Für meine Dissertation habe ich ein Zusammenfassung meiner Zeit mit den Kindern des Projekts geschrieben, den "Forschungsbericht"*. Ich hatte in unendlich vielen Nuancen erlebt, wie Kinder unterwegs sind. 2601 Stunden in zwei Jahren war ich "Gast im Kinderlkand". Das alles zuPapier zu bringen war eine mächtige Herausforderung, und der Anfang des Aufschreibens nach Abschluss der praktischen Phase des Projekts war schwer. Hier etwas vom Beginn der Aufzeichnungen:
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Ich spüre jetzt nur ziemlich viel Verwicklung, Komplexität. Ich habe vor, einen großen Knoten, der sich mir im Laufe der Zeit, die ich mit ihnen zusammen war, gebildet hat, zu lösen. Das ist eine schwierige Sache. Ich habe mir keine Aufzeichnungen vom Zustandekommen des Knotens gemacht. Ich muß es vorsichtig versuchen. Ihn durchschlagen - oder einfach einen Knoten sein lassen: Das wäre prima, aber das ist jetzt nicht meine Aufgabe.
Ich lese, was ich bisher geschrieben habe - und merke, dass ich einen Anfang gemacht habe. Ich spüre die Anstrengung. Ich bin freundlich zu mir: Ich habe etwas geschafft, und es ist nicht nötig, heute alles fertig zu bekommen. Ich habe das Gefühl, mit der Schreiberei langsam, langsam weiterzukommen. Es ist nicht nötig, noch heute fertig zu werden...
Der Knoten, die riesige Erfahrungskonzentration in mir, drängt, in jeder Einzelheit auf einmal aufgeschrieben zu werden. Ich fühle mich da total überfordert. Ich habe mit merkwürdigen Kräften in mir zu tun: Alles will auf einmal sein. Das Differenzieren, das Trennen, das feine Aufgliedern: Das steckt nicht in mir, jedenfalls nicht in dem komplexen Bild. Es kommt von woanders her.
Ich brauche einen langen Atem. Ich brauche Geduld - GEDULD. Ich brauche Zeit in mir, um behutsam, vorsichtig, zärtlich die Bilder deutlich werden zu lassen, die sich mir im Laufe der Zeit angesammelt haben. ICH HABE DOCH ZEIT- ich vergesse das immer wieder. Die Minuten, die ich jetzt zum Schreiben gebraucht habe - sie waren Stunden, Tage. Wenn ich jetzt gleich mit dem Schreiben aufhöre, bin ich viele Meilen gelaufen - hin zu den Erfahrungen, die in mir sind.
Ich entdecke ein altes Prinzip meiner Arbeit wieder: Das Treibenlassen. Nur so habe ich ja so viel mitbekommen - und ich fühle mich gut, wenn ich mich beim Schreiben auch einfach treiben lassen werde. Mal zum Schreiben, wie jetzt, mal zum Hören, mal zum Sichten der Notizen, der Bilder (Gedichte). Ich habe jetzt wieder eine Idee: Ich werde mich einfach so und so viele Stunden oder Minuten am Tag mit dem Projekt beschäftigen - einfach in den Dingen sein.
Was ich dabei im einzelnen tun werde, das wird sich zeigen. Jedenfalls nicht immer nur schreiben und schreiben, geordnet und logisch womöglich noch. Nein: Ich lasse mich in diesen riesigen Berg meiner Erfahrung hineintreiben. Dann notiere ich mal dies, mal nichts. Ich muss mit all dem erst mal richtig vertraut werden.
Ich brauche WU WEI in diesem Berg. Ich brauche Lächeln über dieses entdeckte Land - und es kommt NICHT durch abstrakt-intellektuelles "Schreiben der Dissertation". Ich brauche viel Zärtlichkeit, das ist ein wichtiger Brennstoff für das alles. Und ich habe auch viel davon - Zärtlichkeit zur Zeit, diesem sanften Verstreichen. Wer will mich da zwingen? Ich lebe und treibe. Meine Arbeit ist ein zärtliches Gebilde.
* Der Forschungsbericht ist zu finden in meinem Blog "Amication Reader", dort: Dissertation / Gast im Kinderland, Gesamtbericht, S. 9 (11)