Montag, 29. April 2024

Schoolwatch, Teil 2: Der Anruf

 

 

Schoolwatch

2. Teil einer dreiteiligen Serie.*

 

Teil 2: Der Anruf

Die Eltern wissen, dass sie nicht im Konsens mit der Schule und der Lehrerschaft sein werden, sondern dass man sie als Ärgernis, ja als Bedrohung auffasst. Doch sie sind von der Wichtigkeit ihres Vorhabens überzeugt und lassen sich nicht aufhalten. Sie wollen von außen in die Schule wirken, denn nur darin sehen sie die Effektivität ihres Engagements gewährleistet, ihre Unabhängigkeit gewahrt, und nur so erwarten sie eine Akzeptanz ihrer Tätigkeit durch die Kinder.

Und wenn sie auch von außen kommen, so fühlen sie sich doch sehr wohl als Betroffene und der Schulgemeinde zugehörig. Sie sind dabei, eine anders orientierte Aufgabe für das Wohl der Kinder zu übernehmen, als dies jede Schultradition bislang vorsah.

Das alles ist für diese wie für jede andere Schule völlig neu, die Lehrer wehren sich heftig gegen eine Kontrolle durch Eltern. Immer wieder werden die Eltern aufgefordert, die schulischen Gremien einzuschalten, wenn sie Wünsche hätten. Und auch die Drohung der Schulverwaltung, man werde die Gerichte einschalten, um die Störung des Schulfriedens zu unterbinden, schreckt sie nicht.

Sie wollen etwas tun, sind entschlossen, risikobereit, lassen sich rechtlich beraten und wollen es darauf ankommen lassen. Und sie erfahren auch Unterstützung von anderen Eltern, auch von anderen Schulen und Städten und von Fachleuten. 

Ein halbes Jahr nach dem ersten Treffen steht ihre Initiative. „Schoolwatch Einstein-Gymnasium Neustadt“ ist ein eingetragener Verein, mit Satzung, Mitgliedern und Vorstand. Sie haben ein kleines Budget, und die Gemeinnützigkeit ist beantragt. Die Eltern haben sich in einen Dienstplan eingeteilt, für den Rest des Jahres ist bereits klar, wer an welchem Tag für die Kinder als Ansprech- und Anrufpartner da ist. Im neuen Schuljahr nach den Sommerferien sind sie startbereit.

Und dann kommt eines Nachmittags der erste Anruf: „Herr Meier hat die Jana aus der 6a ausgelacht, als sie eine Antwort in Mathe nicht wusste. Jana hat den Rest der Stunde auf ihrem Platz gesessen und geweint.“

Herr Meier wird von Frau Burger, der diensthabenden Mutter, angerufen. Ihr Anruf hat nicht das Ziel, ihm Vorhaltungen zu machen oder ihn bloßzustellen. Der Anruf soll möglich machen, dass der Lehrer das Vorgefallene mit den Augen des Kindes gezeigt bekommt, dass er hört, wie sein Verhalten bei Jana angekommen ist und gewirkt hat, und dass sein Auslachen aus der Sicht des Kindes und der Eltern von Schoolwatch eine unakzeptable Grenzüberschreitung war.

Es wird kein Vorwurf erhoben und es erfolgt keine Schuldzuweisung. Hierüber wurde bei den konzeptionellen Beratungen lange diskutiert und klar Position bezogen: Auch die Würde eines Lehrers wird geachtet, was immer er tut und was immer gegen sein Verhalten vorgebracht werden kann. Ohne einen Vorwurf zu erheben wird dieser Lehrer aber damit konfrontiert, der Realität – wie sie das Kind erlebt hat – ungeschminkt ins Gesicht zu sehen, und die erlittene Demütigung wird Demütigung und Unrecht genannt.

Frau Burger bittet nicht darum, dass Herr Meier sich entschuldigt – so etwas zu erwägen ist ganz und gar seine Sache. Sie überlässt es ihm, ob er am nächsten Tag überhaupt etwas zu Jana sagen will, und was das sein könnte. Ihre einzige Aufgabe im Gespräch mit dem Lehrer ist es, ihn das Vorgefallene mit den Augen des Kindes sehen zu lassen.

Und da Herr Meier sich nicht beschimpft und nicht unter Druck gesetzt fühlt, kann er sich für die höflichen, aber sehr wohl eindringlichen Worte der Mutter öffnen und sein Verhalten mit Janas Augen sehen. Wenn er erklärt, dass er das morgen in Ordnung bringt, und am nächsten Tag auf das Kind zugeht, etwas Freundliches sagt und hinzufügt, dass es ihm leid tut, dann steht der Heilung der seelischen Verletzung von Jana nichts mehr im Wege.  

Aber wenn Herr Meier das alles weit von sich weist und das Gespräch in Unfrieden endet?

Nun, der Anruf bei Herrn Meier ist nur der eine Teil der Schoolwatch-Aktion. Es soll ja auch Jana angerufen werden – in jedem Fall und unabhängig davon, wie der Lehrer reagiert. Wenn die Eltern der Initiative Jana und ihre Eltern kennen und wissen, dass so ein Anruf nicht zusätzlich belastend wirkt, wird dieses Gespräch geführt. Trost und Mitgefühl sollen ausgesprochen werden, und Janas Belastung kann sich vielleicht in einem erleichterten Lachen lösen.

Teil 3 im nächsten Post.


* Aus meinem Buch „Schule mit menschlichem Antlitz“, Münster 2001, S. 50 ff.







Montag, 22. April 2024

Schoolwatch, Teil 1: Das Konzept

 

 

 Schoolwatch

1. Teil einer dreiteiligen Serie.*

 

Teil 1: Das Konzept

Im Jahr 2030 gibt es an vielen Schulen Elterninitiativen, die „Schoolwatch“ heißen. Die Eltern dieser Initiativen haben sich zusammengefunden, um gemeinsam etwas gegen das Schulleid ihrer Kinder und die Schultraumatisierung zu tun.

Die Schoolwatch-Idee hat sich herumgesprochen, die Medien haben darüber berichtet, in Fachzeitschriften wurden Artikel geschrieben, an den Hochschulen gibt es hierüber Seminare, kurz: aus einer Idee ist eine Bewegung geworden. Es gibt inzwischen Schoolwatch-Landesverbände und den Schoolwatch-Bundesverband und auch im Ausland existieren seit einiger Zeit Schoolwatch-Initiativen.

Alle Lehrer kennen Schoolwatch, sie werden bereits in ihrer Ausbildung damit befasst, und die meisten Eltern wissen, dass es so etwas wie Schoolwatch gibt, und viele engagieren sich darin. Und selbstverständlich weiß auch jedes Schulkind von Schoolwatch.

Der Einfluss, der von einer Schoolwatch-Initiative vor Ort auf das Geschehen einer Schule ausgeht, ist unterschiedlich groß und hängt von den jeweiligen Gegebenheiten ab. Oft wird die Arbeit von Schoolwatch von den Lehrern eines Kollegiums abgelehnt, aber es gibt auch immer wieder Zustimmung und Kooperation. Nichts ist mehr so, wie es einmal war – als es Schoolwatch noch nicht gab.

Allen Lehrern ist bewusst, dass sie durch diese Elterninitiativen unter Beobachtung stehen, ob sie es wollen oder nicht. Und auch die Kinder wissen darum, dass Ungerechtigkeiten und Demütigungen im Klassenzimmer nicht mehr als Selbstverständlichkeit des Schulalltags hingenommen werden müssen.

Angefangen hatte alles am 29. Januar 2000 – als eine Mutter in einer kleinen Stadt in Deutschland eine besonders drastische Herabsetzung ihres Kindes durch einen Lehrer nicht auf sich beruhen lassen will. Nachdem ein Gespräch mit dem Lehrer und dem Schulleiter nichts bewirkt, bringen die Eltern den Vorfall im Freundeskreis zur Sprache, und man ist sich einig, dass etwas getan werden muss.

Die Freunde treffen sich wiederholt, sie diskutieren, machen Vorschläge und verwerfen sie wieder, aber sie sind entschlossen, etwas in Gang zu setzen. Sie entwerfen ein Konzept und gründen eine Initiative gegen die Traumatisierung durch schulische Demütigungen.

Sie überlegen lange, welcher Name für ihre Initiative passt, er soll prägnant und aussagefähig sein. Diskutiert werden „Eltern vor Ort“ und „Aktion Schule ohne Angst“ und „Verein zur Förderung von Kinderfreundlichkeit an der Schule“ und andere Namen. Letztlich entscheiden sie sich für einen Begriff, der von den Kindern, die sie um Rat gefragt haben, bevorzugt wird – denn sie wollen vor allem die Akzeptanz ihrer Initiative durch die Kinder.

Sie nennen sich also „Schoolwatch“, in durchaus gewollter Anlehnung an das renommierte Worldwatch Institute und an Human Rights Watch. Und sie tragen ihre Idee in die Elternabende und werben um Mitstreiter.

Die Eltern erleben vielfältige Widerstände von allen Seiten (die Schultraumatisierung sitzt bei den Menschen tief und fest). Sie bekommen zu hören, dass sie den Schulfrieden stören, dass ihre Arbeit destruktiv sei, dass ein „gläsernes Klassenzimmer“ die Persönlichkeitsrechte des Lehrers missachte.

Viele Eltern stimmen in den Chor der Kritik ein, befürchten, dass durch diese Ideen das effektive Arbeiten in der Schule behindert wird und sehen den schulischen Erfolg ihrer Kinder gefährdet. Die Eltern der Initiative werden von vielen geschnitten und angefeindet. Aber sie lassen sich nicht beirren. Sie machen sich weiter bekannt und verteilen ihr inzwischen ausformuliertes Schoolwatch-Konzept.

In ihrem Konzept stellen sich die Eltern als eine Gruppe von Menschen vor, die das Leid der Schulkinder auffangen wollen, das durch persönliche Herabsetzung entsteht. Sie setzen sich außerdem zum Ziel, durch Präsenz, zunehmendes Gewicht und Öffentlichkeitsarbeit einen Bewusstseinswandel anzustoßen, so dass Demütigungen im Schulalltag weniger werden. Sie verstehen sich als eine parteiergreifende Instanz, die über die Unantastbarkeit der Würde der Schulkinder wacht.

Die Eltern bieten sich in konkreten Situationen – wenn ein Lehrer ein Kind herabsetzt – als Anlaufstelle an. Sie wollen dann zum einen mit dem betreffenden Lehrer ins Gespräch kommen und ihm das Geschehene aus der Sicht des Kindes zeigen. Zum anderen wollen sie dem gedemütigten Kind durch einen Anruf, Besuch oder Brief - den „Schoolwatch-Brief “– beistehen, Trost zusprechen und das Ich des Kindes stützen.

Teil 2 folgt im nächsten Post.


* Aus meinem Buch „Schule mit menschlichem Antlitz“, Münster 2001, S. 48 ff.



 



Montag, 15. April 2024

Durchsetzungspunkt Gummistiefel



Vortrag. Eine Mutter fragt mich: "Heute wollte meine dreijährige Tochter partout ihre Gummistiefel nicht ausziehen. Was soll ich machen?"

Beim Vortrag komme ich auf den Durchsetzungspunkt zu sprechen. Die Eltern wollen sich nicht so gern - genauer: extrem ungern - durchsetzen, wenn sie ihre Kinder dabei nicht "mitnehmen" können, wie das so schön heißt. Sie wollen, dass die Kinder bei den Elternentscheidungen mitmachen, mitziehen, einsehen, Widerstand aufgeben. Dass es also ohne Streit und Geschrei, Tränen und Leid ausgeht.

Noch mehr Gespräche, noch mehr Werben, noch mehr Mitnehmen. Die Eltern wollen von mir hören, wie es denn gelingen kann, dass die ganze Durchsetzerei gut ausgeht. "Ja Mama, dann zieh ich die Stiefel aus". So soll es sein.

Wenn alle Einigungsbemühungen nichts bringen... - klar, da kann man zulegen, Sonne scheinen lassen, Seminare besucht haben, grad gut drauf sein, schlau, listig, hinterlistig vorgehen. Wenn das aber alles nichts hilft, dann soll ich das Zaubermittel haben. Habe ich aber nicht.

Dann geht es um "Du oder ich", Stiefel aus oder Stiefel an. Und wenn die Mutter den Dreck nicht im Flur und auf dem Teppich haben will, muss sie - sich durchsetzen. Die Stiefel von den Füßen kriegen - wobei "kriegen" heißt: gegen den Willen des Kindes entfernen, von den Füßen abziehen bis runterreißen. 

Wie das geht? Mit dem entsprechendem Mittel. Machtmittel Körpermacht: handgreiflich, Kind und Fuß festhalten und ziehen. Mit dem Machtmittel Psychomacht könnte das Kind auch selbst tun, was es soll: Erfolg per Druckstimme, Ekelton, bösem Blick.

"Geht das nicht auch anders?" - und dann erzählen die anderen Eltern davon, wie sie es schaffen würden, friedlich, mit Einigung, "mitnehmend" eben. Ich halte dagegen: "Es ist aber grade nicht zu schaffen. Die Stiefel sind jetzt stellvertretend für alles Mögliche. Und es wird in Ihrem Alltag immer wieder passieren, dass es keinen Frieden gibt. Dass Sie sich durchsetzen, mit Ihren Machtmöglichkeiten, auch mit körperlicher Macht."

"Wobei, auch klar" - das sage ich dann schon noch - "Sie sich ja nicht immer durchsetzen müssen. Sie können auch nach- oder aufgeben und hinnehmen oder akzeptieren, dass das passiert, was Ihr Kind will. Also Dreck auf dem Teppich. Aber wer will das schon. Sie werden sich durchsetzen."

Ich sage dann, dass die Eltern sich keinen Vorwurf machen müssen. "Wenn Sie beim Durchsetzen Ihren Kindern auch Leid zufügen: das gehört dazu, das lässt sich nicht ändern, und dafür müssen Sie sich weder schämen noch schuldig fühlen." 

Ich wende das ins Allgemeine: Wenn man sich für seine Interessen, Ideale, Richtigkeiten einsetzt, und der andere dann nicht tun kann, was er will, bedeutet das meistens auch, dass der andere nicht begeistert ist und an uns leidet. Unseren Weg gehen heißt für andere dann, dass diese ihren Weg nicht gehen können.

Es braucht schon irgendwie ein großes Herz, sich annehmen zu können, sich zu mögen und die Selbstachtung nicht zu verlieren, wenn wir anderen Leid zufügen. Klar haben wir so ein Friedensbild von uns, dass wir durchs Leben gehen ohne dass wir Leid auslösen. Aber das ist einfach unrealistisch! Und genau das sage ich den Eltern.

Die Verbrämung "Das ist doch nur zu deinem Besten" ändert nichts wirklich am Leid des Kindes. Es soll uns beruhigen, dass wir doch gar nicht so schlimm und leidvoll für die Kinder sind. Sind wir aber! Und dem kann man ins Gesicht sehen. Auch Jesus, Sinnbild des Friedens und der Liebe, fügte Leid zu, als er seine Ideale verteidigte: Als er den Geldwechslern im Tempel die Tische umwarf und sie verprügelte.

Man kann dazu stehen, dass man - auch, immer wieder, auch den Kindern gegenüber - jemand ist, der Leid zufügt. Sich schlecht fühlen dabei - ist überflüssig. "Sie sind eine gute Mutter, ein guter Vater. Sie müssen nicht an sich zweifeln, wenn Sie sich durchsetzen und es dann Tränen bei den Kindern gibt."

Und ich sage auch "Sie können es aber lassen, den Kindern ihre Niederlage noch zusätzlich zu erschweren. Durch das Herabsetzen der Kinderposition mit dem ganzen Sieh ein, ich habe recht!-Theater."

"Ein klares Hier stehe ich, ich kann nicht anders!, eine authentische, ehrliche Botschaft zwischen den Zeilen ist von anderer Qualität. Sie machen dann Ihr Kind nicht schlecht, putzen es nicht runter, lassen ihm seine Würde in der Niederlage."

"Sie müssen den Glauben an sich nicht verlieren, wenn Ihnen keine gemeinsame und friedliche Lösung gelingt. Sie haben sich doch bemüht, mit Ihrem Kind geredet und versucht es mitzunehmen. Sie haben Ihre Bücher gelesen und Vorträge und Seminare besucht."

"Aber es kommt eben immer wieder vor, dass das alles nichts nutzt. Und dann stehen Sie halt zu sich, setzen sich durch, das Kind leidet - und Sie glauben an sich."

"Verboten ist das nicht!", schiebe ich hinterher. Ob die Gummistiefel beim nächsten Mal leichter von den Füßen gehen?

 

Montag, 8. April 2024

Forschungsbericht: Schwieriger Schreibanfang



Für meine Dissertation habe ich ein Zusammenfassung meiner Zeit mit den Kindern des Projekts geschrieben, den "Forschungsbericht"*. Ich hatte in unendlich vielen Nuancen erlebt, wie Kinder unterwegs sind. 2601 Stunden in zwei Jahren war ich "Gast im Kinderlkand". Das alles zuPapier zu bringen war eine mächtige Herausforderung, und der Anfang des Aufschreibens nach Abschluss der praktischen Phase des Projekts war schwer. Hier etwas vom Beginn der Aufzeichnungen:

*

Ich spüre jetzt nur ziemlich viel Verwicklung, Komplexität. Ich habe vor, einen großen Knoten, der sich mir im Laufe der Zeit, die ich mit ihnen zusammen war, gebildet hat, zu lösen. Das ist eine schwierige Sache. Ich habe mir keine Aufzeichnungen vom Zustandekommen des Knotens gemacht. Ich muß es vorsichtig versuchen. Ihn durchschlagen - oder einfach einen Knoten sein lassen: Das wäre prima, aber das ist jetzt nicht meine Aufgabe. 

Ich lese, was ich bisher geschrieben habe - und merke, dass ich einen Anfang gemacht habe. Ich spüre die Anstrengung. Ich bin freundlich zu mir: Ich habe etwas geschafft, und es ist nicht nötig, heute alles fertig zu bekommen. Ich habe das Gefühl, mit der Schreiberei langsam, langsam weiterzukommen. Es ist nicht nötig, noch heute fertig zu werden...

Der Knoten, die riesige Erfahrungskonzentration in mir, drängt, in jeder Einzelheit auf einmal aufgeschrieben zu werden. Ich fühle mich da total überfordert. Ich habe mit merkwürdigen Kräften in mir zu tun: Alles will auf einmal sein. Das Differenzieren, das Trennen, das feine Aufgliedern: Das steckt nicht in mir, jedenfalls nicht in dem komplexen Bild. Es kommt von woanders her.

Ich brauche einen langen Atem. Ich brauche Geduld - GEDULD. Ich brauche Zeit in mir, um behutsam, vorsichtig, zärtlich die Bilder deutlich werden zu lassen, die sich mir im Laufe der Zeit angesammelt haben. ICH HABE DOCH ZEIT- ich vergesse das immer wieder. Die Minuten, die ich jetzt zum Schreiben gebraucht habe - sie waren Stunden, Tage. Wenn ich jetzt gleich mit dem Schreiben aufhöre, bin ich viele Meilen gelaufen - hin zu den Erfahrungen, die in mir sind.

Ich entdecke ein altes Prinzip meiner Arbeit wieder: Das Treibenlassen. Nur so habe ich ja so viel mitbekommen - und ich fühle mich gut, wenn ich mich beim Schreiben auch einfach treiben lassen werde. Mal zum Schreiben, wie jetzt, mal zum Hören, mal zum Sichten der Notizen, der Bilder (Gedichte). Ich habe jetzt wieder eine Idee: Ich werde mich einfach so und so viele Stunden oder Minuten am Tag mit dem Projekt beschäftigen - einfach in den Dingen sein.

Was ich dabei im einzelnen tun werde, das wird sich zeigen. Jedenfalls nicht immer nur schreiben und schreiben, geordnet und logisch womöglich noch. Nein: Ich lasse mich in diesen riesigen Berg meiner Erfahrung hineintreiben. Dann notiere ich mal dies, mal nichts. Ich muss mit all dem erst mal richtig vertraut werden.

Ich brauche WU WEI in diesem Berg. Ich brauche Lächeln über dieses entdeckte Land - und es kommt NICHT durch abstrakt-intellektuelles "Schreiben der Dissertation". Ich brauche viel Zärtlichkeit, das ist ein wichtiger Brennstoff für das alles. Und ich habe auch viel davon - Zärtlichkeit zur Zeit, diesem sanften Verstreichen. Wer will mich da zwingen? Ich lebe und treibe. Meine Arbeit ist ein zärtliches Gebilde.

 

 * Der Forschungsbericht ist zu finden in meinem Blog "Amication Reader", dort: Dissertation / Gast im Kinderland, Gesamtbericht, S. 9 (11)



 

Montag, 1. April 2024

Draußen spielt sich gerade ein Wunder ab



"Draußen spielt sich gerade ein Wunder ab, für das man nicht einmal das Haus verlassen muss. Es genügt, das Ohr zu öffnen - und das Herz." Lese ich in einem wieder gefundenem Artikel der ZEIT*. Stimmt, denke ich, würde das aber nicht so hoch hängen. Es geht um den Gesang der Vögel, die jetzt zu Frühlingsanfang wieder zu singen beginnen. Einige sind hiergeblieben, andere kommen nach und nach aus dem Süden zurück.

Seit meiner Studentenzeit habe ich Verbindung zu ihnen, den Vögeln. Ich machte Exkursionen mit, hörte Schallplatten und hatte dann alle auf Tonband. Es war wirklich nicht leicht, die Stimmen den richtigen Vögeln zuzuordnen. Aber nach und nach kannte ich immer mehr. Ich war frühmorgens raus, hörte und staunte, erwischte mit dem Fernglas auch mal Seltenheiten wie Birkhuhn und Goldregenpfeiffer. Die Große Rohrdommel am Dümmer zu hören - das war schon was!

Eines Morgens um fünf auf Beobachtungsstation im Moor. Der Große Brachvogel bewachte Revier und Frau. Als ein schöner fremder Mann auftauchte, gab es großes Theater und eine wilde Verfolgungsjagd, die beiden waren weg. Da kam der Dritte fröhlich trillernd eingeschwebt und nutzte seine Chance. Ja mei!

Die Vögel begleiten mich durchs Leben. Und jetzt im Frühling nehme ich mein Fernglas, geh raus und schaue ihnen zu. Und trainiere weiter neue Arten, die ich noch nicht im Ohr habe. Den Schilfrohrsänger vom Sumpfrohrsänger zu unterscheiden... Drosselrohrsänger und Teichrohrsänger krieg ich schon hin. Aber Blaukehlchen und Braunkehlchen - abwarten.

Ich sinne darüber nach, wie man hobbymäßig seine Zeit verbringen will. Tausend Varianten! Mir ist das mit den Vögeln zugefallen. Und wie jeder sein Hobby schön findet, fühle ich mich auch rundum wohl, wenn ich draußen bin, auf Vogelstimmenexkursion. Ich mache das, weil - ja, da hab ich keine wirkliche Antwort. Oder zig Antworten. Es ist eben stimmig für mich. Weil halt! 

Meine Freude kommt aus einem Mitgenommenwerden und Mitgenommensein. Ich gerate in Resonanz mit all dem, was den Gesangskosmos um mich herum ausmacht. Die Musik, die Farben, die Lebenskraft, das Naturambiente drumrum, die große Harmonie. Und sie gehen ja auch miteinander, gründen eine Familie und ziehen die Kinder groß. Und dann auf große Fahrt übers Meer nach Afrika...

Vielleicht bin ich da auch zu pathetisch. Egal. "Der Luft wird Gesang verliehen"**, ja so ist es gut gesagt. "Ich liebe mich so wie ich bin", eins meiner Mottos und eins meiner Bücher: genau das höre ich von jedem Vogel, wenn er singt. Es ist einfach nur schön.




* Pfeifen, Zwitschern, Tiriliern. Fritz Habekuss, DIE ZEIT Nr. 14 vom 26.3.20, S. 37
** a.a.O., Fritz Habekuss zitiert den Schriftsteller David Haskell