Vor vier Wochen schrieb ich über die Selbstverantwortung von Anfang an. Es ging um den ersten Atemzug: Jedes Baby kann dies in eigener Regie tun. Und muss nicht von uns dazu veranlasst werden. Das Wissen, dass die Babys das selbst können, hat vor 50 Jahren Frédérick Leboyer wieder in die Welt gebracht. Ich habe mir sein Buch von damals noch einmal vorgeholt und stelle die entsprechende Passage vor. Das Original ist einfach überzeugend...
Frédérick
Leboyer, Geburt ohne Gewalt, 1974:
Die Hauptgefahr für das Kind während der Geburt besteht in der Anoxie, das kann nicht genug betont werden. Anoxie bedeutet Mangel an Sauerstoff, und besonders das Nervengewebe reagiert darauf äußerst empfindlich. Wenn ein Kind vorübergehend zu wenig Sauerstoff erhält, so führt das zu irreparablen Schäden im Gehirn, die es möglicherweise sein Leben lang zum Krüppel machen. Mit anderen Worten: das Kind darf unter keinen Umständen, zu keinem Zeitpunkt der Geburt in einen Sauerstoffmangel geraten. Nicht einmal für kurze Zeit. So sagen die Experten, und sie haben recht.
So sagt es auch die Natur.
Darum hat sie es so eingerichtet, daß das Kind in der gefährlichsten Phase unmittelbar nach der Geburt aus zwei Quellen Sauerstoff erhält: aus seinen Lungen und aus der Nabelschnur. Beide Systeme arbeiten gleichzeitig, allmählich löst eins das andere ab: das alte, die Nabelschnur, versorgt das Kind noch so lange ausreichend mit Sauerstoff, bis das neue, die Lungen, diese Funktion in ausreichendem Maße übemehmen können.
So bleibt das Kind, das eben erst den Mutterleib verlassen hat, noch einige Minuten lang durch die kräftig pulsierende Nabelschnur mit ihr verbunden. Vier, fünf Minuten, manchmal noch länger.
Der Sauerstoff, den es weiterhin über die Nabelschnur erhält, schützt es vor Anoxie, so dass es gefahrlos und ohne Schaden zu nehmen in aller Ruhe mit dem Atmen beginnen kann, langsam und ohne etwas zu überstürzen. Das Blut hat Zeit, nach und nach die alte Bahn zu verlassen (die zur Placenta führte) und zunehmend die Lungenstrombahn zu entfalten.
*
Wie kommt es zu dem ersten Schrei?
Wenn das Kind herauskommt, wird der Brustkorb, der bis
dahin aufs Äußerste zusammengepreßt war, plötzlich durch nichts
mehr eingeengt und öffnet sich. Es entsteht eine Leere, in die die
Luft sogleich mit Wucht eindringt. Es ist ein passiver Vorgang. Das
ist der erste Atemzug.
Das ist die Verbrennung.
Das Kind
beantwortet diese Verletzung, indem es ausatmet.
Zornig jagt es
die Luft wieder hinaus.
Das ist der Schrei.
Danach ist es
oftmals eine Weile still. Erstarrt vor Schmerz macht das Kind eine
Pause. Manchmal wiederholt sich der Schrei auch zwei, drei Mal, bevor
die Pause eintritt.
Wenn wir ihm Zeit zu einer Pause
lassen.
Meistens verlieren wir hier die Nerven, und dann gibt
es gewöhnlich Ohrfeigen, Poklatschen und kaltes Wasser.
Doch
inzwischen haben wir dazugelernt und können unsere Impulse
beherrschen. Wenn wir der Natur und den kräftigen Pulsationen der
Nabelschnur vertrauen, brauchen wir uns nicht einzumischen. Wir
werden sehen, dass die Atmung von allein wieder einsetzt. Zunächst
zögernd, vorsichtig, immer noch mit kleinen Pausen.
Das Kind,
das von der Nabelschnur noch Sauerstoff erhält, nimmt sich Zeit und
nur so viel von der feurigen Luft, wie es ertragen kann. Es hält
ein, beginnt von Neuem. Es gewöhnt sich langsam und atmet tiefer.
Bald findet es Gefallen an dem, was eben noch grausam und verletzend
war.
*
Wenn die Nabelschnur aufhört zu pulsieren, schneiden wir sie durch. Kein Schrei, keine Bewegung, nicht einmal ein Zittern kommt von dem Kind. In Wirklichkeit haben wir nichts durchtrennt. Ein totes Band ist abgefallen. Das Kind wurde nicht von seiner Mutter fortgerissen. Sie haben sich voneinander gelöst.
Wie wohltuend, wie einleuchtend ist eine solche Geburt. Die Mutter hat ihr Kind noch ein Stück begleitet. Indem sie ihm über die Nabelschnur noch weiterhin Sauerstoff zukommen ließ, hat sie ihm geholfen, seine ersten Schritte in dieser furchterregenden Welt zu machen.
Ähnlich wird es später sein, wenn das Kind laufen lernt und die Mutter ihm eine Hand anbietet, an der es sich festhalten kann. Eine geöffnete Hand, die das Kind ergreifen und wieder loslassen kann, in dem Maße wie es seiner eigenen Kraft vertraut.