Montag, 31. Oktober 2022

Einen Türspalt öffnen

 

 

 „Was würden Sie tun, wenn der Unterricht langweilig ist, keiner mehr mitmacht und der Lehrer fragt, ob er zu theoretisch erklärt oder was sonst los ist?“ Frage eines Schülers nach einem Vortrag in der Aula seiner Schule, jetzt sind wir im Klassenzimmer, 25 Kinder, 11. Klasse.

Kommt drauf an, wie die Beziehung zwischen den Schülern und dem Lehrer ist. Wenn es Vertrauen gibt, dann sagen die Schüler, was Sache ist. Dass der Stoff langweilig ist. Dass gestern eine Fete war, die sie grade untereinander besprechen. Dass sie sowieso jetzt keine Lust auf Unterricht haben und lieber sofort Pause machen wollen. Dass: Sonstwas. Sie sagen ihm, was wirklich anliegt, und dann wird man ja sehen.

Wenn so ein Klartext nicht geht, sagt sehr wahrscheinlich erst mal keiner was. Dann wird der Lehrer jemanden ansprechen: „Julian, was ist los?“ Julian wird dann verlegen vor sich hinsehen und nichts sagen. Oder „Ich weiß auch nicht.“ Im zweiten Fall kommt es leicht zu einer Beschämung. Die Schüler sollen sich offenlegen. Was sie aber nicht tun. Eine ungute Situation.

Was würde ich also tun? Ich werde ja um Rat gefragt. Was soll ich den Kindern vor mir sagen? Solche Peinlichkeiten kommen in der Schule vor. Jede Menge Peinlichkeiten, Konsequenz aus der Zwangssituation, die jede Schule als Basis nun einmal hat. Die Kinder sind nicht freiwillig dort, Teilzeitgefängnis. Wobei, auch das noch, man ins Gefängnis ja nur kommt, wenn man etwas ausgefressen hat und bestraft wird. Die Kinder haben noch nicht einmal etwas ausgefressen und werden trotzdem eingesperrt, jeden Schultag, zu ihrem Besten.

Na ja, die ganze Schulthematik kommt da in mir hoch. Aber die Kinder wollen – ja, was wollen sie von mir? Ich habe im Vortrag in der Aula auch vom Unrecht der Schule gesprochen, meine Position haben sie gehört. Rufen sie die gehörte Solidarität ab? Wollen sie einen revolutionären Rat? Wollen sie einfach nur noch einmal hören, dass ein Erwachsener (ich) tatsächlich dort unterwegs ist, wo sie sich selbst verorten, als Ausgelieferte und Rechtlose? Ich bin für sie ja ein Alien, ein Erwachsener, den es eigentlich nicht gibt. Welchen Erwachsenen kennen sie denn, der die Schule für eine Menschenrechtsverletzung hält, ihre Unterdrückung sieht und ihr Leid?

„Na ja, kommt drauf an“, sage ich. „Wenn der Lehrer nett ist, würde ich wohl sagen, was anliegt. Wenn ich mich denn grade traue. Wenn er nicht nett ist, würde ich nichts machen und abwarten, was er dann macht. Irgendwie diese ganze Unannehmlichkeit durchhalten.“ Ihre Klassenlehrerin sitzt dabei. Ist sie gemeint? Die Kinder sehen zu ihr hin.

Das Aussprechen des Unrechts, das einem widerfahren ist, vor einer moralischen und gesellschaftlichen Autorität hat eine heilende Wirkung. In der Wahrheitskommision in Südafrika waren die Täter anwesend, wenn Desmond Tutu oder eine andere anerkannte Persönlichkeit das Unrecht aussprach, das die Täter den Opfern zufügten. Dieses Aussprechen der Wahrheit hatte immer wieder auch anrührende und grandiose Auswirkungen. Einmal konnte eine Mutter dem Mörder ihres Sohnes verzeihen und ihn in den Arm nehmen.

Unrecht der Schule. An den Kindern begangen von den Lehrern. Die Wahrheit ist in der Aula von mir ausgesprochen, vor Lehrern und Schülern. Autorität, Täter, Opfer. Die Lehrerin ist jetzt dabei, die Kinder sehen sie an. Kann ich die Tür zur Versöhnung durch das Aussprechen der Wahrheit öffnen? Einen Spalt schon, denke ich. 

 

 

Montag, 24. Oktober 2022

Wem gehört ihr Denken?

 

 

Auf dem Vortrag neulich kamen wir auf die Schule zu sprechen. Ich wurde deutlich und demonstrierte den ganz normalen Alltag der Schulkinder. Und den des Lehrers: 

Schlag Dein Buch auf und lerne, was da steht!“

* 

Ja – geht's noch? Was soll ich tun?

* 

Wem gehören die Kinder, wem gehört ihr Denken?

* 

Unsere Zivilisation beruht auf bestimmten geistigen Leistungen, etwa dem technischen Wissen, um Brücken, Kühlschränke, Fernseher bauen zu können. Doch dieses Wissen kommt letztlich aus dem Zwang, den die Erwachsenen mit der Schulpflicht der nachwachsenden Generation auferlegt. Unsere Zivilisation beruht streng genommen auf der geistigen Versklavung unserer eigenen Kinder – nichts, worauf wir stolz sein können, und nichts, das sich nicht ändern ließe. 

Lernen Kinder denn ohne Schulpflicht das, was wichtig ist? 

Wichtig für wen? Für die Erwachsenen? Die Kinder werden das lernen, was aus ihrer eigenen Sicht wichtig zu lernen ist. 

Die Verhältnisse werden sicher anders sein, wenn Menschen, auch junge und jüngste, über ihr Denken selbst bestimmen können, und das ist nur für die zum Nachteil, die die Macht nicht teilen wollen. Das selbstbestimmte, von innen kommende Lernen ist ein wertvoller Schatz der Menschheit, der gehoben werden muss, wenn die anstehenden Probleme sinnvoll gelöst werden sollen.

Vielleicht wird die Post dann nicht mehr in einem Tag von Hamburg nach München befördert werden können – die Menschen werden selbst entscheiden, was ihre Lebensqualität ausmachen soll und was nicht. 

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Wem gehören die Kinder, wem gehört ihr Denken?


 

 

Montag, 17. Oktober 2022

Blick in den pädagogischen Abgrund

 

      

Amication ist ein Sonnenland. Von dort erkenne ich das strukturelle Leid im Erziehungsland, das durch liebende und gutmeinende oder widerwärtige und böswillige Menschen für die Kinder konkret wird. Ich sehe in den pädagogischen Abgrund... 

Ich möchte niemanden verschrecken, der sich für die amicative Welt interessiert. Es geht um mein Erkennen, meine Botschaft, meine Einladung. Vielleicht braucht es ja eine gewisse seelische Stärke, Sensibilität, Erinnerung, um die pädagogischen Seiten unserer Kultur als dunkel und desaströs zu erkennen. Ich zeige das auf, es muss ja niemand laut Beifall klatschen – man kann auch angerührt schweigen. Jeder kann sich mitnehmen lassen zu der amicativen Tür, die ich zeige: und sie in eigener Verantwortung schließen oder hindurchgehen.

Wenn wir jemanden etwas absprechen, wovon er aber überzeugt ist und von dem er meint, dass es ihm zukommt, erlebt er diese Position als Angriff. Wenn wir Kindern aufgrund der pädagogischen Position absprechen, dass sie Selbstverantworter sind – sie sich jedoch so fühlen – , dann erleben sie dies als psychische Aggression, als Angriff auf ihr Selbstverständnis. Sie erleben die pädagogische Nicht-Anerkennungs-Haltung als ein psychisches Gift, dem sie sich ausgeliefert fühlen.

Dieses Gift wirkt langsam, aber unaufhaltsam. Es zersetzt das mitgebrachte Selbstverantwortungsgefühl und damit das grundlegende Selbstvertrauen. Das Vertrauen darin, dass ich Grund aller Dinge bin und mich getragen weiß vom Sinn des Ganzen. Und es zersetzt auch das Vertrauen in die anderen, in die Erwachsenen, in die Sozialität und Gemeinschaft: Denn von diesen großbeinigen stimmgewaltigen Riesen kommt ja diese eklige Psycho-Ätze. Und ihre loyale Unterstützung in die selbstverantwortlich erspürten und mitgeteilten Wichtigkeiten bleibt ja immer wieder aus, „weil wir besser wissen als Du, was für Dich gut ist“. 

Misstrauen zu sich selbst und zur Gemeinschaft baut sich auf, verborgener oder offener Selbsthass und sozialer Hass bis hin zur Bereitschaft, sich und andere zu töten (Kriegsbereitschaft), sind die Langzeitfolgen der pädagogischen Mentalität. 

Aus Kindern sind nach einer langen Reihe von Jahren der pädagogischen Verhexung dann Erwachsene geworden, die so sind, wie wir wurden: voll von großen und kleinen, offenen und verdeckten Minderwertigkeits- und Schuldgefühlen, abhängig vom Urteil anderer, mutlos, den eigenen Weg zu gehen, vorbeigeschleust am eigentlichen Leben.

Das alles lässt sich ändern. Amication ist ein Sonnenland.

 

 

 

Montag, 10. Oktober 2022

Paten

 

 

Meine Vorträge halte ich vor Eltern, aber es gibt Ausnahmen. Jetzt wurde ich von Menschen eingeladen, die als Pate einmal in der Woche für einige Stunden mit einem Grundschulkind Zeit verbringen. Über Monate und Jahre, Beziehungen bauen sich auf, ein großes Engagement. Ich bin gerne zu ihnen gefahren und hielt meinen Vortrag. Aber ich merkte im Lauf des Abends, dass es diesmal irgendwie anders war als sonst.

Zunächst einmal erinnerte mich die Patenschaft an meine Forschung, als ich herausfinden wollte, ob „unterstützen statt erziehen“ funktioniert (was es tat). Dabei traf ich mich wie die Paten auch einmal in der Woche mit Kindern einen Nachmittag lang, und wir unternahmen das, was sich so ergab. Ich war damals also wie die Paten nicht als Eltern/Vater unterwegs und erlebte die Kinder als „Gast im Kinderland“.

Nach dem Abend ging mir durch den Kopf, dass die Paten ja genau so wie ich damals nicht in die Eltern-Kind-Beziehungen verstrickt sind und viel mehr Spielraum für die Kommunikation haben. Unbeschwerter, offener, verletzungsfreier. Mit großer Chance auf ein Vertrauen, das die Kinder nicht unbedingt ihren Eltern entgegenbringen. Aber Paten.

Die Thematik „Würde“ und „Achtsamkeit“ ist für die Paten kein großes Thema. Sie engagieren sich ja gerade deswegen, um die Würde der Kinder zu stützen und um ihnen bedingungslose Achtsamkeit zu schenken. Mit „Würde“ und „Achtsamkeit“ sind sie vertraut, das können sie. Ich zeige an den Abenden einen bestimmten Weg dorthin. Den Weg, den ich herausgefunden habe und den ich „unterstützen statt erziehen“ nenne.

Ich denke, dass ich an einem Punkt nicht aufgepasst habe. Die Paten hörten mich dauernd von etwas sprechen, was ihnen ein selbstverständliches Anliegen ist: Würde und Achtsamkeit. „Was will er denn eigentlich? Das machen wir doch längst!“ war die Stimmung. Die ich zwar mitbekam, aber nicht merkte, wieso da so ein Unverständnis war.

Ich sprach sie eben als Eltern an. Die sie heute Abend aber nicht waren: Als Eltern, die mit Würde und Achtsamkeit ein großes Problem haben und die mir da sehr genau zuhören. Sie aber waren Erwachsene, die die Würde- und Achtsamkeitsproblematik nicht haben – sie realisieren Würde und Achtsamkeit an den Nachmittagen mit den Kindern. Was bei den Eltern in ihrer Alltagsverstrickung und ihrem Alltagsstress mit den immer eben auch anstrengenden bis sehr anstrengenden Kindern schon ein großes Thema ist.

Da habe ich die Paten verfehlt. Ich hätte ihnen verdeutlichen können, dass es bei aller gelebter Würdesicht und Achtsamkeit noch etwas zu entdecken gibt. Dass bei aller Würde und Achtsamkeit die Gleichwertigkeit entweder fehlen oder dabei sein kann: Die Begegnung von Souverän zu Souverän. Man kann ja auch gutmeinend und liebevoll, würdewahrend und achtsam sein und dennoch gleichzeitig von oben nach unten mit den Kindern umgehen. Motto “Bei aller Würde und Achtsamkeit – Du bist ein Kind, wirst erst ein vollwertiger Mensch, und ich bin (auch in diesen wenigen Stunden) für Dich verantwortlich. Das kannst Du noch nicht selbst sein. Ich weiß besser als Du, was für Dich gut ist.“

Oder man ist als Pate eben nicht von oben nach unten mit den Kindern unterwegs, sondern amicativ, postpädagogisch, jenseits der Erziehung. Liebe, Würde, Achtsamkeit ohne subtile pädagogische Herabsetzung mit all den destruktiven Folgen.  „Was soll denn das sein?“ – diese Frage und Fragehaltung und Neugier waren nicht im Raum. Und ich war nicht sensibel genug, das unausgesprochene Unverständnis gut zu handhaben. So habe ich mich zwar mit Nachdruck bemüht, den Paten klarzumachen, was ich eigentlich im Sinn habe – aber meine Bemühungen rauschten an ihnen vorbei. Weil ich den Anknüpfungspunkt verpasste.

Die Liebe, Würde, Achtsamkeit ist in meinen Vorträgen nicht das wirkliche Thema. Sondern die Gleichwertigkeit und Souveränität. Auch Herr Taliban liebt seine Frau, sieht ihre Würde und ist achtsam – aber gleichwertig und souverän? „Das ist sie nicht.“ Sehen die Paten die Kinder gleichwertig und souverän?

Na ja, hätte hätte Fahrradkettte... Es gab am Schluss jedenfalls Beifall – aber ich hatte diesmal nicht so ein gutes Gefühl wie sonst und kam auf der Rückfahrt ins Grübeln. Außerdem: man weiß ja nie, was letztlich passiert. Im Leben und bei so einem Vortrag. Eine Patin freut sich doch auf mein neues Buch*, das ich ihr schenken will – um alles noch einmal nachlesen zu können...




* Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen“. Ab November 2022

Montag, 3. Oktober 2022

Petra, zehn, selbstbewusst - vor 80 Jahren


 

Neulich fand ich im Regal ein altes Kinderbuch von der norwegischen Schriftstellerin Barbara Ring (1870-1955): "Petras Reise"*. Es geht um zwei Mädchen, Petra und Ulla, zehn und neun, die mit Petras Großvater von Norwegen nach Kopenhagen fahren. Eines Tages fährt Petra mit ihrer Cousine Ullla allein zum Theater, sie wollen einen Schauspieler besuchen, den sie am Abend vorher im "Sommernachtstraum" bewundert haben.

Als sie endlich zurückkommen, kriegen sie was zu hören. Der Großvater ist echt sauer. Genau so wie der Vater von Ulla, bei dem sie in Kopenhagen wohnen. Ullas Mutter ist dort gerade im Krankenhaus.

Ich hatte mir das Buch vorgeholt und war wirklich erstaunt, wie Barbara Ring vor 80 Jahren das Mädchen in der Szene darstellt. Ich bin beeindruckt, und will das Gespräch vom erzürnten Großvater und dem nicht minder angefassten Vater von Ulla mit Petra gern wiedergeben.

*

Da rief Großvater plötzlich glückstrahlend: „Sie kommen! Da, seht, da!“

Da kamen sie im Eilmarsch über den Platz. Petra voran, und Ulla, sich krampfhaft an ihrem Kleide festhaltend, hinterher.

Wie der Sturmwind ging's – an Straßenbahnwagen vorbei, zwischen Autos, Wagenrädern und Pferdehufen hindurch, so dass Großvater vor Angst beinahe das Herz stillstand.

Ullas Vater kam ihnen entgegen und nahm eine an jede Hand.

Wie konntet ihr nur so etwas tun und uns so furchtbar erschrecken?“ zankte er. „Nun ist es zu einem Besuch bei Mama fast zu spät.“

Ulla begann sofort laut zu heulen.

Natürlich bist einzig und allein du auf diesen unmöglichen Gedanken gekommen“, sagte er böse, zu Petra gewandt.

Jawoll“, erwiderte Petra seelenruhig.

Du bist ein schreckliches Kind!“ fuhr Ullas Papa streng fort. „Schäme dich, den alten, guten Großvater so in Angst zu versetzen!“

Bist du wirklich bange gewesen, Großvater? Du wusstest ja, dass ich mit war und auf sie aufpasste“, sagte Petra.

Und sie blicke mit großen, zuversichtlichen Augen zu Großvater empor. Es fiel ihr keinen Augenblick ein, dass man sich auch um eine andere als um Ulla geängstigt haben könnte.

Es war aber nicht Pe- Petras Schuld, sie sagte, ich sollte zu Hause bleiben“, schluchzte Ulla.

Doch, ich hatte Schuld“, sagte Petra. „Aber das ist ja nun ganz einerlei, wir sind ja nun glücklich wieder hier.“

Nein, das ist nicht einerlei, meine liebe Petra“, erklärte Großvater. „Ich verbiete euch auf das Strengste, je wieder allein einen Fuß auf die Straße zu setzen.“

Du hattest es aber nicht verboten“, sagte Petra.

Nein, denn ich glaubte, ihr wäret groß und vernünftig genug, um das selbst einzusehen.“

Ja, du weißt ja, dass ich zu Haue immer so allein losgehe“, sagte Petra mit unverwüstlicher Ruhe.

Mag sein. Hier ist dir das aber nicht erlaubt, hast du verstanden? Wo seid ihr übrigens gewesen?“

Wir waren bei Puck. Es war aber nur Beschummelei, denn er war eine Dame. Und seine Haut hing in einem Schrank. Deshalb gingen wir gleich wieder weg; aber wir kriegen sein Bild, und sie soll unseres haben, und sie sagte, das machte nichts, wenn du da mit drauf wärst, Großvater."

Ihr seid im Theater gewesen? Und habt einer fremden Schauspielerin mein Bild versprochen?“ fragte Großvater entsetzt.

Nee, nicht deines, unseres! Aber es mache nichts, dass du da mit drauf wärst, verstehst du wohl?“ sagte Petra, ohne sich anfechten zu lassen.

Großvater aber schüttelte den Kopf und fasste in seinem Innerem den Beschluss, dass aus dem Fotografieren „mit ihm da drauf“ nichts werden sollte...



* Barbara Ring, "Petras Reise. Stuttgart 1939. S. 58ff.