus meiner eigenen Kindheit nicht verwirren, zum Intervenie-
ren drängen. Und ich merke, dass ich dankbar bin für dieses
Friedensgeschenk.


Dienstag, 28. November 2017

Man kann keine Fehler machen






















"Sie sagen, man kann keine Fehler machen. Was meinen Sie damit?"
Frage auf dem Vortrag. Ich erkläre, aber ich weiß auch, dass meine
Erklärung zum "Keine Fehler machen" nicht jeden erreicht. "Man
macht aber doch Fehler. Und man kommt nur weiter, wenn man
seine Fehler erkennt und daran arbeitet."

Klar mache ich oft etwas anders als eben. Weil das Eben nicht so
war, wie ich es gern gehabt hätte. Ich schlage mir nicht zum zweiten
Mal mit dem Hammer auf den Finger, ich parke diesmal vorsichtiger
ein, ich ziehe mich wärmer an. Der falsche Schlag, das falsche
Parken, die falsche Kleidung: wieviel Fehler steckt da drin? Und
passt "falsch" eigentlich?

Ich bin da schon hellhörig. Um das Wort "Fehler" herum gibt es eine
Ausstrahlung, eine verborgene Botschaft, eine Hintergrundmusik,
die ich nicht mag. Herabsetzung, Besserwisserei, Demütigung,
Schlechtsein. Die ungute Bösewelt taucht auf, wenn von einem
Fehler die Rede ist. Und da jeder Mensch für mich sinnvoll und
Ebenbild Gottes ist, passt das nicht zusammen.

Beim Rechnen kann ich den "Fehler" leichter akzeptieren. 3 plus
3 gleich 7 ist falsch. Ein Fehler? Ein Rechenfehler ja, aber
ein Fehler? Wer drei und drei addiert zu sieben, der fällt aus dem
Sinn, dem universellen kosmischen Sinn ja nicht heraus. Er ist un-
konzentriert in Sachen Algebra, will den Lehrer ärgern, seinen
Protest gegen die Mathematik, die die Atombombe hervorgebracht
hat, demonstrieren oder sonstwas. Er kommt nicht zur mathema-
tisch! richtigen Lösung. Aber seine Lösung "Sieben"" ist nicht in
einem höheren Sinn ein Fehler. "Sieben" ist Ausdruck seines
Insgesamts, seines Sinns, seiner Liebe und Schönheit. "Fehler"
passt nicht, "Rechenfehler" schon.

Bin ich da überdreht? Ist sowas alltagstauglich? Tja, ich verhandle
beim "Fehler" eben etwas Grundsätzliches. Das Fundament der
Amication ist gebaut ohne den Fehler. Ohne die ungute Welt, die
den Fehler umgibt.

Ungute Welten gibt es bei vielen Wörtern, die wir dann ver-
meiden. Sie drücken Zusammenhänge aus, die nicht mehr
passen und ersetzt werden. So eine politische Korrektheit lässt
sich auch übertreiben, aber oft ist es eben stimmig. Statt
"Neger" gilt heute "Schwarze". Und oft fehlt auch ein neues
Wort. "Unkraut" für die Distel und die Brennessel? Sie sind
die Heimat von Schmetterlingen und habe ihren Platz im
Ökosystem. Ein neues Wort für "Unkraut" fehlt. Wie beim
"Fehler". Distel und Brennessel existieren, aber die Unkraut-
wolke hüllt sie nicht mehr ein. Mein Tun und seine Folgen
(Toter Hund, Blechschaden, Erkältung) gibt es, aber ohne
Fehlerwolke.

Ich kann also keine Fehler machen, selbst wenn ich es wollte.
Weil ich die kosmische Konstruktivität, die mich existieren lässt,
nicht verlassen kann. Ich bin aus Konstrutkivität entstanden und
gewoben, jenseits aller Fehlerei.

"Sie können es jederzeit anders machen als eben", sage ich. "Aber
Sie müssen über das Eben nicht schlecht denken. Das Eben war
ja grad eine gültige Gegenwart. Warum wollen Sie ihre Vergangen-
heit schlecht dastehen lassen und ihr - also sich - Vorhaltungen
machen? Kann man tun, mus man aber nicht tun. Man muss nichts
an sich fehlerhaft finden, auch nicht das, was grad schiefgegangen
ist."

Danach kommt dann gleich das Gespräch über das Leid, dass
durch Fehler entsteht. Fußgänger angefahren, Kind angebrüllt,
Partner verlassen. Ja, durch unser Tun entsteht immer wieder auch
Leid, und das ist ein großes anderes Thema. Fehler aber? Passt
auch bei der Leidthematik nicht. Ich tue immer Sinnvolles, Fehler-
loses, und dabei kann es durchaus immer wieder zu Leid kommen.
Fehlerlos sein öffnet nicht das Tor zu leidfrei sein und führt auch
nicht in die Lieblosigkeit. Ohne Fehler zu leben schließt kein Tor
sondern lässt ein Tor offen. Das Tor, hinter dem ich in Harmonie
mit der Welt und mir lebe.



 


Sonntag, 26. November 2017

Amication leben, Rita









Ich lebe bewusser als je zuvor im Jetzt und Heute und der Umgang
mit anderen Menschen fällt mir leichter. Ich kann klarer "meine
Sachen" sehen und sagen. Ich weiß, was ich möchte und kann es
sagen ohne schlechtes Gefühl (Gewissen). Wenn andere dann
Schwierigkeiten mit mir haben, kann ich es schon ertragen und sie
trotzdem akzeptieren.

Ich sehe jetzt deutlicher als früher, dass ein "Misserfolg" ganz alleine
von mir beurteilt werden kann und es alleine an mir liegt, alles zu
revidieren. Dies nimmt mir die Angst vor neuen Situationen, vor
dem Umgang mit neuen, fremden Menschen (hoffentlich sage ich
nichts falsch). Es nimmt mir auch die Angst vor meiner eigenen
Spontaneität. Ich mag es, wenn sich jemand mit meinen Problemen
anzufreunden versucht, auseinandersetzt und eventuell eine ldee
hat, die mir eine Entscheidung erleichtern könnte. Entscheidend bin
jedoch immer ich selbst. Das ist mir im Laufe der letzten Zeit bewusst
geworden.

Miriam, meine älteste Tochter, ist 4 Jahre alt. Miriam ist der
Meinung, dass ich ihren Vorstellungen entsprechend ihre Sachen
regeln kann. Früher war ich oft sauer und gekränkt, wenn ich alles
tat, was ich konnte, und sie schimpfte und tobte. Heute versuche ich
ihr zu helfen, solange ich mag und kann. Ich rede nicht mehr auf sie
ein und versuche nicht mehr, ihr die Unmöglichkeit der Durchfüh-
rung ihrer Vorhaben zu erläutem. Miriam ist, wie sie ist, und ich will
sie nicht mehr ändem.

Denke ich an den täglichen Umgang mit meinen beiden Kindern,
ist mir klar, meine pädagogischen Vorkenntnisse (Erzieherin und
Lehrerin) waren eher hinderlich als förderlich im aktiven, spontanen
Zusammensein. Da kamen Vergleiche wie "Mutter = Autorität",
"Mutter = Vorbild", "Mutter = immer für die Kinder da", und ich
verschwendete noch viel Zeit mit dem "Was wird wenn?" Heute
kommen mir nur in extremen Situationen solche Gedanken; ich kann
meist über sie lächeln und sie vergessen.

Freitag, 24. November 2017

"Was machen Sie da?"























"Was machen Sie da?" Ich bin im Dunkeln mit den Kindern
zum Geocachen unterwegs. Wir suchen eine versteckte Dose
mit Hilfe von Koordinaten. Es ist ein Internetspiel, das draußen
umgesetzt wird. Wir suchen also, diesmal im Bürgerpark. Der
Wachdienst hat uns erspät, kommt heran: "Was machen Sie da?"

Das ist schon eine seltsame Anmutung. Streck ich dem Mann
des Wachdiensts die Zunge raus? Was hat der mich zu fragen,
uns im Spiel zu stören? Die Antwort "Wer sind Sie denn?" und
"Was geht Sie das an?" kommt hoch, aber ich stopf sie wieder
runter. Ich erklär ihm freundlich, was wir hier tun. Er hört zu,
seine Harschheit verfliegt, "Dann viel Erfolg." Wir sollen den
Park verlassen, er hat schon geschlossen.

Wie oft fragen wir die Kinder, was sie da machen? Oft. Wie
übergriffig ist das eigentlich? Wie kommen sich die Kinder
vor? Ertappt? Überprüft? Geht uns das etwas an, was ein
Kind macht? Wir sind da in einer Selbstvertändlichkeit
unterwegs. Wir bekommen mit, was die Kinder machen.
Und wir fragen nach. Einfach und ungefragt.

Ich denke über die Balance nach, die so eine Fragerei und
Ausfragerei in sich tragen. Big Brother oder Ausdruck unserer
Liebe? Die Kinder sollen nicht zu Schaden kommen. Die
Dinge, mit denen sich die Kinder beschäftigen, sollen nicht
zu Schaden kommen. Die Familienregeln sollen auch nicht
zu Schaden kommen. Die moralischen und gesellschaftlichen
Benimme auch nicht. O lala. Was es da nicht alles zu zer-
deppern gibt. Was es da nicht alles aufzupassen gibt.

Muss ich Auskunft geben, wenn mich jemand fragt, was ich
mache, was ich da mache? Muss ich nicht. Müssen die
Kinder das? Tja - irgendwie schon. "Zeig her", "Mach den
Mund auf", "Was hast Du da?", "Wohin willst Du?" Und
so weiter und so fort. Wem gehören die Kinder, ihr Tun
und Lassen? Ab wann wird es unfreundlich und unerfreu-
lich mit unserer Einmischung?

Der Wachdienst stößt mich auf dieses Thema. Gibt mir
zu denken. "Was machst Du da?" will sensibel gehändelt
werden. Ich bin nachdenklich. Die harschen Töne nehme
ich dem Wachmann nicht übel. Er hat mir eine Tür gezeigt,
die mit ihrer Wucht im Dunkel liegt. Und die ich jetzt sehe
und mit neuer Vorsicht öffnen oder einfach geschlossen
lassen kann. Danke, Wachdienst.

Donnerstag, 16. November 2017

Kindergrenzen








Standardfrage auf dem Vortrag: "Meinen Sie nicht auch, dass die Kinder Grenzen brauchen?" Ich sage dann etwas dazu. In der Richtung, dass die Kinder wie jeder Mensch Grenzen um sich herum haben, und dass sie das nicht irgendwie brauchen. Sondern dass sich Grenzen nicht vermeiden lassen und dass sich fragt, wie man damit umgehen kann.
Und dann gibt es da auch einen ganz anderen Aspekt beim Thema "Kinder und Grenzen", über den weniger nachgedacht wird. Ich stelle ihn hier vor mit einem Text aus meiner Schatzkiste.

*

Im Zusammenhang mit »Kinder und Grenzen« wird meist darüber nachgedacht, welche Grenzen den Kinder gezogen werden sollten. Mit geht es aber jetzt einmal um die Grenzen, die Kinder (wie alle Menschen) um sich selbst haben. Wenn Grenzüberschreitungen den Kindern gegenüber passieren, und wie man das verhindern kann.

Wenn man es merkt, dass Kinder auch Grenzen haben, ist man schon den ersten Schritt gegangen. Natürlich haben sie viele Bereiche, wovor ihr Stoppschild steht. Wenn man jedoch meint, dass Kinder (noch) keine vollwertigen Menschen sind, sondern erst richtige Menschen werden, kommt man kaum auf die Idee, ihnen richtige individuell-spezielle Grenzen zuzubilligen. Aber natürlich: jedes Lebewesen hat seine Grenzen. Allgemeine und spezielle.

Die allgemeinen Grenzen der Kinder werden heutzutage ganz gut bedacht: Kinder dürfen nicht in zu dünne Zonen von Liebe, Achtung, Würde, und äußeren Lebensumständen (Essen, Kleidung, Wohnen usw.) geraten.

Es geht mir aber um die speziellen Grenzen: um die Stoppschilder dieses Kindes, dieses einzelnen Menschen. Jeder hat da andere, manche/viele sind gemeinsam.

Klaus (5) ist ein Acht-Uhr-Ins-Bett-Geh-Kind: Es macht keinen Sinn, von ihm zu verlangen, um Sieben ins Bett zugehen.
Ulrike (3) ist im Gummibärchen-Fan-Club: Es macht keinen Sinn, von ihr die Herausgabe der Club-Karte zu verlangen.
Moritz (9) ist ein Ich-Räume-Nicht-Auf-Kind. So geworden im Laufe der Jahre, bei diesen Eltern, bei dieser Oma. Es macht keinen Sinn, darauf zu bestehen, dass erst aufgeräumt wird, bevor ...
Monika (14) raucht, und zwar eine Menge: Ihr das Rauchen zu verbieten macht keinen Sinn. Doch? Was passiert, wenn sie raucht, weiß sie längst. Aber sie hat ihre Grenze eben anders gezogen. Zigaretten gehören zu ihr, zu ihrem Selbstbild. Wie bei ihrer Tante. Und dem Klassenlehrer. Ihr die Zigaretten zu verbieten, missachtet ihre Grenze: missachtet sie.
Die Beispiele lassen sich unendlich fortsetzen.

Eine Grenzüberschreitung ist eine Grenzüberschreitung. Da sollte man sich nichts vormachen. Unzulässig aus der Sicht des Betroffenen. Aber ich sage nicht, dass man nun alles hinnehmen soll: Hinnehmen, wie mein Kind zuwenig Schlaf bekommt (meine Grenze »Er braucht aber 12 Stunden Schlaf« wird missachtet). Hinnehmen, wie der Süßkram die Zähne kaputtmacht (meine Grenze »Sie soll gesunde Zähne haben« wird missachtet), usw.

Ich will etwas anderes: Wenn einem präsent ist, dass die Kinder da vor einem auch Grenzen haben, berechtigte Grenzen – dann wird man etwas einfühlsamer, umgänglicher, stressfreier in dieser Frage. Ich habe das immer dabei gehabt, dieses Wissen: dass Kinder vollwertige Grenzen-Menschen sind. Und dass Fingerspitzengefühl dazugehört, mit ihren Grenzen umzugehen. Wie bei »allen« Menschen und Lebewesen (ich halte keine Katze gegen ihren Willen fest, ich hänge mich nicht an einen zu dünnen Ast).

Wenn ich eine Grenzüberschreitung nicht vermeiden will (ich verstoße gegen Deine Grenze, damit dies nicht mit mir passiert), dann ohne Lüge. »Ich weiß, dass ich Deine Grenze missachte. Hier stehe ich und kann nicht anders.« Ohne Tricks »Sieh das ein. Es ist besser für Dich«.

Menschen haben vielfältige Liebenswürdigkeiten oder Behinderungen (beides ist dasselbe, je nach Perspektive): lila Haare, Gurken zum Frühstück, krank im Hirn, zu kurzes Bein, Bus statt Auto, Auto statt Bus.

Es macht keinen Sinn, von jemandem zu verlangen, er soll sein Bein nachwachsen lassen. Es macht keinen Sinn, einen Hund zum Unterricht zu schicken, damit er Staubsaugen lernt. Es macht keinen Sinn, von der Schwerkraft zu verlangen, dass sie aufhört, damit ich fliegen kann. Realitäten. Kennen wir. Können wir mit umgehen.

Klaus geht um 8 ins Bett. Ulrike isst Gummibärchen. Moritz räumt nicht auf. Monika raucht. Realitäten. Kennen wir. Können wir mit umgehen. So einfach ist das.

Was will ich wirklich? (Die Praxisfrage der Amication!) Mit diesem Kind leben? »Ja.« Es ist ein Acht-Uhr-Ins-Bett-Geh-Kind und kein Sieben-Uhr-Ins-Bett-Geh-Kind. »Es soll sich ändern.« Soll sein Bein nachwachsen? »Das ist nicht zu vergleichen. Niemand muss morgens Gurken essen.« Wirklich? Wer sagt das? Vergleicht doch. Was passiert, wenn man vergleicht? Geht die Welt unter? Was steht auf dem Spiel?

Ich habe immer gemerkt, dass Krieg oder Frieden auf dem Spiel stehen. Natürlich kann ich in den Krieg ziehen, und ich habe auch oft gewonnen. Und oft verloren. Aber: Ich muss nicht in den Krieg ziehen. Nicht für 1 Stunde eher ins Bett, für noch gesündere Zähne, für 30 Minuten Aufräumen, für körpergesund und dafür seelenkrank.

Ich habe mich eingependelt im Grenzland, wo die Grenzen aufeinander treffen. Und da ich über mich bestimme, bin ich auch der Souverän, der die eigenen Grenzlinien hin- und herschieben kann. Das ist kein Nachgeben! Das ist Augenzwinkern, Halb-So-Wild, Friede, Harmonie. Es sieht so aus, als wäre ich großzügig, einfühlsam, tolerant. Es ist eine andere Quelle: Ich billige mir alle möglichen Liebenswürdigkeiten zu, ich liebe meine Macken – und das kann ich auch den anderen lassen. Auch den Kindern. Ich weiß, wie gut das tut. Ich habe Grenzen, die flexibel sind. Je nachdem. Und wenn sie hart sind, dann ist es eben so ein Tag. Wir nehmen uns unsere Grenzen nicht so übel, weil sie keiner zur heiligen Kuh macht.










Montag, 13. November 2017

Kinderland: ... schläft ...























Aus meiner Kinderforschung


Stefanie (6) schläft. Ich setze mich neben sie und höre ihr zu.
Die anderen sind draußen am Feuer. Ich nehme die Ruhe des
Raumes auf und spüre die Ruhe, die von ihr ausgeht. Ich
sinne über ihre Tränen nach und über meine. Ich habe mir
Zeit genommen, neben diesem schlafenden Kind zu sitzen
und die Stille und ihr Leben in mich aufzunehmen.

Donnerstag, 9. November 2017

Wutanfall






















 „Mein Sohn kriegt oft einen Wutanfall, wenn ich nein sage. Was
soll ich machen?“ Frage eines Vaters auf dem Vortrag. Er erzählt,
dass er ratlos daneben steht. Sein Sohn ist vier, er schlägt dann
um sich und fängt an, Sachen kaputt zu machen.

Ich antworte mit dem Drumherum. Konkretes habe ich nicht parat.
Außer, dass ich Dinge, die für das Kind gefährlich werden könnten,
außer Reichweite bringe. Und zwar vorher, die Wohnung nach
Messer, Gabel, Schere, Licht durchforste. Oder die Dinge, die nicht
kaputt gehen sollen, wegstelle oder sichere. Und dann nehme ich
den weiten Bogen:

Da läuft nichts wirklich aus dem Ruder. Klar haben Wutanfälle ihre
Ursachen. Und ihre Anlässe, oft ein Nein. Die Kinder wollen eben
nicht das, was wir wollen, und unser Nein schlucken sie nicht, son-
dern bewüten es. „Das könnten Sie ihm lassen, es ist seine Art zu
reagieren, wenn so ein Nein seinen Weg verstellt.“

So etwas ist nicht schön. Wer hat denn gern ein Wutanfallkind?
Aber so ein Kind kann einem schon mal geliefert werden, vom
Leben, Gott, den Umständen, irgendwelchen Psychodingen bei
den Eltern. Tausend Gründe und Abgründe. Soll man da rum-
stochern? Ja, wenn es vom Himmel fällt, wie sich so ein Wut-
splitter aus der Seele ziehen lässt. Das passiert aber im wirklichen
Leben nicht auf Bestellung. Therapie? Was soll man denn noch
alles machen! Es sind Wutanfälle, nicht die Pest.

„Nehmen Sie Ihrem Kind seine Wutanfälle nicht übel. Es ist seine
Art, mit Ihrem Nein umzugehen. Und nehmen Sie es sich selbst
nicht übel, dass Sie so ein Kind haben. Und dass Sie nicht wissen,
wie Sie diese Wutanfälle wegbekommen. Sie haben so ein Kind,
jetzt grad, vielleicht noch ein Jahr, vielleicht lange. Und Sie sind
so ein Vater, einer, der so ein Kind hat und der nicht so recht weiß,
wie er damit umgehen soll.“

Ich nehme das Drama aus dem Szenario, die Schwere, das Üble.
Ich schicke ihm rüber, dass er in Ordnung ist und dass er nichts
besonderes tun muss. „Vielleicht schaffen Sie es, nicht mit Schimp-
fen anzufangen. Nicht noch einen draufsetzen. Sie müssen nichts
tun, verbessern, lösen. Sie können einfach warten, bis der Anfall
ausschwingt.“

Reicht das? Einfach warten, bis das wütige Kind vor mir von allein
aufhört? Ja was? Soll ich es hochnehmen, festhalten, auf es einreden,
es bedrängen, mit „freundlicher“ Stimme voll Psycholeim einkleistern?
Kann man alles machen, mach ich aber nicht. Finde ich nicht hilfreich.
Einer wütet, der andere ist dabei. „Sie sind ja da. Sie gehen nicht weg.
Und wenn Sie es schaffen, auch innerlich nicht wegzugehen, sich nicht
von Ihrem Kind zu distanzieren – das wäre prima. Es ist nicht verboten,
sein Kind weiter zu mögen, wenn es wütet. Und sich selbst zu mögen,
wenn es wütet.“

Ich sage ihm, dass die Wüterei seines Sohns ihm keine neue Last
aufbürdet. Die nämlich, dafür zu sorgen, dass das weggeht. Dass
er nicht dem Bild hinterherjagen muss, als guter Vater müsse er
aber doch. „Sie müssen da gar nichts. Sie können schauen, was
Sie gern tun würden, aus Ihrer Sicht, nicht aus der Sicht eines be-
mühten Vaters. Wutanfälle kommen und gehen, wie dunkle Wol-
ken. Man kann sie nicht wegzaubern. Also, lassen Sie sich und ihn
in Ruhe, wenn er wütet. Sie müssen nicht sein Wutmeister sein.“

Reicht so eine Antwort? Ich merke, dass ich ihn auf andere, auf
neue Gedanken bringe. Gute Gedanken? Finde ich schon.




Sonntag, 5. November 2017

Renesmee

  



 

 

Wir sehen. Die Welt. Mit den Augen, dem Herzen, den Bildern, den Farben, den Gedanken, der Fantasie, den Träumen und vielem mehr. Dieses Sehen ist fein gesponnen, gewachsen, es ändert sich oder bleibt gleich, es ist machtvoll, laut und leise, einheitlich und gegensätzlich. Es ist ein Teil unseres Selbst, es ist in uns und wir sind in ihm. Alles im Untergrund, mit grandioser Wirkung im Außen.

Nachmittags-Seminar, Tagesmütterausbildung, ich bin Gastreferent. Eine Teilnehmerin hat ihre Tochter mitgebracht, 16 Monate alt,  Renesmee. Ich beginne mit dem Vortrag, entfalte die amicative Welt. Renesmee erzählt von ihrer Welt, viel Aufmerksamkeit ist bei ihr. Ich sehe das Kind, und ich sehe, wie sie die Konzentration stört. Meine und die der anderen. Einige Mütter spielen mit ihr, reden mit ihr, sind bei ihr und nicht beim Vortrag. Das ganze ist nervig, aber auszuhalten.

Ich erzähle vom „Wer ist Du?“ und vom „Wer bin ich?“, von Identität, Grenzen, Königskrone, Souveränität. Von Gleichwertigkeit, Augenhöhe, Selbstliebe und Co. Renesmee spielt mit dem Schlüsselbund und der Handtasche, bekommt Kekse und Fläschlein. Wer ist wichtig, richtig, darf sein? Was ist verabredet, Konsens, Dissens? Ich bekomme mit, dass viele zuhören, oder eben nicht. Ich höre nicht auf zu erzählen, breite weiter aus, zeige die Tür zur Amication. Renesmee nervt, ist aber auszuhalten.

Pause nach einer Stunde. Hab ich nötig. Die Leiterin entschuldigt sich. „Aber sonst hätte diese Teilnehmerin nicht kommen können.“ „Schon gut“, sage ich. Lege Bücher aus, entspanne mich. Welchen Blick habe ich auf die Kinder, die ich in meiner Erzählung leben lasse?  Nun ja,  den amicativen eben. Was sehen die Teilnehmerinnen, mit den Gedanken, mit dem Herzen? Sehen sie die Krone? Sehen sie sich als Missionare, die Kinder erst zu Menschen machen? Oder sehen sie sich als Gleichwertige, Kind unter Kindern, ein Leben lang? Haben sie überhaupt folgen können, bei so viel Renesmee?

Nach der Pause kommen wie immer die Fragen. Und meine Antworten. Wir haben einen großen Sitzkreis, 20 Mütter und ich. Und Renesmee. Während ich gefragt werde, bevor ich antworte, sehe ich das Kind. Ich höre die Fragen und habe Sehzeit, weil ich ja mit der Antwort noch nicht dran bin. Ich sehe das Kind, wie es im Kreis hin- und herläuft, herumgeht – und ich bemerke, dass ich die Krone sehe!

Wo ist meine Anspannung, mein Ärger, mein Unwohlsein? Nicht mehr da – statt dessen sehe ich das leibhaftig vor mir, was ich gerade noch etwas angestrengt sichtbar machen wollte. Alles an dem Kind vor mir ist schlüssig, königlich, leicht, liebenswert. Die Konzentration auf Renesmee lässt jetzt das in mir schwingen, was hier verhandelt wird. Es wird groß, großartig, einmalig. Ich habe dieses Kind nicht bestellt für diesen Nachmittag. Aber es ist da, geliefert vom Leben und lehrt mich und die Teilnehmer das, was ich mit meinem Vortrag aufscheinen lasse. Eine intensive, eine magische Allianz.

Mein Blick auf das Kind hat sich verändert. Statt Störung jetzt Unterstützung. Statt Unwohlsein jetzt Erstaunen, Ergriffenheit. Statt Belastung jetzt Gelassenheit. Statt „Geh“ jetzt „Willkommen“.

Ich bin von dieser Verwandlung so verzaubert, dass ich erst im Nachgespräch mit der Leiterin dahinter komme, was da passiert ist. Mein Herz sieht Kinder ja so, und das „Ich bin genau so jemand“, von dem Kind hier in den Raum geflüstert, hat mein „Kinder stören die Konzentration eines Vortrags“ überwunden, mich erreicht, meinen Blick auf sie geändert. Ihr wortloses „Hallo Hubertus“ hat mich erreicht, Resonanz ausgelöst, mich „Hallo Renesmee“ antworten lassen. Unsere Welten haben sich aus ihrer Gegensätzlichkeit gelöst.

Der Nachmittag war gut. Sehr gut. Viele nehmen etwas mit, wie es dann heißt. Es wird eine erfüllte und heitere Atmosphäre. Es gibt konkrete Beispiele, direkt zum Erleben: Renesmee nimmt eine Tablettendose aus der Handtasche - „Nein“ - kurzer Protest - und vorbei. Grenzziehen ohne Herabsetzung. Oder: sie hängt sich die Handtasche um den Hals. Die Nachbarin: „Gib her“, das klappt problemlos. Ihre Mutter: „Das kann sie doch machen“. Tasche zurück, das Spiel geht weiter. Die Unterschiedlichkeit der Grenzen wird deutlich. Und dass wir für unsere Grenzwahrung selbst zuständig sind. Alles mein Thema, aber jetzt nicht nur erklärt, sondern direkt gelebt. Und erfahrbar für den anderen Blick auf die Kinder, für den ich heute gekommen bin.

Wir können unseren Blick ändern. Wenn die Belastung und der Ärger unsere Augen formen – das kann weggehen. Wir können anhalten und umdeuten, kann man machen. Muss aber auch nicht zum Stress geraten, diese Umdeuterei. Und gelingt ja auch immer wieder. Vom unguten Ärgerland wandern ins Freudeland. Welchen Großraum will ich haben, wo will ich unterwegs sein? Darauf können wir Einfluss nehmen, von Dort nach Hier gehen, den Blick verwandeln.

Selbstliebe lässt es uns gut gehen. Sie hilft uns. Also lass ich sie mal machen, in mich wirken, meine Blicke freundlich werden. Was ja nicht immer klappt, aber oft eben doch. In großen und kleinen Dingen des Alltags und Miteinanders, mit den Kindern, dem Partner, den anderen. Wie viel Ärger soll in meinem Tag Raum bekommen? Anlässe gibt es genug. Aber mit dem anderen Blick wird der Anlass entärgert und schön geredet und gefreudet.

Martina erzählt von den Matschhänden. Von Renesmee und ihresgleichen. Die Kinder haben Hunger. Die Brote liegen bereit. Vor dem Essen kommt: das Händewaschen.  Ach ja? Wie will ich das vermitteln? 16 Monate und Matschspaß und Hunger - 36 Jahre und Seife vor dem Essen. Was ist der Blick, mein Blick? Auf die Situation, auf das Leben, die Matsche, die Seife, die Brote, auf Renesmee, auf mich? Mit den Augen der Kinder sehen: mein Herz in ihrer Schwingung. Kann sein, muss nicht sein, kann aber sein. Martina: „Die können auch mit Matschhänden essen.“

Empathie, aus der Selbstliebe heraus. Ohne Anstrengung. Als etwas, das passiert. Wenn im großen Nachdenkeland so etwas gern gesehen wird, Amication zeigt solche Möglichkeiten. Ich zeige sie in den Vorträgen, die Kindern zeigen sie unmittelbar. Unser Kopf und unser Herz können sich verändern. Nicht über die Maßen, ein wenig, oder doch stürmisch. Ich kann beiläufig die Matschende ein wenig sauber wischen, die dreckigen Gummistiefel von den Kinderfüßen ziehen,  das Zimmer aufräumen, nachsichtig sein, gerade auch in der Partnerschaft, in Harmonie geraten, mich anstecken lassen.

Wie viel Streit muss sein? Wie viel Streit will ich haben? Wie viel Ärger muss sein? Wie viel Ärger will ich haben? Wie viel Heile Welt? Wer will ich sein? Wir können das nicht alles wirklich selbst machen. Nicht alles, aber manches und manchmal auch vieles. „Ich bin die Schönste im ganzen Land“ - gilt für alle. Für alle? Ja, das ist paradox und wahr zugleich. Zauberei der Liebe.

„Ich kann nicht gleichzeitig einen Vortrag halten und ein aktives Kind in Raum haben.“ Hallo: nur ein bisschen Durchhalten, und der Gegensatz wird zur Harmoniestraße. Vielleicht sind wir oft einfach zu ungeduldig, zu angestrengt, überfordert, vom Gerade und vom Überhaupt. Ja, so ist es oft, immer wieder. Aber unsere Augen und unser Herz sind strapazierfähig und lassen uns auch immer wieder sehen, was es zu sehen gibt: Königskronen, Freude, Harmonie, Eingeladensein, Mitmachen. Vertrauen auf die Verwandlungen – eine große Hoffnung.
   


Mittwoch, 1. November 2017

Nehm Dich an die Leine






















Neulich war eine Katze bei mir. Mein Besuch hatte sie mitgebracht.
Kann man Katzen aus ihrem Zuhause mit auf die Reise nehmen? Was
muten wir den Tieren zu, die bei uns leben, die uns anvertraut sind?
Tja, wie immer: das kommt drauf an, auf dieses Tier, diesen Menschen,
diese Umstände. Schon die anderthalbstündige Fahrt zu mir war ein
Risiko - aber das, dieses Kätzchen war einfach gut drauf und hat die
Fahrt genossen. Es hat also gepasst. Und bei mir war sie dann weiter
gut drauf, hat alles erkundet und sich schließlich auf einen Stuhl
gesetzt und geschlafen. Ich habe mich gefreut, dass sie mitgekommen
war.

Mir geht die Frage durch den Kopf, was wir alles so mit unseren Tieren
- die bei uns im Leben sind - anstellen. Ich bin jetzt bei den Haustieren.
Was wir mit den "Nutztieren" anstellen, vom Namen angefangen bis zu
sonstwas, mal abgesehen. Man muss sich eben auch immer wieder trauen,
der Beziehung trauen. "Sie macht das schon mit", und wenn nicht - dann
kann ich die Autofahrt sofort abbrechnen und nach Hause fahren. Das Sich-
Trauen und das der Beziehung trauen gilt ja auch generell, den Kindern
und dem Partner gegenüber - und ist ein sehr sehr weites Feld.

Das Katzenfrauchen (auch so ein merkwürdiger Name) traute sich aber
noch mehr. Sie hatte die Katzenleine mitgebracht. Die Katze bekam
ein Geschirr umgebunden, daran dann die Leine. Wir wollten mit den
Kindern in den Wald. "Die Katze kommt mit!" Wie bitte? Eine Katze an
der Leine? Und dann noch im Wald? Es war dann einfach wunderschön!
Unser Kätzchen war auf Du und Du mit der Natur, hüpfte hierhin und
dorthin, spielte mit den Ästen und dem Sand, sauste den Baumstamm
hoch, soweit es mit der Leine ging.

"Aber man kann doch eine Katze nicht an die Leine nehmen" geisterte
irgendwie bei mir rum. Doch, man kann. Die Katze im Wald frei laufen
lassen - kann man auch machen. wenn man sich traut. Mit dem Risiko,
dass die Katze dann weg ist, zu ihrem und unserem Umglück. Das war
die Grenze, mehr sollte es nicht sein.

Wieviel Grenze setzen wir den unseren? Wieviel Leine habe ich für
die Kinder und den Partner parat? Bei wieviel Freiheit wird mir unwohl?
Und wie geht es den Kindern und dem Partner mit meinen Grenzen und
Leinen? Gibt es da einen Leinenunterschied zwischen meiner Leine für
die Katze und meiner Leine für einen Menschen? Klar doch! Ich lege
doch keinen Menschen an die Leine! Ach wirklich? Es gibt sie nicht zu
sehen, wer erlebt schon, dass ein Mann seine Frau an einer Leine durch
die Gegend führt. Oder eine Frau ihren Mann. Oder ein Vater sein Kind.

Aber es gibt sie eben, diese Leinen, nicht sichtar, gewoben aus allem
Möglichen: Angst, Vorsicht, Sorge, Macht, "Liebe" und so weiter. Und
wieviele Leinen sind an mich angelegt, lasse ich mir anlegen? Konven-
tionsleinen, Beziehungsleinen, Angstleinen. Von keine Jeans im Theater
bis ehelicher Treue. Also, diese Leinenthematik ist Alltag und wirkt im
Hinter- und Untergrund. Bis es dann mal einen Aufstand gibt oder ein
gutes Gespräch über die Einschränkungen in der Beziehung, und sich
dann die eine oder andere Leine auflöst.

Die Katze nahm die Leine so selbstverständlich hin. Sie hätte
ja auch einen Anfall bekommen können. Tat sie aber nicht. Brave
Katze! Braves Kind! Braver Mann! Brave Frau! Der Umgang mit der
Leine und Freiheit des anderen ist ein sehr sehr weites Feld...

Montag, 30. Oktober 2017

HandyNaturDroge








Heute waren wir zum Geocachen unterwegs (Geocachen:
Verstecke in der Natur nach Vorgaben aus dem Internet
suchen, googelt es mal). Diese Mischung von virtueller
und realer Welt hat was. Eigentlich bin ich ja nur in der
Natur unterwegs, ohne Handy und Co. Immer schon, und
das ist mein Elixier. Aber die Kinder leben eben auch
sehr intensiv in der virtuellen Welt, und wieviel Stunden
sie tatsächlich mit ihrem Handy/Smartfon/Tablet verbringen,
will ich gar nicht so genau wissen.

Doch beim Geocachen entsteht eine gute Harmonie dieser
beiden Welten. Die Aufgaben werden im Internet ausgesucht
und dann mit den Möglichkeiten des Handys draußen gefun-
den. Draußen! Die Kinder werden also von ihrem virtuellen
Spielzeug nach draußen gelockt und sind dann 1, 2 oder
auch 3 Stunden mit mir in der Natur. Naturdoping pur.

"Na gut", sagt die Natur, "dann bringt Euer Handy halt mit".
Da gibt es keine Eifersüchtelei und keinen Streit. Und die
Sorge, dass sie nur mit dem Kopf über dem Apparat hängen,
und nichts mehr vom Rausch der Sinne, der Sinfonie der
Natur mitbekommen, ist unbegründet. Klar, sie sehen immer
wieder auf dem Handy nach, ob der Kurs stimmt. Und lösen
so auch immer wieder mal Aufgaben, um zum Ziel zu kom-
men. Aber die Dynamik des Draußen fängt sie machtvoll ein,
und sie lassen sich einfangen und strecken und recken sich
im Wind, der Sonne, den vielen Düften, Klängen, Farben.

Das alles geht aber nur gut, wenn man seinen Frieden mit
diesem elektronischen Teufelszeug gemacht hat, dieser
unheimlichen Faszination, die sich der Seele der Kinder
bemächtigt. Oder sind die Kinder etwa diejenigen, die sou-
verän sich der elektronischen Droge bedienen? Warum
sollte es nicht so sein? Ich bin immer wieder erstaunt, wie
gut sie mit diesem neumodischen Spielzeug klarkommen.
Dann kann ich mich zurücklehnen und sie machen lassen.
Und freu mich einfach, wenn sie mit mir draußen sind.