Montag, 30. Dezember 2019

Im Tower, Mai 2215







In der Weihnachtszeit komme ich nicht dazu, einen neuen Post zu schreiben. Deswegen stelle ich diesen früheren Post vom 17.12.2016 als aktuellen Beitrag ein. - Als ich mit meinen Kindern einmal in England war, haben wir auch den Tower und die dort ausgestellten Kronjuwelen besichtigt. Das Erlebnis von damals hat mich inspiriert.

*

London, im Mai 2215. Sie sind in den Ferien in England und kommen nach einem erlebnisreichen Vormittag zum Tower. Seit langer Zeit ist in dieser ehemaligen Trutzburg ein Museum eingerichtet, unter anderem sind die Kronjuwelen des britischen Königshauses dort dauernd ausgestellt. Doch diesmal gastiert eine Sonderausstellung, die für viel Aufsehen sorgt und die Sie sich nicht entgehenlassen wollen. Dort lassen sich "Werkzeuge der Schule des 20. Jahrhunderts (1900-2000)" besichtigen.

Wie immer sind die Räume abgedunkelt, und die Besucher können im Kreis um die Exponate herumgehen. Das Besondere dieses Museums ist, dass man nicht stehen bleiben darf, wegen des großen Andrangs. Wer länger schauen möchte, muss dazu auf den rückwärts gelegenen Balkon gehen, der ebenfalls kreisförmig die Exponate umgibt. Nun, Sie sind im inneren Kreis und sehen, was es zu sehen gibt, und gehen langsam vorwärts. Flüstern ist im Raum, gespannte Aufmerksamkeit.

Sie sehen hinter dem Panzerglas einen länglichen Gegenstand, etwa zwei Hände lang, mit vielen Symbolen versehen und anscheinend beweglich, ausziehbar. Sie haben keine Vorstellung davon, was das sein könnte. Sie lesen die kurze Beschreibung: "Mathematikunterricht - Rechenschieber". Raunen umgibt Sie. Eine Frau liest aus dem Katalog: "Damit wurden die Kinder damals angehalten, ihre Gedanken in Zahlen zu zwingen und ihre Harmonie mit der Welt zu zerteilen. In Ad-die-ren und Sub-stra-hie-ren und Mul-ti-pli-zie-ren und Di-vi-die-ren." Und sie sagt, und damit spricht sie Ihnen aus dem Herzen: "Schrecklich!"

Sie wenden sich dem nächsten Exponat zu. Eine Stange. Sie ragt neben der Vitrine nach oben und ist fünf Meter lang. Was um alles in der Welt wurde denn damit gemacht? "Sportunterricht - Kletterstange" steht auf dem Etikett. Was ist eine Kletterstange? Ihr Nachbar erklärt: "Damit wurden die Kinder gezwungen, ihre Arme und Beine so zu bewegen, wie der Lehrer es wollte. Die Kinder mussten da hinaufklettern."  Sie sind entrüstet: "Die haben sie gezwungen, ihre Arme und Beine? Die Kinder konnten über ihren Körper nicht selbst bestimmen? "Schule", sagt Ihr Nachbar, "Schule!"

Weiter geht es im Kreis. Nun sehen Sie ein Blatt Papier. Es enthält Sätze, aber diese Sätze sind voller Lücken. Was soll das? Sie lesen die Beschreibung für die Museumsbesucher: "Deutschunterricht - Arbeitsblatt zum Ausfüllen". Wieder verstehen Sie nichts. Sie hören, wie zwei andere Besucher kommentieren: "Mit diesen Papieren wurden die Kinder in die vorgezeichneten Bahnen der Sprache gezerrt. Es gab besondere Regeln, wie die Sprache benutzt werden musste. Nichts erfolgte authentisch, so wie wir heute sprechen. Die Kinder mussten das, was sie sagten, analysieren und diesem System unterwerfen. Man nannte das 'Grammatik' und es gab so seltsame Teile wie 'Subjekt, Prädikat, Objekt'. Die Kinder mussten die gesamten Regeln kennen und durften ihre Sprache nicht einfach benutzen und lieben. Sie entwickelten Abscheu zu ihrer Sprache und zu ihren Gedanken, wegen all dieser Unterdrückung. Unvorstellbar!" Ihnen schaudert, als Sie sich vorstellen, dass Kinder in das Korsett von Sprachregeln gezwungen wurden. "Und darin soll ein Gewinn gelegen haben?" Ihr Nachbar stellt sich als Historiker vor und sagt: "Ja, es gab einen großen Vorteil - für die, die andere beherrschen wollten, die sie sich gefügig machen wollten. Ihr Mittel war, durch die Schule ihre Gedanken und ihre Sprache unter Kontrolle zu bekommen.«

Eigentlich reicht es Ihnen jetzt und Sie haben genug von der "Schule des 20. Jahrhunderts". Aber noch müssen Sie im Kreis weiter. Nun sehen Sie einen hölzernen Gegenstand. Es ist ein Kasten, mit runden Kanten, und mit einer Stange am oberen Ende, versehen mit Drähten. Das Ganze etwa armlang. Was ist denn das und was wurde damit gemacht? "Musikunterricht - Geige" lesen Sie. Sie schauen in Ihren Katalog:

"Die Geige war kein reguläres Werkzeug der Schule, sondern sie war der Disziplinierung von Kindern mit besonderer musischer und spiritueller Begabung vorbehalten und diente der 'Strategie der Demoralisierung'. Diese Kinder waren am Anfang ihres Geigentrainings stets vollauf begeistert und sie öffneten ihre Herzen. Doch diese Offenheit verflog rasch - aber sie hatten einmal eingewilligt und durften sich dann nicht mehr vom Geigespielen lösen. Denn mit diesem Gerät sollte die besondere Sensibilität dieser Kinder in die gewünschten Bahnen gelenkt werden. Man bediente sich akustischer Impulse (Töne), die von den Kindern selbst hergestellt werden mussten. Sie hatten die Finger ihrer linken Hand und den rechten Arm mit einem 'Bogen' in ganz bestimmter Weise zu bewegen, um die gewünschten Frequenzen zu erzeugen. Fixiert wurde mit sogenannten 'Noten'. Und da die Experten auf diesem Gebiet derart schwierige Übungen vorschrieben, die von den allermeisten Kindern niemals korrekt ausgeführt werden konnten, war der Effekt die gewünschte Demoralisierung und das benötigte Minderwertigkeitsgefühl. Von der steten Unlusterfahrung, in einem hochsensiblen emotionalen Bereich etwas tun zu müssen, was man nicht will, ganz zu schweigen. Und die wenigen Begabten, die das wirklich konnten und gern machten, wurden all den anderen als Norm vorgehalten, und die Unerreichbarkeit dieser Vorbilder steigerte das Gefühl des Versagens."

Nun graust es Ihnen endgültig: Strategie der Demoralisierung? Herzen und Finger der Kinder zwingen? Der Katalog weist über 200 Exponate aus - erst vier haben Sie gesehen. Aber Sie brauchen Licht und Luft und sind froh, als Sie das Schild "Ausgang" sehen: Nichts wie raus hier! Draußen setzen Sie sich auf eine Bank und blättern im Katalog. Sie halten inne - und mit einem entschlossenen "Nein" werfen Sie den Katalog in den Papierkorb. "Banause" hören Sie jemanden rufen. Sie lächeln zurück.


*Der Text ist aus meinem Buch "Schule mit menschlichem Antlitz", Münster 2001, S. 75ff

Montag, 23. Dezember 2019

Vom Ur, der Liebe nämlich







In der Weihnachtszeit komme ich nicht dazu, einen neuen Post zu schreiben. Deswegen stelle ich diesen früheren Post vom 9.5.2018 als aktuellen Beitrag ein.

*

In der Postmoderne, dem philosophischen Großraum der Amication, gilt als Grundlage die Gleichwertigkeit aller Phänomene. Wenn aber alles den gleichen Rang hat - was ist dann richtig und was ist falsch? Was ist die Orientierung? Nun, jeder einzelne Mensch ist Orientierungspunkt. Was sind meine eigenen, subjektiven und privaten Werte? Ich entscheide mich in der großen Vielfalt der unendlichen Möglichkeiten. Ich bin der Mittelpunkt der Welt und des Universums. Ich sehe ringsum und beziehe meine Position. Ich wähle. Ich verantworte vor mir.

Meine Wahl und meine Werte stehen dabei nicht über der Wahl und den Werten anderer. Ich bin jedoch meinen Werten verpflichtet und setze mich für sie ein.

"Wenn alles gleichen Rang hat, dann kann doch jeder tun, was er will. Das gibt nur Mord und Totschlag und ist gewaltiger Nonsens und rechtfertigt allen Unsinn!" Kann tun, was er will? Tun? Der, den ein Kritiker da im Sinn hat (den durchgeknallten Bösewicht nämlich), ist nicht allein auf diesem Planeten. Milliarden andere Einzelne sind um ihn herum. Mit ihren Werten. Und wenn der angeführte Bösewicht anfängt, sein Ding zu TUN, dann sind die anderen drumherum und lassen es sich bieten - oder eben nicht. Und wenn sie es sich nicht bieten lassen, dann ist es aus mit dem "Der kann tun, was er will",

Ein jeder könnte tun, was er will. Könnte! Wenn die anderen ihn lassen. Mord und Totschlag? Ich bin einer der Milliarden Einzelnen, und in meiner Gegenwart gibt es weder Mord noch Totschlag (sofern ich die Gelegenheit und die Mittel habe, das zu verhindern). Amication ist keine offenes Tor fürs Drauflos des Einzelnen. Amication nimmt aus den Möglichkeiten die Oben-Unten-Position heraus und legt die Gleichwertigkeit zugrunde. Amication ist keine Betriebsanleitung für die Praxis ("Mach, was Du willst!"). Amication zeigt eine Verortungswelt auf, ist Hintergrundmusik für unser Handeln, Sinfonie der Gleichwertigkeit.

Ich bin nicht zimperlich. Wenn jemand in meiner Gegenwart seine Vorstellungen (die meinen gleichwertig sind) realisieren will und mir nicht passt, was er vorhat, dann unterbinde ich das. Mit den Mitteln, die ich habe und in der Hoffnung, dass sie ausreichen. Ich gewinne ja auch nicht immer, aber oft. In meiner Gegenwart schlägt kein verzweifelter Vater sein Kind, kein Dieb kommt mit der Handtasche einer alten Frau davon, kein Terrorist erschießt die Leute, kein Diktator zettelt einen Weltkrieg an.

Wenn ich interveniere, dann energisch, so dass das passiert, was ich will. Wenn ich einen Kindsmörder zur Strecke bringen kann, bevor er mein Kind abschlachtet und ich ihm zum Schluss in die Augen sehe, dann sage ich ohne Worte: "Du bist ein Ebenbild Gottes wie ich, kein Schwein. Aber Du willst einen Weg gehen, den ich nicht mitgehen kann." Ich töte ihn, aber ich nehme ihm nicht die Würde. Ich stehe nicht über ihm. Wie der Indianer den Büffel tötet, ohne über ihm zu stehen.

Wenn jeder aus seiner Sicht das für ihn Sinnvolle tut, tun will, dann folgt er einem universellen Sinn: Der Konstruktivität, die ihn leitet. Diese Konstruktivität gibt es im Universum seit dem Urknall, sie existiert in jedem Atom, Galaxie, Stern, Planeten, Stein, Pflanze, Tier, Mensch. Überall eben. Da bewegt sich nichts gegen sich. Und auch kein Mensch handelt gegen sich, und falls es doch so aussieht (sich jemand die Arme aufschlitzt, Heroin nimmt, von der Brücke springt), so geschieht es immer noch aus seinem Sinn, aus seiner Konstruktivität heraus.

Ein überhöhter Begriff für die universelle Konstruktivität mit Verortungen in vielen religiösen, spirituellen, philosophischen Bereichen ist Liebe. Alles geschieht aus diesem Ur. Ur was? Urplasma? Urstoff? Urphänomen? Urprinzip? Aus diesem Ur eben. Jeder einzelne ist in diesem Ur eingebettet, ist daraus gemacht und bewegt sich darin. Wie jedes einzelne Wassermolekül im Ozean, den Wolken, dem Regen. Es gibt kein Gegen-Ur. Keinen Gegensatz. Weder gut noch böse, richtig noch falsch. Einheitlich: Liebe.

Das aufs reale Leben runterzubrechen ist schwer. Der Kindsmörder ist Liebe und handelt aus Liebe? Isis? Adolf? Stalin? Mao? Tja. Aber so ist es.

Wenn man die Dinge so sieht, bekommt alles eine besondere Bedeutung. Alles wird handfest leichter, kraftvoll entspannter. Alles gibt, nichts nimmt. Die Würde bleibt. Nichts davon macht meine Entschlossenheit kleiner, diese Herrschaften zu stoppen in ihrem Tun. Meine Entschlossenheit ist ein scharfes Schwert. Und oft schaffe ich das ja auch. Kein verzweifelter Vater schlägt in meiner Gegenwart sein Kind ...

PS:
In unseren Zeiten von überbordender political correctness reizt es mich schon, all dem anhysterisierten Aua-Aua mein "Alles geschieht aus Liebe" entgegenzuhalten. Ich bin da schon ganz gern mal frech und rotzig. Ich übersehe nicht die Wichtigkeit von MeToo und anderem, und Leid rührt mich an, mein Mitgefühl gehört den Misshandelten, Unterdrückten, Ohnmächtigen: begrapschte, missbrauchte, beschnittene Frauen, Negersklaven, normale Schulkinder, Kindersoldaten, Folteropfer, Jesus am Kreuz. Aber! Aber ich zeig den zu Recht Empörten gern mal den Teppich: "Leute, kommt mal wieder runter!" Runter auf den Teppich, auf den das ganze aus meiner Sicht bei allem Leid eben doch gehört: den Teppich der Würde jedes Einzelnen. Den Teppich, auf dem auch die bösesten Bösewichte der kleinen Welt und der großen Welt stehen. Und in der es zwar Wild- und Hausschweine, aber keine "Schweine" gibt.





Montag, 16. Dezember 2019

Kartoffeln und Nudeln







Vorweg: Ich mag Hunde. Auch Dackel. Wir hatten einen Dackel, als ich Kind war, er hieß Joker. Wir alle haben ihn sehr geliebt. Das Dackelbild, das ich gleich hervorhole, ist von anderer Art.

*

Es gibt Kartoffeln zum Abendessen. "Nudeln" sagt der Vierjährige. Ich bin zu Besuch, hör es und überhör es nicht. Klar, denke ich, es wird Kartoffeln geben, das "Nudeln" lässt sich ausreden, austreiben. Werden die Eltern so machen. Doch das "Nudeln" bleibt, nimmt zu, steht machtvoll in der Küche, mit Würde. Was ist zu tun? Was ist zu denken?

Nachgeben und Abendfrieden wahren contra den Dackel vertreiben. Den Dackel nämlich, der man ist, wenn man sich den Wünschen, diesen Wünschen der Kinder unterordnet. Dieser Gegensatz von Einlenken und Hartbleiben ist von grundsätzlicher Art. Dieses Paar ist ein Phänomen des Lebens und kommt überall vor, vom Appeasement in der großen Politik über das Berufsleben und die Partnerschaft bis ins Kinderzimmer und die Küche. Also nichts Ungewöhnliches, nichts, was aus dem Ruder läuft, sondern etwas, das dazugehört. Fragt sich, wie man damit umgeht.

Wobei, wie immer, ich mich da verorte. Wenn es eine Wahl gibt: Ich entscheide, Chefgefühl, Souveränität. Kartoffeln oder Nudeln? Meine Eintscheidung. Beim Abendessen mit einem Vierjährigen ist die Machtfrage klar: Die Mutter und der Vater sagen, wo es lang geht. Und das Kind? Der Andere? Der einen anderen Weg gehen will?

Wie soll ich mit einem Andersweg umgehen? Herr/Frau/Kind Andersweg sind in meinem Leben und halten mich an. Ist schon klar, was gewünscht wird. Ich kann einschwenken, meinem Jetztweg einen Korb geben und dem Andersweg folgen. Wie bekomme ich da Ruhe rein, wie zu einer guten Lösung, wie zu meinem Frieden? Wie wichtig ist mir mein Jetztweg? Was bekomme ich von Deiner Wichtigkeit mit? Wie wichtig bin ich mir? Wie wichtig bist Du mir?

Die beiden Eltern sind unterschiedlich unterwegs. Der Vater will sich die Nudeln nicht bieten lassen, die Mutter ist unentschlossen. Ich halte mich zurück, wiewohl ich ja auch etwas sagen könnte. Die Sache beginnt zu eskalieren, der Kleine fängt an zu weinen. Nudeln mit Tränen. Gar nicht gut, geht mir durch den Sinn, so was können Eltern schlecht haben. Dem Kind folgen, wenn es per Tränen unterwegs ist? "Einlenken" wie das so schön heißt. Ich merke, dass ich für die Nudeln bin, genauer: für den Abendfrieden. Aber ich werde ja auch nicht als Dackel angezählt.

Zu mir: Ich kann gut nachgeben. Ein Geschenk des Lebens. Ich kenne genug Menschen, die das nicht können. Ich gebe ja nicht immer nach und nicht bei allem und jedem, aber das "Dann mach Du" gelingt mir leicht. Ohne Dackelblick. Und habe mir oft Kommentare der unguten Art anhören müssen: "Du lässt aber auch alles mit Dir machen". Nein, lasse ich nicht. Das Gewebe "Alles mit sich machen lassen" passt auch überhaupt nicht. Ich lasse gar nichts mit mir machen. Ich mache, heißt hier: Dir folgen. Meine Entscheidung, nicht mein Überdentischgezogensein. Ich gebe dem anderen - nicht "nach", falsch gewoben - ich gebe also dem anderen nicht nach, sondern gebe ihm das, was er braucht.

Ich habe genau solche Szenarien mit meinen Kindern oft erlebt. Auch diese Kartoffeln-Nudel-Geschichte hat es gegeben. Und locker und freundlich habe ich den Herd nochmal angemacht und Nudeln gekocht. Kerze auf den Tisch, Abendessen in Harmonie. Die Kartoffeln? Waren nicht so begeistert, aber war schon ok.

Es ist ja nicht immer so. Ich lasse beim Autofahren den Drängler vorbei, ich lasse sie hinter mir im Kino reden, ich zahle den überhöhten Preis. Oder ich lasse das alles eben nicht zu: den Drängler nicht vorbei, hole die Kinoaufsicht, bestehe auf dem korrekten Preis. What ever - ich entscheide, was ich mitmache und was ich nicht mitmache.

Ich gehöre auch nicht meinem Eben, meiner Erkenntnis, meinem Plänen. Das ist ja alles schön und gut, aber zum Schluss entscheide ich, was sein soll. Vergangenheit, Erkenntnisse, Pläne haben mich nicht im Griff. Getrimmt werden wir auf anderes, auf Konsequenz, auf was sich gehört, wie es sein sollte, wie es geschrieben steht, was angesagt ist. Als Kinder haben wir diese Erzählung zu hören bekommen und in uns aufgenommen. Und wenn es heute Abend Kartoffeln gibt, die ja gewaschen, geschält, gekocht wurden, alles Mühe und Lebenszeit, dann gibt es Kartoffeln. Klar doch. Klar doch? Bin ich der Dackel meiner Kartoffeln?

Was lebt da bei mir im Untergrund? Kraft und unverbrüchliche Gewißheit (ich bin, ich gehöre mir, ich bin Teil des Unendlichen) - oder braust da so eine süßlähmende Ohnmacht, immer bereit, sich in mir auszubreiten und mir den Weg zu weisen? Ich bin mit mir klar und ein Sternenkind. Und von daher wünsche ich mir, dass die Eltern von dieser großen Beiläufigkeit berührt werden und die Kartoffeln Kartoffeln sein lassen.

"Ich glaub, ich mach ihm Nudeln." Die Welt der Mutter lugt in die Küche, breitet sich in der Küche aus. Erreicht den Vater. "Ok" sagt er. So ganz selbstverständlich. Ich bin fasziniert - sie können das! Tränen wegaubern und die Kerze anzünden. Der Dackel schmiegt sich an meine Füße.

Montag, 9. Dezember 2019

Die Burg







Sie ist weitergewandert: Vorige Woche habe ich DIE BURG von einem inzwischen größer gewordenem Kind zu zwei meiner kleineren Enkelkindern gebracht. Die Burg:

Vor dreißig Jahren hatte ich mir ein großes Projekt vorgenommen. Ich wollte für meine Kinder eine Burg aus Holz bauen, für die damals im Schwange befindlichen He-Man Figuren. Sie sollte entsprechend groß sein und mit vielen Finessen ausgestattet werden. Mit Geheimtüren, Geheimgängen, Verließen mit Ketten, Treppen, Aufzug zum Kurbeln, Falltür, Kellergewölben, Grotten, Königsbalkon, Leitern, Aufstiegsfalltreppe, Burgschließwänden zum Herablassen, Aussichtsturm, Wehrgängen, Schleichausgang, Maueraufstieg, Lastenlift, verschließbaren Spielfenstern: kurzum, mit allem, was das Herz begehrt. 

Das war ja erst mal nur eine Idee. Dann die erste Skizze. Grundmaße: 60 x 65 cm, Höhe bis 140. Dann die ersten Baupläne. Dann die ausgearbeiteten exakten Pläne mit den exakten Abmessungen, auf den Millimeter genau. Die ersten Schnitte beim Holzschnitt im Baumarkt. Die ersten Aufklebungen. Nachmessen, Pläne ändern. Die nächsten Schnitte, die nächsten Klebungen. Plankorrekturen... die Burg wuchs und wuchs. Und ich durfte keinen Planungsfehler machen, alles musste ja auf den Millimeter genau stimmen, sonst passte es nicht. Konzentration, Überblick, Ausdauer.

Das Ganze sollte ein Weihnachtsgeschenk werden, also Geheimsache, Bauen ging nur, wenn die Kinder nicht an Bord waren. Nachts ging gut. Zu Weihnachten war die Burg erst bis zur Burghofplattform fertig, der ganze Oberbau, Türme, Balkongang und Wehrgänge fehlten. Aber als Geschenk gab es schon was her, die Kinder waren begeistert. Ende Januar war sie dann fertig, die Burg.

Wieviel Energie stecke ich in einen Plan? In das Ausdenken? Ist so was realistisch? Will ich das überhaupt? Ist ja alles schön und gut, aber soll es was werden? Jenseits der Ideenwelt, in der realen Welt? Und wenn ja: wird das was? Kann das klappen? Ich habe immer wieder solche Pläne geschmiedet - und immer wieder auch welche verwirklicht. Erst ist so etwas nur ein Hauch, dann lichtet sich der Nebel, dann merke ich, dass ich über die Ideeschwelle gegangen bin und mich zur Realisierung aufgemacht habe. Und dann beginne ich. Erste Versuche. Und dann bin ich im Entschluss, im Sog, im "Das wird" und im "Das schaffst Du". Und dann bin ich im Machen, Improvisieren, Tüfteln, Ressourcen auftun, Rat holen, Helfen lassen - und im Tun, einfach im Tun. Verbesseren, umjustieren, weiterkommen. Die Zielform wird erkennbar. Und dann ist es geschafft! Noch hier und da verschönern, glätten, schmirgeln. Und: fertig!

Wieviel Zeit gebe ich meinen Projekten? Den großen und den kleinen? Wieviel Sorgfalt? Wieviel Unbedarftheit? Entschlossenheit? Zuversicht? Freude? Zufriedenheit? In Sachen Burg und in zig anderen Prokjekten, meinen großen und kleinen Lebensdingen?

In mein Leben überhaupt? Nein, da ist es anders: das Leben läuft einfach. Da plane ich nichts so Entschlossenens. Da gibt es Rahmen: dieses Fach will ich studieren, diese Wohnung will ich mieten, mit dieser Frau will ich leben. Aber es gibt keine Details. Doch die Energie und die Ausdauer und die Freude sind gleich. Wir entscheiden das ja - wo wir uns engagieren, was wir vorhaben. Es ist ja unsere Zeit und unser Leben. Die Burg war mein Ding - mein Leben ist es auch. 

Und gelegentlich oder immer wieder läuft es auch anders als gedacht. Studienwechsel, Umziehen, Partnerin geht oder ich gehe. Die Planerei wird blass und weicht dem Gang der Ereignisse. Bin ich dann noch der Chef? Meiner Zeit? Meiner Pfade? Meiner Vorhaben? Meines Lebens? Es wird mir auch aus der Hand genommen, dieses und jenes. Ich kann es dann nicht mehr steuern, und mein Chefgefühl zieht sich auf den Grund zurück: Ich bin. Ich bin, auch wenn es nicht so läuft wie gedacht und wie gewünscht. Dennoch bleibe ich der Grund, und gehe nicht im Sturm unter. Und wenn der sich gelegt hat, traue ich mich wieder hervor und komme auf neue Burgideen. Und wenn so eine Idee dann Wirklichkeit wird: dann ist es einfach schön und erfüllend. Es kommt aus der Liebe zu mir selbst. Will sagen: Die Burg bin ich - ich bin die Burg.



Montag, 2. Dezember 2019

Großeltern sind wunderbar







"Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen" heißen meine Vorträge. Ab und zu habe ich aber Lust, die Eltern der Eltern anzusprechen, die ganz groß gewordenen Kinder: die Großeltern. So ein Abend heißt dann "Enkel sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen". Neulich war es mal wieder so weit, acht Großväter und Großmütter kamen. Frischgebackene Großeltern, und sie wollten wissen, was es Neues im Erziehungsgeschehen gibt. Dieser Enkel-Programmtext hatte sie angesprochen, angelockt:

Enkel sind wunderbar!
Unterstützen statt erziehen
Vortrag mit Gespräch
Großeltern werden immer mal wieder zum Enkelbetreuen eingespannt.
Aber wie sollen wir heutzutage mit den Enkelkindern umgehen?
Kinder sind Personen mit einer eigenen Sicht der Dinge – darauf kann man
sich einlassen. Wir bewundern ihre Vitalität, ziehen deutlich unsere
Grenzen, bedrängen sie nicht mit dem ewigen „Sieh ein, ich habe recht“.
Wir kümmern uns um die Würde auf beiden Seiten. Und so gibt es trotz
der vielen Jahre zwischen uns ein gutes Miteinander auf gleicher
Augenhöhe.
Ebenso können Großeltern auch die eigenen Kinder in ihrer Elternrolle
unterstützen: einmischen ja, aber nicht von oben herab. Das ist oft
schwierig, aber voller Chancen für den Zusammenhalt der Generationen.
Der Abend lädt Sie ein, einmal mit der neuartigen Perspektive
„unterstützen statt erziehen“ ins Kinderzimmer zu blicken. Die Zauberei
beginnt mit der festen Überzeugung, dass sich die Liebe zu den Kindern
nur wirklich entfalten kann, wenn wir uns gestatten, uns selbst zu lieben,
so wie wir sind.

Ich habe Ihnen dann das erzählt, was ich auch den Eltern erzähle. Und sie sind mitgewandert in amicative Gefilde. "Das alles sollten Sie den Eltern erzählen", kam dann. Es schwang ein "auch" mit, ich sollte es auch den Eltern erzählen, den Eltern ihrer Enkel. Dieser Großvater war schon zufrieden mit dem, was er gehört hatte, es war ihm nur klar, dass dieses "unterstützen statt erziehen" eben auch die Eltern seiner Enkel  - seine großgewordenen Kinder - angeht.

Wenn ich den Großeltern von unserer amicativen Welt berichte, frage ich mich schon, wie relevant das eigentlich für sie ist. Es ist relevant. Sie haben ja auch ihren Blick auf Kinder, und dieser Blick ist der pädagogische Blick. Sie wünschen sich natürlich konkrete Tipps für Großeltern bei einem solchen Abend, aber ich komme eben grundsätzlich daher. So wie das bei den Eltern auch ist. Und auch sie, die Älteren, werden nachdenklich, und es öffnet sich auch für sie ein neuer Blick ins Kinderzimmer.

Ich habe bei Großeltern immer das Bedenken, über einen so großen Jahresbogen zu springen. Vom Lebensjahr 70 zum Lebensjahr 1. Ich spreche meine Teilnehmer ja auch als die Kinder an, die sie selbst waren. So ein Abend dreht sich nicht nur um die heutigen Kinder und heutigen Enkel, sondern auch um sie selbst, um ihre eigene Kindheit. Sie denken, angestoßen durch mich, darüber nach, wie sie selbst damals gesehen wurden. Dass die Sicht ihrer Eltern eben die Erziehungssicht war - und dass es auch anders hätte sein können. Für Eltern ist dieser Sprung noch "warm", aber für die Großeltern? Einen 70jährigen, eine 70jährige als Baby, Kleinkind, Kind zu assoziieren, anzusprechen? Ist das nicht übertrieben? Bringt das was? Über die eigene Babyzeit und Kinderzeit nachzudenken, wenn sich der Lebenspfad auf die Schlußgrade zubewegt?

Ich frage mich das schon, mache es aber eben. Wieso nicht? Meine Erfahrung ist ja, dass auf den Abenden viel Friede gelingt. Friede mit sich selbst, mit der eigenen Kindheit, mit den Ohnmachtserfahrungen von damals. Eine neue versöhnte Kindheitsidentität schimmert auf. Das ist bei den Eltern immer offensichtlich, viele sind angerührt und bedanken sich herzlich bei mir. Und die Großeltern? Mein Risiko hat sich heute wieder gelohnt, auch diese meine Altersgefährten tauchen hin zu den  pädagogisch-chauvinistischen Verletzungen durch ihre eigenen (gutmeindenden) Eltern, und sie bergen aus den unschönen "Du bist ein Kind"-Abgründen ihrer Seele Gold und Diamenten, Edelsteine ihres Ichs, Selbstliebeschätze.

Und mein Schlußbild ist für sie, die Großeltern, natürlich von viel prägnanterer Wirkung als für die Eltern. Ich spreche sie direkt an:

Sie sind hundert Jahre alt geworden, und es ist Zeit zu gehen. Sie liegen auf dem Sterbebett, die Kerzen sind angezündet und die Räucherstäbchen. Es ist eine andächtige Atmosphäre, alle sind gerührt, Tränen fließen. Zum Schluß kommt ein kleines Kind zu ihnen und sagt: "Ich möchte mich auch von Dir verabschieden, Uroma, Uropa." Offensichtlich ein Urenkel.

"Wer bist Du dennn?"
 "Du kennst mich, Du weißt doch, wer ich bin, schau mal genau hin."
"Ich kann nicht mehr gut sehen, außerdem habe ich Tränen in den Augen."
"Aber Du weißt es doch."
"Ja, Du kommst mir sehr vertraut vor, aber ich komme nicht drauf."
"Denk doch mal nach, spür doch mal hin zu mir."
"Tu ich ja, aber ich schaffs nicht. Sag, wer Du bist."
"Ist gut. Ich bin Du. Und ich möchte Dir gern etwas sagen für das nächste Mal. Es ist kein Vorwurf, nur eine Bitte. Schau, Du hast Dich um alle in Deinem Leben gut gekümmert, aber nicht genug um mich...".

Dann schließe ich mit dem Satz: "Und das muss Ihnen nicht erst mit 100 Jahren passieren. Sie können sich sofort um das Kind kümmern, das Ihnen anvertraut ist, um sich selbst."











Montag, 25. November 2019

Was halte ich von mir?







Was halte ich von mir? Wie denke ich von mir? Mehr positiv oder eher negativ? Ich meine einmal grundsätzlich gesehen. Armer Sünder oder Ebenbild Gottes? Ich sehe mich ja nun ganz und gar und durch und durch positiv. Und habe keine Ahnung, was sich da alles so an Negativem in mir finden könnte - falls sich da etwas findet! Auf den Vorträgen erzähle ich ja auch davon, dass jeder sich positiv sehen kann, lieben kann, so wie er ist. Nicht muss oder müsste, sondern kann. Es ist eine Einladung. Eine Einladung, sich zu mögen und zu lieben.

Als handfeste kleine Maßnahme sage ich den Teilnehmern gern, dass man sich aus dem Schneewittchenmärchen einen Spruch zurechtlegen kann. "Sie können diesen Satz auf einen kleinen Zettel schreiben und nachher zu Hause mit Tesa auf den Badezimmerspiegel kleben. Und wenn Sie morgen früh müde ins Bad kommen und lesen, was da steht... dann ist das frisch gelogen und trotzdem wahr!" Die Leute schmunzeln und sie verstehen. Jeder weiß um diesen Satz, der so geht: "Ich bin die/der Schönste im ganzen Land". So stehts auf dem Zettel geschrieben, frisch gelogen, trotzdem wahr!

In Sachen Selbstliebe begleiten mich schon lange zwei Passagen eines einschlägigen Buches*. Ich lese sie mir immer mal wieder durch, und "es macht etwas mit mir". Wie immer sind wir ja Herr unserer Belange, die Amication ist da mutig und forsch. Also: Was will ich wirklich? Wer will ich sein? Was will ich von mir denken? Was halte ich von mir?

Hier nun meine beiden Textstellen, für mich zum Nachsinnen, Innehalten, Bestätigen: Ja, so ist es. Der Autor spricht mich, den Leser, direkt an:

   "Liebe, egal was geschieht! In wirklich allem, was sich im Alltag ereignet. Es spielt überhaupt keine Rolle, ob du emotional gerade oben bist oder unten. Ob dir eine Situation passt oder nicht. Ob du glücklich oder unglücklich bist...Egal, was passiert - deine Priorität in jeder Situation ist es, objektlos zu lieben. Du liebst sogar dann, wenn du dich manchmal nicht lieben kannst, nicht (mehr) lieben willst...Manchmal werden Glücksgefühle entstehen, ein anderes Mal wieder bleibst du relativ übelgelaunt, wütend oder frustriert. Dann liebst du dich eben dafür, dass du übelgelaunt, wütend oder frustriert bist."

   Zu etwas, das einem nicht gefällt, sagt er: "Bitte schau (es) dir genau an und liebe (es) so, wie (es) im Augenblick ist. Und wenn dir das schwerfällt, dann liebe dich dafür, dass es dir schwerfällt." (Ich habe das auch auf meine Partnerin übertragen: "Bitte schau sie dir genau an und liebe sie so, wie sie im Augenblick ist. Und wenn dir das schwerfällt, dann liebe dich dafür, dass es dir schwerfällt.")

Ich übersetze die beiden Passagen für mich so: Wenn ich mich liebe - na prima! Alles gut! Und wenn ich mich nicht leiden kann und die Selbstliebe sonst wo ist: Dann liebe ich mich eben dafür, dass ich mich nicht leiden kann. Es ist stets fester Grund.




* Werner Ablass, Gar nichts tun und alles erreichen, Aachen 2008, S. 29 f. und 223

Montag, 18. November 2019

Glücksfähig







"Wenn er sich partout nicht die schmutzigen Gummistiefel auszieht, was soll ich dann machen?" Eine Praxisfrage auf dem letzten Vortrag, der Junge ist fünf, und die Mutter klingt ratlos bis verzweifelt. Auf der Fahrt vom Vortrag nach Hause denke ich an und in eine andere Ebene als Praxis. Praxis: Ja, da geht es um das Sich-Durchsetzen, sanft oder hart, entspannt oder angestrengt. Ich habe aber etwas anderes im Sinn.

Die Gedanken der Mutter sind eingefangen, ja eingesperrt bei der Nicht-Lösung. Problem. Wie kommt sie da gut raus, ohne dass es ein Riesentheater gibt? Sie weiß es nicht, es gibt Theater, und sie hängt da fest. Was sie nicht mehr im Blick hat, worüber sie nicht nachdenkt, was nicht mehr auftaucht: All das Schöne und Harmonische, das hinter der Lösung des Problems wartet. Also mit ihrem Kind in guter Atmosphäre Abendessen, Buch vorlesen, ins Bett bringen, Gutenachtkuss, Lichtausmachen. Sie ist gebannt von der Nicht-Lösung, Leid ist angesagt, Freude nicht in Sicht.

Ich übertrage das ins Allgemeine. Wenn man einen Stein in seinem Weg hat, dann ist er nicht nur das konkrete Steinproblem hier und jetzt, dann kappt er auch die Verbindung zu all den schönen Erlebnissen, die jenseits des Steins warten, zu all den Freundlichkeiten und Sonnenstrahlen. So ein ungelöstes Problem ist eine Wolke, die sich vor die Sonne schiebt.

So ist es. Und jetzt kommt das, was mir - für mich und meine Steine - durch den Kopf geht: Ich lass den Stein mal Stein sein, die Gummistiefel mal Gummistiefel - ich spring davon weg und hinein in die Welt, die danach kommt. So, als gäbe es das konkrete Problem nicht. Ich wende mich der hellen Seite zu und lass mir von der dunklen Seite nicht den Tag verderben. Die Freude, die ja so eine große Kraft ist, in mir und in meiner Welt, ich öffne mich für diese Imagination. Das ist jenseits des Verzagens, jenseits des Bekümmertseins. Es ist magische Schönrednerei.

Wieso gehört das nicht zum Standard bei Problemen, bei schwierigen Problemen, bei ekligen Problemen? Man könnte doch da auch aussteigen und mit einer überwältigenden Lockerheit unterwegs sein. Einer Lockerheit und Fröhlichkeit, die da sind, wenn und weil der innere Blick, die seelische Konzentration ganz woanders hingeht als zum Stein, dreckigen Gummistiefeln. "Ist doch nicht so schlimm, davon geht doch die Welt nicht unter.. " - die Sprüche sind bekannt, und hier passen sie.

Dann wird das Auto eben erst morgen repariert. Dann ist die Uhr halt verlegt. Dann bleiben die Gummistiefel meinetwegen dran. Und die großen Probleme? Der Partner will gehen? Es ist Krebs? Untersuchungshaft wird angeordnet? Ja mei. Ist "don't worry, be happy" die Lösung? Möglich ist das. Und wenn es möglich ist, sich die Freude nicht nehmen zu lassen, dann muss ich sie mir auch nicht nehmen lassen! Die Freude, auf der Erde zu sein - mal ganz groß angesetzt. Der große Ansatz, der ist es. Ich bin vom Leben willkommen geheißen, eingeladen durch meine Geburt. Das ist jeder. Und das ist doch so voll Halleluja, dass die Gummistiefel, der Krebs und all der ganze andere Steinekram zwar nicht übersehen werden, aber nicht an die Macht kommen. Sie übernehmen nicht das Kommando. Ich gehöre mir, nichts anderes gilt, und es liegt an mir, ob ich das Bestimmen über mich an Gummistiefel oder den Krebs abgebe und mich ihnen ausliefere. Oder eben nicht.

*

In unserer Kultur sind wir so voller Sorge, so dass diese Leichtigkeit und Fröhlichkeit des Seins sehr schnell vergessen werden. Wie kommt das? Die ganze Sorgerei beginnt in der Kindheit, im Umgang der Erwachsenen mit den Kindern und dem daraus entwickeltem Umgang der Kinder mit den Problemen. Die Gummistiefel sind das Beispiel. Aber natürlich geht es auch anders. Zwei Blicke in die indianische Welt, auf einen anderen Umgang mit den Kindern:

   Eingeborene Kinder sind freie Wesen, mit dem Recht, ihr Schicksal selber zu bestimmen. Europäische Kinder sind leere Behälter, in die die Maßregeln der Eltern gefüllt werden, oder die von repressiven Schulen geduckt werden. Gerade im Verhältnis zur Erziehung werden die Unterschiede des europäischen und indianischen Denkens offensichtlich. Die Weißen sagen "Ich erziehe ein Kind" oder "Ich ziehe ein Kind auf" - der indianische Standpunkt ist mehr "Ich werde mit dem Kind leben".*

   Fürsorge wird, ebenso wie Unterstützung, nur auf Verlangen gewährt. Nahrung für den Körper und Umarmen als Nahrung für die Seele werden weder angeboten noch vorenthalten, sie werden jedoch stets, einfach und anmutig, als Selbstverständlichkeit zur Verfügung gehalten. Vor allem wird die Persönlichkeit des Kindes in jeder Hinsicht als gut respektiert. Weder gibt es den Begriff eines "unartigen Kindes", noch wird umgekehrt irgendeine Unterscheidung hinsichtlich "braver Kinder" getroffen. Es wird angenommen, dass das Kind in seinen Motiven in Übereinstimmung, nicht im Gegensatz zur Gesellschaft steht. Was immer es tut, wird als Handlung eines von Geburt an "richtigen" Geschöpfes anerkannt.**

"Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit" heißt der Untertitel des Buches von Jean Liedloff, aus dem ich zuletzt zitiert habe. Zerstörung der Glücksfähigkeit? Dagegen lässt sich etwas tun, dagegen tue ich etwas. Erst mal den Problemen, den großen und den kleinen, einen angemessenen Platz zuweisen: "Sitz, Platz, Aus!"




* Aus der Welt nordamerikanischer Indianer. In: Uwe Stiller, Das Recht, anders zu sein. Traditionelle Alternativen des indianischen Amerika. Berlin 1977, S.34 u. 41. Uwe Stiller zitiert hier einen indianischen Autor.
** Aus der Welt der Yequana-Indianer in Venezuela. In: Jean Liedloff, Auf der Suche nach dem verlorenen Glück. Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit, München1984, S. 109 u. 97 f.

Montag, 11. November 2019

Schul-Erinnern







Heute war ich wieder zu unserem Klassentreffen. Klar haben wir über die alten Zeiten geredet, eben Erinnerungen ausgetauscht. Es war schon interessant, was den anderen wichtig war und was ich nicht mehr wusste, und umgekehrt. Als ich nach Hause fuhr, dachte ich darüber nach, wie das so ist mit dem Erinnern. Ich kenne zig Abhandlungen darüber, aber was ist mir wichtig in Sachen Erinnern?

Ich bin mein eigener Chef, so heißt es in der Amication. Auch beim Erinnern? Das entzieht sich meiner Souveränität, die Erinnerungen führen ein Eigenleben, machen, was sie wollen. Nun gut, wenn dem so ist. Mein Chefgefühl kommt ins Spiel bei der Frage, wie ich mit meinen Erinnerungen umgehe. Das ist so wie mit dem Herzschlag, der einfach stattfindet. Mir bleibt dann der Rest: wie will ich damit umgehen? Das Herz so schlagen lassen, wie der Arzt rät? Oder drauflos agieren, egal was der Arzt dazu sagt? (Mein Herz ist ok, das ist ein Beispiel.)

Ein Beispiel dafür, dass das Chefgefühl nicht allmächtig ist, sondern nur dort ins Spiel kommt, wo es überhaupt ins Spiel kommen kann. Der Sonne ist es egal, ob es Chefgefühle gibt oder nicht. Aber wie ich mit der Sonne umgehe (Sonnenbaden oder Schatten aufsuchen), das ist meine Sache. Und da hat das Chefgefühl etwas zu sagen, auch bei Sonne und Co, auch bei der Erinnerung, auch bei meiner Erinnerung.

Ein Klassenkamerad hat als Lehrer gearbeitet. Wir haben gefachsimpelt, schließlich war ich ja auch ein Jahr lang Lehrer, Klassenlehrer und Vertrauenslehrer. Er hat das schon gut gemacht, Sprechstunden für Schüler eingeführt und persönlichen Kontakt hergestellt. Auf der Rückfahrt ging mir dann die Passage aus einem meiner Bücher durch den Sinn, in dem ich sehr grundsätzliche Fragen an die heutige Schule stelle. Und an die heutigen Lehrer und Lehrerinnen. Ich habe die Passage dann zu Hause gleich rausgesucht*:

"Und Ihre Erinnerung? Waren Sie nicht selbst Schulkind? Wurde mit Ihnen nicht ebenso verfahren? Waren die damaligen Schmerzen und psychischen Verletzungen denn berechtigt? Haben Sie nicht gelitten? Ist das Leid von damals zu groß, um heute zu erkennen, dass Sie selbst derjenige sind, der dies den heutigen Kindern zufügt? Ist das alles Wiederholungszwang, Wahnsinn, Schicksal?"

Wir sollen die Erinnerungskultur pflegen, heißt es. Ja, in großen politischen Zusammenhängen. Aber so ein Impuls/Impetus gilt für mich eben auch in Bezug auf die Schulwelt. Die jeder durchlebt und hinter sich gebracht hat. Und wenn sich da nichts mehr erinnern lässt? Sich nichts mehr erinnern will? "War doch alles nicht so schlimm...". Nun ja, meine Erinnerungen gehören zu mir, gehören mir. Sie sind ein Teil von mir, sie machen mich aus. Woran erinnere ich mich? Woran erinnern sich meine Klassenkameraden?

Die Freunde erinnerten sich an vieles, an das ich mich nicht erinnere. Ich wiederum erinnere mich an etwas, was ihnen nicht präsent ist. Jedenfalls nicht in der Tiefe und Tragweite, in der sich das bei mir gemeldet hat. "Schule ist Kindesmisshandlung und missachtet das Menschenrecht auf Gedankenfreiheit" - das hatte ich mir einst hinten in meine Autoheckscheibe geklebt. Wer weiß davon und wer erinnert sich an so etwas Grundsätzliches? Mich hat diese Erkenntnis nicht losgelassen, sie hat sich gemeldet und mich angetrieben. Amication hat viele Quellen, eine ist die Erinnerung an die Unterdrückung der Schule, an das Unrecht, das uns Kindern durch die Schule widerfuhr.

Mein Klassenkamerad war Lehrer - wie ich. Er hat sich um die Kinder gekümmert - wie ich.  Von ihm, dem Lehrer, gingen Menschenrechtsverletzungen aus - wie von mir, dem Lehrer. Weiß der darum ? Erinnert er sich? Ich habe ihn nicht gefragt.

Aber er erinnerte sich gut daran, wie unwürdig er damals als Kind behandelt wurde. Und er hat es als Lehrer besser gemacht. Nur: die strukturelle Missachtung der Menschenrechte junger Menschen durch die Schule, die wir beide als Lehrer und Garanten der Schulstruktur realisierten, ist sie in seiner Wahrnehmung und Erinnerung? Gedankenfreiheit? Meinungsfreiheit? Freizügigkeit? Körperliche Unversehrtheit? Das, was hinter den persönlichen Herabsetzungen manifest ist? Gibt es davon ein Bewusstsein? Erinnert sich jemand?

(Zum Wachrufen eignen sich meine Posts vom 12., 14. und 17.12.2016.)




*Schule mit menschlichem Antlitz, Münster 2001, S. 32

Montag, 4. November 2019

Du musst mich nicht erziehen







Beim Aufräumen lief mir dieser kleine Text für die Ankündigung eines Abendvortrags über den Weg:

"Amication geht davon aus, dass der Mensch vom ersten Augenblick seines Sein an ein vollwertiges, konstruktives, kreatives und soziales Wesen ist. Damit steht Amication im Gegensatz zu der pädagogisch-anthropologischen Hypothese, dass der Mensch erst durch Erziehung zu einem solchen Wesen gemacht werden muss."

Tja, dachte ich, da steht ja alles drin. Was aber so schwer zu vermitteln ist. Was sich den Eltern und den Fachleuten so schwer erschließt. Was aber für mich gilt, was etwas abgehoben gesagt "meine Wahrheit ist". Die ich ja nicht für mich behalten kann und nicht behalten will, sondern wo es mich drängt, davon zu erzählen und sie weiterzugeben. Diese Wahrheit war und ist die Basis für meinen Umgang mit allen Kindern, mit denen ich jemals zu tun hatte und haben werde, und auf dieser Basis sind meine Kinder groß geworden.

Dann habe ich einen kleinen Text aus meinem Bücherregal rausgesucht, der mir gleich einfiel, und den ich da gern nachlesen wollte. Diese Zeilen sind derart lebendig, dass sie mich seit Beginn der Öffentlichkeitsarbeit Anfang der 80er Jahre begleitet haben. Ich liebe dieses kleine Gespräch, diesen Einblick in das Herz einer jungen Mutter und eines jungen Vaters.

Die Zeilen, die es mir besonders angetan haben, haben einen Vorspann. Er führt zu der Aussage, die mir so wichtig geworden ist. Hier nun erst der Vorspann, wie ich das nenne. In einem Buch* schreiben Mütter über ihre Erfahrungen aus der Zeit nach der Geburt. Dorjee hat gerade ihr erstes Kind, Gina, bekommen. Sie schreibt:

Nach einigen Tagen verließ ich das Krankenhaus mit meinem kostbaren, winzigen Bündel in bunten Decken im Arm. Als eine hatte ich das Krankenhaus betreten, als zwei Menschen verließen wir es. Der frische, kühle April-Wind wehte mir um die Nase, ein neues Jahr, ein neues Leben.
Als ich das Kind dann zu Hause hatte, stellte sich heraus, dass unser telepathischer Kontakt sehr gut war.
Einmal weinte sie ganz eigenartig, und ich dachte sofort: "Sie hat einen Käfer im Strampelanzug!" Ich wollte diesen Gedanken zuerst nicht glauben, gab ihr zu trinken, wiegt sie, sang ein Lied, dann wickelte ich sie, und da war wirklich ein kleiner Käfer im Strampelanzug. Ich hatte die Wäsche draußen zum Trocknen aufgehängt, da war er hineingeflogen.
Dadurch hatte ich volles Vertrauen gewonnen in die telepathische Kommunikation zwischen Mutter und Kind und ich habe mich die ersten Monate fast nur darauf verlassen. Es hat immer gestimmt, was ich im ersten Augenlick dachte. Jede Mutter hat das mit ihrem Kind. Die Kinder würden kaum überleben, wenn es nicht so wäre.

Jetzt kommt meine Passage:

Einmal erdrückte mich der Gedanke der Verantwortung, die ich jetzt für das Kind habe, und ich litt unter der Vorstellung, das Kind jetzt erziehen zu müssen, ohne zu wissen, wie. Ich schaute ihr sorgenvoll in die Augen, da sagte sie plötzlich zu mir in meinem Herzen: 

"Du musst mich nicht erziehen. Ich bin deine Schwester. Wir kommen vom gleichen Ort im Universum. Ich bin genauso alt wie du. Ich bin nicht dein Kind. Ich habe mir nur deinen Körper ausgeliehen, um hierher zu kommen, weil du ein wenig länger hierwarst als ich." 

Und Gerard sagte: "Du musst sie nicht erziehen. Hauptsache, ich macht euch eine schöne Zeit zusammen.'"




*Samsara Amato-Duex, Bewußt fruchtbar sein, München 1983, S. 117

Montag, 28. Oktober 2019

Danke, Albert





Wieviel will ich durchhalten, nicht aufgeben, noch nicht aufgeben? Wieviel Stehvermögen habe ich? Noch ein Versuch, noch mal in die Vollen, noch nicht beenden. Aber auch: Wenns genug ist, ists genug. Man kann nicht alles schaffen. Ich weiß von mir, dass ich sehr ausdauernd sein kann. Auch über die Maßen, wie ich das selbstspöttisch nenne.

Diese Ausdauerlichkeit liegt mir. Und sie hat mir immer mal wieder das gebracht, was eigentlich - d.h.mit normalem Menschenverstand - nicht zu schaffen war. Auf der anderen Seite habe ich auch immer wieder mal über die/meine Maßen durchgehalten, wo nichts mehr zu gewinnen war. Wie sich dann rausstellte. "Du reitest ein totes Pferd" und "Das Leben ist zu kurz, um hinter dem Unmöglichen endlos herzulaufen" und solche Kommentare. Aber das "Hättest doch noch länger versuchen können" und das "Wenn Du ihr die 1001ste Rose schenkst, kommt sie zu Dir" begleitet mich dann doch. Aber wenn ich es dann genug sein lasse, habe ich kein schlechtes Gefühl dabei. Denn es gibt in mir auf der anderen Seite auch ein energisches, mich selbst zur Ordnung rufendes "genug ist genug".

Ich kam drauf, weil ich über Albert Schweitzer nachgesonnen habe, ich las grade eine Biographie über ihn. Nun, ich habe von ihm eine wirklich starke Kraft zur Ausdauer gespürt, als er mir begegnete, als wir uns über den Weg liefen. Und das kam so:

Am meinem 12. Geburtstag wurden wir Quintaner wie alle anderen Schüler meines Gymnasiums in die Aula gerufen. Es war Oktober 1959, und Albert Schweitzer, 84, war auf Europareise. Er besuchte Freunde in Mülheim an der Ruhr, meiner Heimatstadt, und ein Kind seiner Freunde war auf unserem Gymnasium. Kurz und gut: unser Direktor schaffte es, dass Albert Schweitzer in unsere Schule kam, just an meinem Geburtstag, eine Rede hielt und die grade fertiggstellte neue Aulaorgel einweihte.

Ich saß wenige Meter von ihm entfernt, und viel wußte ich damals nicht von ihm. Ja, es gab die Stichworte Lambarene und Urwalddoktor, und die ganze Lehrerschaft war seltsam und unübersehbar respektvoll diesem alten Herrn gegenüber. Der zur Begrüßung in der ersten Reihe saß, dann vom Stehpult aus zu uns sprach, dann an uns vorbeiging zur Orgeltreppe, und dann seine Musik zu uns sandte. Nur, und das war es: Er hatte diese klare, von Herzen kommende Ausstrahlung: zu etwas zu stehen, zu sich zu stehen, zu dem eigenen Weg, das tun, was einem wichtig ist, sich davon nicht abbringen lassen. Eine grandiose Wucht. Von seiner Rede weiß ich nichts mehr, aber eben von seiner Botschaft. Sie hat mich damals erreicht. Und verstärkt, was auch in mir war: Durchhaltekraft und Glauben an sich selbst.

Natürlich macht das jeder mit sich aus, wieviel man durchhalten will und wann es genug ist. Und wieviel man an sich glaubt. Amication macht da keine Vorgabe, jeder ist wie stets sein eigener Chef. Aber im Zuge der Lektüre über Albert Schweitzer tauchte das alles auf, meine Erinnerung an ihn, an seine Botschaft, an seine machtvolle Würde. Er war, er ist ein großer Unterstützer meiner Unbeirrbarkeit und Durchhaltekraft. Es ist schön, dass das so passiert ist, dass ein Großer einem Kind über den Weg lief, dass ein Kind einem Großen über den Weg lief. Danke, Albert.

Montag, 21. Oktober 2019

Ehrfurcht vor dem Leben





Ich habe die Biographie über Albert Schweitzer von Ilse Kleberger gelesen.* 1875 wurde Albert Schweitzer geboren. Aus dem Jahr 1915 lese ich, wie er mit einem kleinen Dampfer den Ogowe-Fluss zu einer Patientin hinauffuhr. Es mussten vorsichtig und umständlich Sandbänke umschifft werden.

Kleberger: Am Abend des dritten Tages schwammen, vom Sonnenuntergang vergoldet, drei Inseln auf dem Ogowe. Eine Herde Nilpferde badete davor im flachen Wasser, die Mütter spielten mit ihren Jungen, es war ein Bild heiterer Lebensbejahung. In diesem Augenblick, erzählte er später, "stand urplötzlich von mir nicht geahnt und nicht gesucht das Wort 'Ehrfurcht vor dem Leben' vor mir... Nun war ich zu der Idee vorgedrungen, in der Welt- und Lebensbejahung und Ethik miteinander enthalten sind!..." Kleberger weiter: Eigentlich war es vorerst eher ein überwältigendes Gefühl als ein Gedanke, entstanden aus der Freundschaft mit den schwarzen Menschen, dem Anblick der Tiere und der Natur.

Ich denke darüber nach: Albert Schweitzer fand diese fundamentale Essenz 1915. Heute, 100 Jahre später, ist die Ehrfurcht vor dem Leben das Fundament, auf dem viele, sehr viele Menschen stehen. Es ist irgendwie selbstverständlich geworden, was damals in Afrika von Albert Schweitzer gefühlt und eingefangen wurde. Ja, die Zeiten können sich ändern. 1875 - 1915 - 2019.

Und selbstverständlich habe auch ich Ehrfurcht vor dem Leben. Doch wie differenziere ich mit meiner amicativen Weltsicht diese Grandiosität aus?

In meinem Indianerbild erzähle ich von dem Indianer, der den Büffel mit Respekt tötet, der Achtung vor dem Lebewesen vor ihm hat, auch wenn er es tötet. Da wollen Ehrfurcht vor dem Leben und Vernichtung von Leben sinnvoll zusammengedacht werden. An anderer Stelle der Biographie lese ich, dass es Albert Schweitzer bekümmert und er sich schwer damit tut, Tiere und Pflanzen als Nahrungsmittel dem Leben zu entnehmen. Hier bin ich anders, ich bin nicht bekümmert. Ich weiß sehr wohl, dass ich mich - bei aller Achtung - über diese Lebewesen stelle, wenn ich sie für mein Leben verwende, vernichte, töte. Aber das macht mir kein Problem, so wie ich das bei Albert Schweitzer lese.

Ich töte, um zu leben. Ich weiß es nicht anders, und es geht auch nicht anders. Allein mit jedem Atemzug töte ich Millionen Lebewesen, Bakterien und Co. Ich habe den Planeten mit seinen Gesetzen nicht erfunden. Ich bin für diesen Zusammenhang von Leben und Töten nicht verantwortlich. Ich bin Teil dieses so widersprüchlich daherkommenden Konstrukts des Lebendigen. Ich nehme an diesem Leben-Töten-Gesetz nicht Anstoß und leide nicht wie Albert Schweitzer daran.

"Albert", sage ich zu ihm, "auch diesen Ablauf kannst Du mit Deiner Ehrfurcht vor dem Leben erfassen. Sei nicht so kleingläubig. Das Leben, dem Du Ehrfurcht erweist, tritt an Dich wie an jedes Lebewesen heran und schickt uns auf den Pfad des Tötens: Leben (fremdes) zu vernichten, um Leben (unseres) zu erhalten. Das ist sinnvoll und muss nicht negativ bedacht werden." Er aber: "Die Wesen leben auf Kosten des Lebens anderer Wesen ... die Natur ist schön und großartig von außen betrachtet, aber in ihrem Buch zu lesen ist schaurig." Ich fordere ihn auf, sein Denken zu öffnen und die Ehrfurcht vor dem Leben umfassender zu begreifen. "Die Ehrfurcht vor dem Leben schließt das Töten von Leben ein - denn dadurch wird Leben ermöglicht. Das ist nicht schaurig."

So zu denken ist angesichts des Glücks von (Tier)Müttern und ihren Kindern, angesichts "heiterer Lebensbejahung" absurd. Ist es das? Ich denke, dass es immer schwer ist, Schmerz und Leid zu verbreiten, ob wir nun unsere Kinder bei ihrem Spiel stören oder den Büffel aus dem Leben reißen. Aber es ist bei aller Betrübnis über unser Tun und angesichts des Leids, das durch uns entsteht, nicht nötig, am Sinn dieses Geschehens zu zweifeln, es "schaurig" zu finden und uns schlecht dabei zu fühlen. Natürlich will es gut bedacht sein, ob ein "Lass das" oder ein Abschuss jetzt sein müssen, und ob es so sein muss. Und da ist ja auch Flexibilität möglich: Die Kinder können doch noch eine Weile spielen, und ich entscheide mich, auf Fleisch zu verzichten.

Die Ehrfurcht vor dem Leben zeigt uns immer wieder neue Wege. Kannibalismus - Tiere essen - vegan leben. Wespen erschlagen - Wespen mit dem Glas wegbringen. Hühner in Käfigen - Hühner im Freilauf. Menschen als Sklaven halten - Menschenrechte für alle. Von Unterdrückung zur Gleichwertigkeit. Vom Weltkrieg zur Europäischen Union. Ich sehe die Menschheit auf gutem Weg zur Ehrfurcht vor dem Leben. Es geht nicht immer, und es geht nicht überall. Aber es geht. Den Impuls von Albert Schweitzer trage ich in mir, ohne  Dilemma, ohne Widerspruch und in guter Hoffnung.


* Die erwähnten, kommentierten und zitierten Textpassagen aus: Ilse Kleberger, Albert Schweitzer - Das Symbol und der Mensch, in: Verlag Das Beste, Menschen, die die Welt bewegten, Stuttgart 2000, S. 86f.



Montag, 14. Oktober 2019

Ich muss mich nicht bemühen





Diese Woche war mal wieder viel los, zu viel, um einen neuen Post zu schreiben. Es gab drei Vortragsabende, einen Enkelnachmittag, einen Geburtstag, Ferienbeginn meines Jüngsten, Pilzgänge, Hauswerkeleien und Apfelernte bei meiner Mutter (98), unsere täglichen Rollatorausflüge, Scrabble und Letramixabende, und so weiter und so fort... Eine Biographie über Albert Schweitzer habe ich zu Ende gelesen, und eigentlich wollte ich etwas über seine "Ehrfurcht vor dem Leben" schreiben. 1959, auf seiner letzten Europareise, besuchte er unser Gymnasium, erzählte und spielte Orgel: Albert Schweitzer ist eine wichtige Figur meiner Kindheit. Nun gut. Ich suche also einen früheren Post heraus, bleibe hängen bei "Du musst Dich nicht bemühen" vom 29.12.2016 und stelle ihn heute noch einmal in den Blog.

                                                                           ***


Wenn wir etwas erreichen wollen, müssen wir etwas dafür tun. So etwas will im rechten Verhältnis sein: Geben und Nehmen, Bemühen und Erhalten. Das ist eins von vielen Grundmustern des Lebens. Wie soll auch geschehen, was ich will, wenn ich mich nicht dafür einsetze und etwas dafür tue?

Heute will ich nachts in den Wald zum Meditieren. Was ich dafür tun muss: nun, ich mache mich auf den Weg, schaffe den Weg, komme an. Den Weg zurücklegen ist der Einsatz, um in den Wald zu kommen. Hab ich ja auch gut erledigt. Ich bin angekommen und beginne mit dem Nachsinnen.

„Du musst Dich nicht bemühen.“ Sanft und langsam, ein Hauch. Wortlos noch, kein Satz. Aber es formt sich. Ich erkenne dann mit Worten, was sich mir mitteilt. Es ist der Wald, die Nacht, der Zauber der Stille, das Wesen der Ruhe. Was auch immer es ist: es ist nicht zu überhören. Und es spricht mich an. Und ich lasse mich ansprechen und höre zu.

Es ist eine sehr gewisse, machtvolle und ruhige Botschaft. Sie will nicht gehört werden: sie ist da und kann gehört werden. Sie ist fest verankert in der Energie der Konstruktivität. Sie ist Vertrauen. Alles steht mir zu, alles wird mir zufließen, alles wird mich tragen. Es ist etwas Freundlich-Schelmisches dabei, etwas Verschmitztes. Weil es so selbstverständlich ist und weil es so schwer zu merken ist.

Wenn ich mich bemühe, entferne ich mich. Ich bin dann nicht dort, wo ich sein will, sondern ich bin im Dorthin-Eilen. In der Mühe eben. Es ist so ungewohnt: Alles fließt mir zu? Das stimmt doch gar nicht. Ich will so vieles erreichen und bemühe mich unentwegt. „Musst Du nicht tun. Lass Dich in Ruhe. Du liebst Dich doch. Dann tu es einfach. In allem und jedem. Vertrau dieser Kraft. Mehr ist nicht zu tun.“

Es ist eine seltsame Botschaft heute Nacht. Gegen alle Logik und Lebenserfahrung. Erkennbar paradox. Wirklich? Ich habe auf einmal Zugang zu dieser Widersprüchlichkeit, sehe ihre Harmonie und fühle mich wohl und willkommen in dieser Zauberei. In dieser Realität der Liebe. Ja, ich habe vom WU WEI von Lao Tse gehört. Ist es das? Ist im Bemühen zuviel Mißtrauen, ganz grundsätzlicher Art?

„Du musst Dich nicht bemühen“ kommt aus tiefer Liebe zu mir selbst, aus dem Vertrauen in das Leben und den Sinn. Dem ich nachgeben kann, hier im Dunkel der Nacht, in der Konzentration der Stille und dem Atem des Waldes. Es ist ein Raum, der ja auch da ist und in den ich gehen kann, wenn ich das will. Ich entscheide, wie immer, welchen Weg.

„Es erfüllt sich. Es wird schon. Es kommt so, wie es richtig ist. Es geht gar nicht anders. Dein Bemühen hält das Fließen nur auf. Laß es geschehen.“ Alles sehr fremd. Alles sehr vertraut. Eine Gewißheit jenseits der Erklärung. Alltagstauglich? Auf dem Rückweg lasse ich dieses Befragen. Ich lasse es einfach gelten und zu mir gehören. Ich habe verstanden: Ich muss mich auch nicht bemühen, das alles zu verstehen. Wahrheit kommt auf vielen Pfaden.


*

Nachtrag, etliches später: Ich muss mich nicht bemühen, aber ich kann mich bemühen. Wenig oder viel, wie es kommt und wie ich es will. Ich bin ja nun nicht im Klub der Nicht-Bemüher gelandet. Ich habe nur gemerkt, dass ich da etwas nicht muss. Es hat mich entspannt, freundlich berührt. "Wenn Du willst, kannst Du Dich bemühen. Aber Du musst es nicht tun." Und noch ein Flüstern mehr: "Bemühen kostet Kraft, Kraft, die Du ins Erleben fließen lassen könntest." Nicht-Bemühen hat mit Vertrauen zu tun. Bemühen mit Nicht-Vertrauen. Wobei es dann aber auch an einer anderen Stelle der Lebenswiese das Bemühen mit Vertrauen gibt, klar doch. Aber heute war es diese Botschaft: "Du musst Dich nicht bemühen ...".







Montag, 7. Oktober 2019

Ein Eis für die Seele

 




Ich wurde gefragt, ob ich einen Vortrag zur Schulthematik halten könnte. Da habe ich einen besonderen Aspekt aus diesem weiten Feld herausgesucht, habe mir einen zünftigen Titel ausgedacht und für den Flyer der geplanten Volkshochschul-Veranstaltung diesen Text geschrieben:

                                                                     
                                                                                      *
                                                                          
"Die haben doch einen Knall!"
Vom Umgang mit unangenehmen LehrerInnen

Normalerweise funktioniert die Schule. Aber es gibt oft genug Seltsamkeiten. Eltern halten sich dann lieber zurück, denn wer will es sich mit den LehrerInnen schon verderben? Sie bestimmen schließlich über die Schulkarriere ihrer Kinder. Nur meldet sich dann leicht ein ungutes Gefühl aus Groll, Ohnmacht und Demütigung. Ausgeliefert. Woher kommt das und was lässt sich dagegen tun? Holt die eigene Schulzeit die Eltern ein?

Der Abend will einen Weg aus solcher Hilflosigkeit zeigen. Wie man sich für die Kinder klar erkennbar auf ihre Seite schlagen kann, ohne dass es zum Krach mit der Schule kommt. Wie man loyal die Kinder unterstützt und listig unangenehmen LehrerInnen Paroli bietet. Auf dass man mit dem Schulzirkus etwas entspannter durch die Jahre wandern kann. Und sich über die Netten freut.
                                                                           
                                                                                 * * *

Tja. Was soll das Ganze? Ich sehe das mit der Schule ja grundsätzlich. Schulzwang contra freie Entfaltung der Persönlichkeit. Das Reichsschulpflichtgesetz aus der Nazidiktatur contra Grundgesetz, Artikel II. Die Kinder sind tagtäglich nicht freiwillig an diesem Ort zusammengepfercht, den man Schule nennt. Gedankenfreiheit, Meinungsfreiheit, Freizügigkeit, körperliche Unversehrtheit: in der Schule in hohem Maße Fehlanzeige für Kinder. Der Lehrer/die Lehrerin ist die Person, die das alles durchsetzt, ein staatlicher Hoheitsträger. Die Ideologie dahinter ist der gängige Adultismus, überhöht in der Pädagogik, gelebt als Erziehung. So weit so klar, hierzu habe ich immer wieder mal etwas im Blog geschrieben (z.B. 12.-18.12.2016, 6.2.2017, 12.4.2018), auch ein Buch ("Schule mit menschlichem Antlitz").

Natürlich kann ich einen grandiosen Vortrag über die Schule halten. Nur wer will das hören, sich das antun? Mit dem Leid der eigenen Schulzeit konfrontiert werden? Vorgehalten bekommen, dass jetzt die eigenen Kinder genau diesem Unrecht ausgesetzt sind und man das nicht zu verhindern weiß? Wo man doch Schutz und Trutz für seine Kinder sein will.

Ich dachte mir, ich knüpfe an etwas an, das die Eltern deutlich vor Augen haben und das sie konkret belastet. Wo ich sie abholen kann, wo ich sie entlasten kann, wo ich ein bisschen Heilung anzetteln kann. Also habe ich die ganze harte Hintergründlichkeit beiseitegeschoben und mir diese eine konkrete und erlebte Sache mit der Ohnmacht vor dem Lehrer herausgegriffen. Etwas, das jeder kennt, etwas, wo jeder nicht weiß, wie er da rauskommen soll, etwas, das einfach weh tut und nicht aufhören will. Solange die Kinder in die Schule gehen. Und solange man als Mutter und Vater selbst wieder mit in die Schule geht.

Ich habe nicht vor Augen, was ich an einem solchen Abend den Leuten sagen werde. Ich meine, wie ich dann, wenn sie vor mir sitzen, in die Thematik gehen werde. Ich will mit ihnen wandern in dem Schuldschungel, und ich will mit ihnen dem Tiger Lehrer und der Anaconda Lehrerin standhalten. Wie geht man mit Ungeheuern um? Schwächer sind wir allemal, sie haben unsere Kinder in der Hand. Freundlicheit? Einem wilden Tier gegenüber? Humor? Unterwürfigkeit? "Da haben Sie recht" dem Lehrer rüberreichen? Ist es das? Wenn unser Kind angeschrien, bloßgestellt, durch den Kakao gezogen, ungerecht beurteilt, mit negativen Emotionen beworfen, einfach ungut behandelt wird?

Ich will auf jeden Fall klar machen, dass niemand sein Kind verraten muss - auf der psychologischen Ebene. Auf der Handlungsebene: Da lässt sich nichts machen, keine Chance, der Lehrer hat die Macht und er ist die Macht, die Staatsmacht. Man würde sich nur verkämpfen, bei diesen ekligen Alltäglichkeiten. Bei einem exorbitanten Übergriff, wenn er etwa tatsächlich mein Kind geschlagen hat, ist das anders. Jetzt gehts aber um die "Seltsamkeiten" des Schulalltags.

Man kann also nichts unternehmen, wenn man bei Trost ist. Aber den Kindern etwas sagen, das geht schon, etwa: "Da kann ich nichts machen. Lehrer sind schon mal so. Aber"  - und jetzt kommt das Wichtige, was ich vermitteln will - "er hat nicht recht. Ich steh klar auf Deiner Seite, auch wenn ich da nichts machen kann." Reicht das? Für die Eltern? Für die Kinder?

Ich denke schon, dass es viel ist. So etwas offen auszusprechen hat große Wirkung. Ich denke an die Wahrheitskommission in Südafrika. Das Unrecht benennen, das geschieht. Solidarität rüberreichen. Den Eltern zeigen, dass sie nicht allein stehen in ihrer Not: Der Referent (ich also) hält zu ihnen. Den Kindern zeigen, dass sie nicht allein stehen in ihrer Not: Die Eltern halten zu ihnen. Wenigstens das. Wenn sich am Verhalten der Mächtigen schon nichts ändern läßt, dann Klarheit in der Bewertung. Klarheit und Überzeugung in der eigenen Position. Die Eltern da rausholen, aus dieser destruktiven Welt, in die der Lehrer das Kind gesteckt hat und die mit dunkler Resonanz in die Eltern fährt. Auf dass die Eltern ihre Kinder da rausholen können, aus diesem destruktiven Hineinwurf.

"Ok", werde ich sagen, "wenn ein Lehrer so drauf ist, gehen Sie Eis essen mit Ihrem Kind. Sagen Sie Ihrem Kind, dass der Lehrer meint, dass er recht hat. Was aber nur aus seiner Sicht stimmt. Und Sie können noch sagen: 'Wir müssen nicht schlecht reden über ihn, so wie er das mit Dir gemacht hat. Nur dass er aus meiner und Deiner Sicht nicht recht hat. Aber manchmal ist es schlauer, so etwas zu schlucken als einen Streit zu führen, den wir nicht gewinnen können.'"

Reicht das? Es ist mehr als Null. Ein Eis für die Seele.









Montag, 30. September 2019

Kinder? Gibts nicht!

 




Bei der Scheunengeschichte vorige Woche (Post vom 23.9.) bin ich über "Kinder" gestolpert. Wieso eigentlich "Kinder"? Jeder weiß, was Kinder sind, wohin er sich mit seinem Nachdenken, Assoziieren, Erinnern begibt, wenn es um Kinder geht. Ja eben: Wir bewegen uns in der imaginierten Kinderwelt, wenn wir Erwachsene die Kinder in den Blick nehmen. In der ganzen Ideen- und Assoziationswelt, die beim Wort/Begriff/Bezeichnung "Kinder" auftaucht.

"Was soll das?" höre ich den jungen Menschen neben mir/in mir fragen. "Ich will nicht aus fremder Sicht gesehen werden. Ich bin eine Einzigartigkeit, die sich nur aus ihrer eigenen Sicht/Welt dem anderen - Dir - erschließt. Wenn Du, Hubertus, mittelalter/älterer/alter Mensch mit mir in Beziehung treten willst, dann geh einen Weg zu mir, der mich erreicht. Das ist nicht 'Kind'. So etwas - der Kinderweg, mich als Kind zu sehen und zu benennen - ist fehl am Platz, ist chauvinistisch, kulturimperialistisch, adultistisch. Lass den Quatsch. Ich bin kein 'Kind', das Fass machst Du bitte nicht auf. Ich bin ein Mensch. Ich bin jung, sehr jung oder mitteljung. Finde einen neuen Namen für mich oder lass es bei 'junger Mensch'. 'Kind' ist so daneben wie 'Neger' für einen Afrikaner."

Ich löse mich mit anstrengendem Nachdenken vom "Kind"-Wort. "Kind" fängt diese ganze Welt ein, die die Amication verlassen hat. Wiewohl ich diesen Begriff ja auch verwende, aber wiewohl er eben auf unpassende und verfehlende Pfade führt. Ich habe "Kind" in mir längst umgedeutet. Aber es ist an der Zeit, passend, im Diversitätswesen, das einfach mal durchzuspielen: Diese Herrschaften mit ihren jungen Jahren sind Menschen, keine "Kinder". Klar sind sie jung (sehr jung, mitteljung, altjung), unerfahren, brauchen alles Mögliche. Und klar gebe ich ihnen, was ich geben kann und was ich denke, das sie haben möchten und haben sollten. Nicht das Thema. Das Thema ist der Zungenschlag, die Denkwelt, die innere Aufenthaltswelt, wenn das Wort "Kind" fällt. Das läßt sich ändern.

"Ich bin kein Kind." - Pause, Innenhalten, Nachdenken. - "Wer bist Du dann?" - "Ich bin ein Mensch". Mit seinen Besonderheiten. Den Besonderheiten eines Neugeborenen, Einjährigen, Zweijährigen, Dreijährigen ... Sechzehnjährigen ... Vierzigjährigen ... Hundertjährigen. Es ist gänzlich irreführend, diesen jungen Menschen dieses Kinderschild auf die Stirn zu heften. Sie haben kein Kinderschild auf der Stirn. Sie haben die Menschenkrone auf dem Kopf.

Im letzten Post schrieb ich von der Volljährigkeit eines Sechsjährigen. So ist es. Alle sind volljährig. Bezogen nämlich auf ihren Status als Mensch. Schon klar, Volljährigkeit bindet sich an das Alter 18 Jahre, aber das ist ja die Irreführung.

Erwachsener. "Erwachsener"? Das geht dann natürlich auch nicht. Das fängt auch die irreführende Sicht ein, macht den kulturimperialistischen Abstand aus. Herrschaft. So was zu erkennen ist alles ungewohnt, klingt gaga. Aber es öffnet den Zugang zu dem, was sich Adultismus nennt. Jedenfalls mein Weg.

Wie stellt es sich darauf ein, auf junge Menschen? Da gibt es das gesamte traditionelle Wissen und Verhalten - was aber durchzogen ist vom Nichterkennen, Nichtanerkennen, Vorbeirennen. Soll das Rad neu erfunden werden? Ja, vielleicht ist es so etwas. Die Kleinlinge sind ja da, wuseln um uns rum. Was soll ich davon halten, wie damit umgehen? Also erst mal: das haben die Menschen seit Millionen Jahren hingekriegt, nur nicht so bange. Und das ganze gelehrte Zeug, die pädagogische und psychologische Wissenschaft? Tja: Von Grund auf korrupt würde ich sagen. Nicht aus böser Absicht, aber eben im Ansatz schon daneben. Aus der Tradition des Maschinenzeitalters, machen, formen. Und sich die Erde untertan machen. Da ist Rehumanisierung dieser Wissenschaften angesagt.

Ich stelle mir Frauenwissenschaft vor. Von Männern erdacht. Da gibt es renommierte Frauenwissenschaftller. Zigtausende von Büchern zu Theorie und Praxis. Unzählige Kurse und Seminare für den Umgang mit den Frauen.

Ich stelle mir Negerwissenschaft vor. Von Weißen erdacht. Da gibt es renommierte Negerwissenschaftler. Zigtausende von Büchern zu Theorie und Praxis. Unzählige Kurse und Seminare für den Umgang mit den Negern.

"Was soll das?" höre ich den jungen Menschen neben mir/in mir fragen. "Ich will nicht aus fremder Sicht gesehen werden. Ich bin eine Einzigartigkeit, die sich nur aus ihrer eigenen Sicht/Welt dem anderen - Dir - erschließt ...".

Es geht den Bedeutungswandel, der im Benennungswandel liegt: "Behinderte" wird zu "Menschen mit Behinderungen". Das wird heute akzeptiert und praktiziert. Also: "Kinder" wird zu "Menschen jungen Alters". Durchaus zu schaffen.



Montag, 23. September 2019

Scheune





"Beim Spielen mit den Gleichaltrigen war nichts außer Gleichwertigkeit. Wenn wir in der Scheune
balancierten: jeder auf seine Weise, mit mehr oder weniger Mut, aufrecht, robbend, sitzend, unter uns der gefährliche Bulle. Wir waren verschworen, solidarisch, von gleicher Art. Was immer wir anstellten. Und wir wussten um uns, wenn ein Erwachsener in unsere Welt einbrach, freundlich oder feindlich: er war anders, oben, maß uns das Unten zu. Aber er erreichte uns nicht wirklich, denn in unserem Land gab es kein Oben und kein Unten."

Das schrieb ich im Post vor anderthalb Jahren (11.4.18). Beim Online-Kongress letzte Woche erzählte ich wieder einmal von der Scheune. Diesmal aber sah ich mich als Erwachsenen, der zur Scheue kommt, die Tür öffnet und die Kinder auf den Balken und unten den Bullen sieht. Und ich sah die Kinder, die mich am Tor bemerkten, war selbst eins von ihnen oben auf dem Balken, und die ganze Situation verdichtete sich. Ich kramte sie hervor und wollte den Kongressteilnehmern deutlich machen, was es auf sich hat mit "auf gleicher Augenhöhe", mit "Gleichwertigkeit von Erwachsenen und Kindern", wie sich das verstehen und erfühlen lässt.

Das Beanspruchen der inneren Führung, das ist es, was für mich gar nicht geht. Wenn Erwachsene mir so etwas damals rüberreichten, konnte ich dem nichts offen entgegenhalten. Ich zog mich innerlich zurück und tat äußerlich, was erwartet wurde oder tat es nicht. Immer aber war ich innerlich groß, gab keinen Millimeter nach, auch wenn ich mich zurückzog. Meine Krone konnte mir niemand vom Kopf wischen. Da war ich bedeckt mit Drachenhaut, und zwar ohne Siegfriedlücke, unverwundbar. Wenn ein Erwachsener in die Scheune kam, hörten wir auf zu strahlen, wir zogen uns zurück. Äußerlich sowieso (kamen runter), aber vor allem innerlich, und versteckten unsere Souveränität. Wir wurden von Menschen zu Kindern.

Wenn Kinder sich erst zu richtigen Menschen - vollwertigen, volljährigen, selbstverantwortlichen Menschen - entwickeln werden. Wenn Erwachsene ihnen dabei helfen, zur Seite stehen, sie begleiten (einfühlsam, achtsam, behutsam, undundund), sie erziehen werden: Dann hat das zur Grundlage/Voraussetzung, dass sich die Kinder eben dorthin erst entwickeln werden. Was ich anders sehe, das mit der Grundlage und Voraussetzung. Ich sehe das so, dass junge und jüngste Menschen - Menschen von Geburt an - bereits vollwertig, volljährig, selbstverantwortlich sind und sie das nicht erst werden. Voller Informationen und Souveränität, jedes Neugeborene trägt das Wissen der Millionen Generationen vor ihm in sich.

Da muss nichts zugefügt werden. Da kann man bei zusehen, wie sich das in der HeutkonkretenWelt ausfaltet, entwickelt, wächst. Da kann man auch begleiten, helfen. Da kann man in Beziehung sein zu so einem Souverän, auch intervenieren, dazwischengehen, Weg versperren. So, wie wir Erwachsene das miteinander auch tun. Was ist daran nur so schwer zu verstehen? Was muss diese Missionsattitüde sich da als Grundgeräusch einstellen? Was soll das, was man Erziehung nennt?

Na ja, es liegt eben an dem anderen Blick auf die jungen Menschen. Homo-Educandus-Blick. Die jungen Menschen werden mit dem Homo-Educanus-Schild auf der Stirn gesehen, nicht mit der Königskrone. Schon klar. Und dass ich das eben anders sehe, auch schon klar.

Welchen Blick hat der Erwachsene, der in die Scheune kommt? Das Geräusch, das er beim Toröffnen macht, teilt uns oben auf dem Balken mit, wie er drauf ist. Es schwingt zu uns, und wir wissen sofort Bescheid und reagieren mit äußerem und innerem Rückzug. Ich sage im Kongress-Interview: Wenn ich das Scheunentor öffne, erkennen die Kinder am Geräusch, was für ein Mensch da kommt. Eben einer, der um die Volljährigkeit und Vollwertigkeit dieser Sechsjährigen weiß, der das sieht, der das vermittelt. "Das ist Hubi" ruft einer. Und sie leuchten weiter.

Ich werde gefragt, was ich denn konkret tue, wenn ich die Kinder beim Balancieren über dem gefährlichen Bullen sehe. "Kommt drauf an", sage ich, "wie ich drauf bin." Weites Feld. Immer aber ohne mich innerlich zum Erwachsenen zu machen, ohne die jungen Menschen zu Kindern zu machen. Konkret? Ja mei. Von "Gehts noch, kommt da runter" über "Passt bloß auf" zu "Ich mach mit" und "Wenn ihr fallt, passt auf, dass ihr dem Bullen nicht auf dem Kopf fallt". Und. Ernsthaft, scherzhaft. Und.

Jeder erkennt die Welt auf seine Weise. Ein Neugeborener auf seine Weise, ein Einjähriger auf seine Weise, ein Zweijähriger auf seine Weise, ein Dreijähriger auf seine Weise ... ein Zwanzigjähriger auf seine Weise, ein Dreißigjähriger auf seine Weise, ein Vierzigjähriger auf seine Weise ... ein Achtzigjähriger auf seine Weise, ein Neunzigjähriger auf seine Weise, ein Hundertjähriger auf seine Weise... Was ist daran so schwer zu verstehen?

Ein Mann auf seine Weise, eine Frau auf ihre Weise, ein Weißer auf seine Weise, ein Schwarzer auf seine Weise, ein Dicker auf seine Weise, ein Dünner auf seine Weise, ein Christ auf seine Weise, ein Muslim auf seine Weise, ein Kluger auf seine Weise, ein Dummer auf seine Weise, ein Autofahrer auf seine Weise, ein Fahrradfahrer auf seine Weise, und so weiter und so fort. Was ist daran so schwer zu verstehen?

Pädagogisch eingestellte/überzeugte/handelnde Menschen auf ihre Weise. Nichtpädagogisch (amicativ) eingestellte/überzeugte/handelnde Menschen auf ihre Weise. Fragt sich, wer man ist und sein will. Und je nachdem reagieren die anderen. Äußerlich. Innerlich. In der Scheune und anderswo.


Montag, 16. September 2019

Willkommenherz und Online-Kongress





Ich bin zu Besuch bei meiner Mutter (98). Wir sind unterwegs, draußen, Wald- und Wiesenwege, unsere täglichen 45 Minuten. Sie stützt sich auf ihren Rollator, geländegängige Großreifen. Per Rückenkrankheit und Alter geht sie gebückt, Blick nach unten auf den Weg. Nicht nur, aber schon. Nicht nur nach vorn, auch zur Seite. Sie sieht dort wieder und wieder schöne Blätter. Rote, braune, grüne, gelbe, farbmisch gefällt ihr am besten. "Dass es so was gibt!" Rotgelbgrün, geniale Muster. "Dies noch" und "Das noch". Ich soll sie aufheben, diese Wunder der Natur und oben vor sie auf die Rolliablage legen. Was ich tue. Dies noch und das noch. Zu Hause werden sie dann liebevoll auf dem Tisch ausgebreitet.

Will sagen: Diese winzigen Kleinigkeiten - sie wollen bemerkt sein. Wer schaut schon auf Blätter am Wegesrand? Wer schaut schon auf Wunder am Tagesrand? Das ist es, was sie mir zeigt. Diese kleinen Wunderdinge sind ja da, sie wollen nur bemerkt sein. Das sind zum Beispiel kleine Situationen mit fremden Menschen, dauernd möglich. Heute beim Einkaufen: An der Ladenkasse, wenn die Kassiererin mein Gemüse abwiegt, was ich vergessen habe. Vor der Ladenkasse, wenn dieses Kleinkind von der Mutter auf den Arm genommen wird. Hinter der Ladenkasse, wenn ich dem mit Einkauf vollbepackten Businessman die Tür aufhalte. Dann: Den Radfahrer vorbeilasse, wiewohl der nicht dran ist. Zurück zum knienden Bettler gehe und ihm 2 Euro gebe, wiewohl der mich vor dem Laden nur genervt hat, allein dass er da so kniete. Dieser unangenehmen Frau in der Bäckerei den Vortritt lasse, den sie so unausgesprochen einfordert, wiewohl sie wirklich nicht dran ist.

Ich sehe beim Autofahren die Wolkentürme, die Blumenkästen vor den Häusern, die liebevoll (!) aufgestellten Warnschilder (starke Kurve, Reiter, 30, Stop, gotgelbgrün, tausend). Ich sehe den Platten auf dem Bürgersteig in ihre Geschichte: sehe den Bauarbeiter, der sie dereinst verlegt hat. Ich sehe die Wespe vor meinem Gesicht, die nicht verjagt werden will. Ich sehe die Kanadagänse am Flußufer, die irritiert zum Hund sehen, und ich sehe den Hund, der drauflosrennt, und ich sehe sein Herrchen, der ihn nicht anleint. Ich sehe all diese kleinen Buntlinge des Tages, meines Tages.

Und so sehe ich auch die bunten Blätter, die da einfach liegen und von meiner Mutter erkannt, begrüßt, bewillkomnet werden. Sie hat ein sehendes Willkommenherz. Ich habe ein sehendes Willkommenherz.

Und damit habe ich dereinst die jungen Menschen gesehen, Kinder genannt, die einfach lebten, ungeniert, vor meinen pädagogisch bebrillten Augen. Nur dass ich eben diese Brille erst gar nicht aufgesetzt habe, wiewohl es sich so gehört für Leute, die sich an die Kinderarbeit begeben. Ich sah diese Junglinge (mit "u", kein Versehen, kein "ü"), diese fröhlichen Menschen in ihrer Buntheit, erkannte und bewillkommnete sie. "Ich bin wie ihr." Und sie merkten das und antworteten: "Heb uns auf, wir sind schön, Geschenke des Lebens." Wie bunte Blätter und bunte Blumen und liebevolle Schilder.

Zur Zeit läuft im Internet der Online-Kongress "KitaRevolution". 20 Experten (das lasse ich jetzt mal gelten) kommen zu Wort. Ich bin einer von ihnen. Ich will die Kollegen nicht abmeiern, das wäre ungehörig und ist auch nicht mein Ding. Aber: Aber ich lass ihre Beiträge in mir wirken. Und ich vermisse. Na ja: das Erkennen dieser - dieser - von innen kommende Farbigkeit, die junge Menschen (wie alle Menschen, die Kassiererin...) einfach haben, angeboren. Da gibts nichts zu farbisieren, sprich formen, bilden, erziehen. Kann man ja machen, ein Buchenblatt anmalen. Nur dass es eben diese grüne oder gelbe oder rote Farbe ja mitbringt und man das sehen kann, könnte.

Morgen gibts einen neuen Mittagsgang mit meiner Mutter. Mit neuen Weg-Warten. Und den Wolken und der Wespe. Und Buchenblättern.

Montag, 9. September 2019

Unteilbare Diversität





Die vielfältigsten Gruppen treten heutzutage auf den Plan und werden beachtet. Erst einmal wird bemerkt, dass es sie überhaupt gibt, und dann wird ihnen Verständnis und Wertschätzung entgegengebracht. Ich reibe mir die Augen, was sich da alles so tummelt - aber klar, jede Gruppe hat ihre Berechtigung, und ich denke ihnen Aufmerksamkeit und Achtung zu. Als Beispiel zeige ich mal die dritte Geschlechternennung (bei Stellenanzeigen und anderswo): "d" steht für divers, "i" für intersexuell, "a" für anders, "x" für egal welches Geschlecht bzw. nicht definiert, "gn" für geschlechtsneutral. "*" für einen Platzhalter oder eine Fußnote. Nach meinem "ja Leute gehts noch" kommt dann in mir "klar geht es".

Ich schau mich bei Wikipedia um:

"Diversität ist ein Konzept der Soziologie und Sozialpsychologie, das in der deutschen Wirtschaft, Gesellschaft und Wissenschaft analog zum Begriff Diversity im englischsprachigen Raum für die Unterscheidung und Anerkennung von Gruppen- und individuellen Merkmalen benutzt wird. Häufig wird der Begriff Vielfalt anstelle von Diversität benutzt. Diversität von Personen – sofern auch rechtlich relevant – wird klassischerweise auf folgenden Ebenen betrachtet: Kultur (Ethnie), Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Behinderung, Religion (Weltanschauung). Weniger ins Auge fallen eine große Zahl weiterer sozialisationsbedingter und kultureller Unterschiede wie Arbeitsstil, Wahrnehmungsmuster, Dialekt usw., die die kulturelle Vielfalt weiter erhöhen und kontextabhängig ebenfalls der Aufmerksamkeit und ggf. der sozialen Anerkennung bedürfen."

Da steht zum Schluss: "...die der Aufmerksamkeit und ggf. der sozialen Anerkennung bedürfen." Ok, das kriegen wir - Gesellschaft, mich eingeschlossen - hin, das mit der Aufmerksamkeit und der sozialen Anerkennung.

Ich bin ja nun in Sachen Kinder unterwegs, und schon habe ich das ganze Diversitätstheater am Wickel. Sooo viel Gruppen und Grüppchen erheben ihre Stimme, und zwar zu Recht, wie ich finde. Und eine jede Gruppe will von ihrer Innensicht her gewürdigt, verstanden und geachtet werden. Auch wieder zu Recht, wie ich finde.

Ich deklinier das mal durch: Wie denkt und fühlt ein Homosexueller, AfD-Mensch, Samoaner, IS-Kämpfer, Balletttänzer, undundund? Wie ist er unterwegs, wie sieht er die Welt? Wie komme ich mit so jemandem klar und in Kontakt und in guten Kontakt? "Wer bist Du?" Und davor/dagegen/dabei: "Wer bin ich?" Oft und immer wieder: Ich bin da jemand anderer als Du, klarer Unterschied. Aber es verbindet mich mit Dir die Achtung und Wertschätzung.

Ich bin da jemand anderer. Schwule Welt: Ich küsse keinen Mann - wiewohl Du das gern tust. Ich habe Achtung vor Deiner Homo-Welt, auch wenn ich sie nicht teile. Ich küsse Frauen. AfD-Welt: Ich halte Hitler und die Nazizeit für keinen Vogelschiss in der Geschichte - wiewohl Du das so siehst. Ich habe Achtung vor Deiner braunen Welt, auch wenn ich sie nicht teile. Ich verehre Anita Lasker-Wallfisch. Und so weiter. Es gilt für mich und die anderen Gutmeinenden: niemand steht über dem anderen (egal wie der tickt), jeder hat aus seiner Sicht recht (egal wie schrill das für mich ist). Wobei für mich gleiches gilt, auch ich habe aus meiner Sicht recht: Ich rücke von meiner Position nicht ab (ich küsse Frauen, verehre Anita). Und ich setze mich für meine Position ein, auch mit allem Nachdruck, wenn das nötig wird (weise den Schwulen, der mich küssen will, in die Schranken, weise dem AfDler lautstark zurecht).

Wir lernen grade, die anderen, auch die so ganz anderen, aus ihrer Welt her zu verstehen. Vor Zeiten wurde mir das einmal eindringlich bewusst: bei einem Science-Fiktion-Film, in dem zwei erbitterte Feinde zueinander fanden und Freunde wurden: "Enemy Mine", von Wolfgang Petersen 1985. Und, außerdem, weiter Bogen: wir lernen Pferde von ihrer Welt aus zu verstehen, ebenso Hunde und Katzen. Dazu gibt es seit 30 Jahren zig Literatur. Neuerdings Bäume. Der andere, auch der und das so ganz andere: wir nähern uns ihm.

Johann, 8 Monate: "Das da ist doch eine Schweineschnauze". "Geh da weg, das ist eine Steckdose". Diversität? Im Kinderzimmer? Es ist doch eigentlich so einfach.

Ist es eben nicht. Kinder werden nicht im guten Hype der überbordenden Diversität wahrgenommen. Sie sind zum Diversitätsspiel des Lebens nicht zugelassen. In Sachen Diversität hat sie niemand auf dem Schirm. Der diverse Respekt, die diverse Achtung, die diverse Wertschätzung vor der Andersartigkeit - fehlt im Kinderzimmer. Wie damals bei den Schwulen und wie heutzutage oft genug noch bei den AfDlern.

Mit dem Diversitätsgedanken läßt sich doch etwas anfangen! Ich finde ihn einen guten Ansatz, um "den anderen", den pädagogisch orientierten Erwachsenen etwas von den amicativen Dingen zu erzählen. Vom Ende der Erziehung (in unserem konstruktiven Sinn), vom Überwinden des Adultismus, des Erwachsenen-Chauvinismus, des kulturellen Imperialismus, des pädagogischen Inhumanismus, der Menschenformung, der Missionierung, der Erziehung. Ich trage den Diversitätsgedanken ins Kinderzimmer.

Da geht doch was... Achtung vor der Schweineschnauzensicht. Diese Sicht teile ich nicht, ich sehe eine Steckdose. Aber ich höre hin und schwinge mich ein. Auf den Schwulen, den AfDler, das Kind. Ich werde da nicht mitmachen (beim Männerkuss, beim Vogelschiss, bei der Schweineschnauze), aber ich setze das nicht herab, ich setze den anderen nicht herab, ich setz Dich nicht herab, muss Dich nicht belehren, nicht missionieren. Ich habe nicht mehr recht als Du... Ich wische nicht Deine Würdekrone vom Kopf. Schwule, AfDler, Kinder - ein jeder hat diese Krone. Diversität ist unteilbar.