Vor einiger Zeit wurde
ich einem Interview gefragt, wie ich zu Maria Montessori stehe.
Frage
»Hilf mir, es selbst zu tun« - Herr Dr. von Schoenebeck,
Sie haben als Lehrer in der Schule gearbeitet. War dieses
Grundprinzip der Montessori-Pädagogik für Sie wichtig?
Antwort
Nur
dann, wenn die Kinder mich so etwas konkret gefragt haben. Die
Montessori-Pädagogik ist eine Pädagogik, und von daher für mich
Fremdland. Denn die Grundposition jeglicher Erziehung und Pädagogik
- die Homo-educandus-Hypothese und die daraus resultierende
Verantwortung des Erwachsenen für das Kind - teile ich nicht. Für
mich sind Kinder vollwertige Menschen von Anfang an, sie werden nicht
erst vollwertige Menschen im Laufe der Kindheit. Sie sind von Geburt
an für sich selbst verantwortlich, dies erkenne und achte ich, und
deswegen bin ich auch nicht für sie verantwortlich. Wiewohl Maria
Montessori als pädagogischer Mensch sich sehr wohl für Kinder
verantwortlich fühlt.
Ich kann mir aus meiner
amicativen Position alle Erkenntnisse, Konzepte und Vorschläge der
pädagogischen Welt ansehen und entscheide dann, was ich davon in
meine Kommunikation mit den Kindern übernehmen oder abgewandelt
übernehmen will. »Hilf mir, es selbst zu tun« finde ich viel zu
theatralisch, so etwas ist doch selbstverständlich. Warum macht
Maria Montessori so eine Banalität zum Prinzip? Das ist mir unklar.
Wenn die Kinder meine Hilfe zur Selbsthilfe wollen, dann bin ich für
sie da.
Frage
Maria
Montessori sagt, dass die Schule eine Lebensstätte ist und dass der
Lehrer eine Mission, ein schweres Amt hat, der Diener des Kindes zu
werden. Haben Sie Ihre Lehrerrolle auch so verstanden?
Antwort
Die
Schule ist für die Kinder keine freiwillige Sache. Die Kinder werden
nicht gefragt, ob sie überhaupt dorthin wollen; es besteht
gesetzlicher Schulzwang. Wie kann etwas, das einem oktroyiert wird,
eine »Lebensstätte« sein? Die Schule ist für die Kinder ein
Teilzeitgefängnis, in dem die Erwachsenen sich herausnehmen, sie zum
wahren Menschen zu formen. Eine Stätte, in der man sich wohlfühlt
und gern aufhält, ist so etwas nicht. Pädagogische Menschen wie
Maria Montessori thematisieren diesen Zusammenhang nicht, da sie von
der Notwendigkeit der Erziehung für die Menschwerdung des Kindes
überzeugt sind. Und von diesem Denken her kann man es den Kindern
dann schön einrichten, eben eine »Lebensstätte« schaffen
wollen. Die grundsätzliche Inhumanität und die
kulturimperialistische Position, die hierin verborgen sind, lassen
sich erst mit amicativem Denken erkennen.
Ich bin niemandes
Diener, ich gehöre mir selbst. Von dieser meiner souveränen
Position aus gehe ich zu anderen Menschen, auch zu Kindern. Dann
werden wir sehen, was wir miteinander tun können. Wir begegnen uns
authentisch: Hubertus als Person mit seinen Facetten, die Kinder als
jeweilige Person mit ihren Facetten. »Dienen« ist da unpassend.
Wenn ich Kindern helfe, sie anleite, etwas erkläre, dann tue ich das
ohne die Attitüde des Dienens.
Außerdem: Ein
Erwachsener ist niemals wirklich der Diener eines Kindes (es sei denn
bei Königs). So etwas ist doch letztlich nur methodisch, ein Trick
oder eine List, um die Kinder dahin zu bekommen, wohin man sie haben
will. Und um es sich schönzureden, dass man doch so großherzig ist,
ihnen zu dienen. Dieses »Diener des Kindes« ist ein Teil des
Montessori-Konzepts, mit dem verschleiert wird, was in der Schule
tatsächlich geschieht: die kulturelle Unterwerfung der
nachwachsenden Generation unter die Standards der herrschenden
Erwachsenen.
Frage
Maria Montessori sagt: »Dem Leben
helfen ist das erste fundamentale Prinzip.«
Wie verstehen Sie als ehemaliger Lehrer diese Aussage?
Antwort
Jede Beziehung kann etwas mit Helfen zu tun haben, muss es aber
nicht. Wenn ich mit Kindern zusammen bin - auch als Lehrer -, findet
Kommunikation statt. Ob unsere Beziehung dann hilfreich sein wird für
die Kinder und/oder für mich, wird sich zeigen. Ich setze mich in
meiner Beziehung mit Kindern nicht unter den Druck, hilfreich sein
zu sollen. Wenn Hilfreiches geschieht, ist dies ein Geschenk des
Lebens, das sich zwischen uns ereignet, und darüber freue ich mich
und bin dankbar. Aber ich instrumentalisiere diese Großartigkeit
»Helfen« nicht zu einem Prinzip.
Es hört sich gut an, Helfen zu
einem Prinzip zu machen, aber ich sehe darin eine
subtile Destruktivität. Denn Helfen als Prinzip missachtet das
Prinzip der Realität, das Prinzip des »Es soll« wird an die Stelle
des Prinzips des »Es ist« gesetzt. Ich bin real-existentiell
präsent, Maria Montessori ist moralisch-missionarisch präsent. Was
angemessener ist, lässt sich nicht objektiv entscheiden, ich sehe
das so, Maria Montessori anders. Im übrigen, es tut mir leid, ist
diese Aussage schon wieder für meine Ohren nicht akzeptabel. Ich
würde mir nie einfallen lassen, einer solchen Wirkmacht wie dem
Leben helfen zu wollen - ganz andersherum wird ein Schuh draus: ich
freue mich, wenn das Leben mir hilft!
Frage
Herr
Dr. von Schoenebeck, sie haben sich bisher kritisch zu Maria
Montessori und ihrer Pädagogik geäußert. Können Sie sich
überhaupt vorstellen, dass es für Montessori-Pädagogen
gewinnbringend sein könnte, sich mit der amicativen Theorie und
Praxis zu beschäftigen?
Antwort
Es
gibt seit über 40 Jahren eine amicative Praxis. Ich will sagen: die
amicative Theorie hat längst die dazugehörige und auch real
funktionierende Praxis. Jeder, auch ein Montessori-Pädagoge, kann
diese Theorie und Praxis kennenlernen und ist eingeladen.
Amication ist ein
Angebot, keine Besserwisserei. Amication
ist in der Postmoderne verwurzelt, mithin nicht wertvoller als
Pädagogik. Meine kritischen Aussagen lassen an
Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, aber mein Tenor ist nicht
der einer Brüskierung. Auch wenn ich oft so empfunden werde.
Wenn
die amicative Position vorgetragen wird, kann man sie
selbstverständlich abtun. Aber man kann Amication auch als einen
Impuls nutzen, um die eigene Position zu überdenken und zu
begründen. In Gesprächen mit pädagogisch eingestellten Menschen
sehe ich mich immer wieder auch in harten aber achtungsvollen
Auseinandersetzungen, und ich wüsste eigentlich nicht, warum auf
meine Ausführungen nicht ebenso geantwortet werden könnte. Und
Antworten ist der Beginn einer fruchtbaren Begegnung.
Von dem Gewinn, der in
einer achtungsvollen Auseinandersetzung liegt, einmal abgesehen,
enthält der amicative Ansatz aus meiner Sicht für jemanden, der
nach den Prinzipien von Maria Montessori arbeitet, ein befreiendes
Element: Er kann Maria Montessori und all denen, die in der
Montessori-Pädagogik Autorität haben, fragend entgegentreten. Er
kann hinterfragen und alles an der eigenen subjektiv wahren Ethik
messen. Amication sagt jedem Montessori-Pädagogen, dass er selbst es
ist, der darüber entscheidet, wie viel Montessori er in sein Denken
und Handeln einfließen lassen will.
Ein Beispiel. Meiner
Meinung nach wird jemand, der in einem Montessori-Kindergarten oder
einer Montessori-Schule arbeitet, ein Authentizitätsproblem
bekommen, wenn er diese Forderungen Maria Montessoris ernst nimmt:
»Wir bestehen mit Nachdruck darauf, dass der Lehrer sich innerlich
vorbereiten muss: er muss mit Beharrlichkeit und Methode sich selber
studieren, damit es ihm gelingt, seine hartnäckigsten Mängel zu
beseitigen, eben die, die seiner Beziehung zum Kinde hinderlich
sind.« (Kinder sind anders, dtv 2001, S.153).
Das amicative »Ich
liebe mich so wie ich bin« ist da von anderer Qualität, und mit den »Mängeln« des Charakters wird anders verfahren. Das
pädagogische »Mängel beseitigen« wird als nicht weiterführend
erkannt; denn »Mängel« sind Teile des Selbst, denen Achtung zukommt
und mit denen konstruktiv umzugehen man lernen kann.
Wie auch immer:
Amication bietet jedem, der erzieherisch tätig ist, auch
Montessori-Pädagogen, einen unkomplizierten Weg zu sich selbst an.
Im Mittelpunkt steht der Einzelne, der Handelnde, der Pädagoge - Sie
-, nicht das Kind, nicht die Sache oder sonst was. Von dieser
Ich-Position aus wird dann Ausschau gehalten nach der Welt und den
Kindern, auch nach Maria Montessori und der aktuellen
Montessori-Pädagogik. Und dann habe ich gelegentlich Lust, Maria zu
fragen, was sie für Einfälle und Vorschläge für das Zusammensein
mit Kindern hat.