Montag, 26. Juli 2021

Sommerferien




Ich bin in den Sommerferien, der nächste Post kommt Mitte September. Habt alle eine schöne Zeit!

Montag, 19. Juli 2021

Die Abschlussrede

 

 


Überall beginnen die Sommerferien, und viele Kinder werden aus der Schule entlassen. Als ich Lehrer war, wurde ich einmal von einer Klasse zur ihrer Abschlußfete eingeladen. Aus meinem Schultagebuch:

*

Heute ist Abschlußfete der 9. Klasse, zu  der ich eingeladen bin. Ein Picknickplatz im Wald. Es sind außer mir nur noch zwei Kollegen da, die anderen wollten nicht. Viel Reden, viel Kontakt, viel "einfach so".

Nach drei Stunden, als alle im Kreis sitzen, fängt Mani an und liest seine Abschlußrede vor, mit vielen Kommentaren und Zurufen. Sie ist nicht für Eltern oder Lehrer gemacht, sondern für seine Leute. Was ich höre, geht mir sehr nahe: Er sagt das, was ich über die Situation der Kinder in der Schule herausgefunden habe. Was aber nur verschwindend wenige von den Erwachsenen, die in der Schule arbeiten, als die Realität der Kinder bemerken. Für die anderen ist eine solche Aussage nur "dummes Kindergerede".

Ich spüre, dass das, was so leicht dahergesagt wird, wirklich ihre Erfahrung ist, ihre Wahrheit eben. Sie gehen alle mit der Rede leicht um. Aber es wird deutlich, worum es geht. Um tiefes Verletztsein. Umd um Betrogensein um die Jahre, die sie in der Schule verbringen mussten. Die Rede ist die Wahrheit der Kinder.

Mani verbrennt seine Rede im Lagerfeuer. Ich bitte ihn dann, sie noch einmal für mich aufzuschreiben. Er tut es gern, und die anderen helfen ihm dabei. Als ich von Veröffentlichung rede und ihn frage, ob er einverstanden sei, ist das für ihn in Ordnung. Aber ich merke auch, dass ihn das gar nicht mehr so interessiert. Es ist doch alles so klar. Und: Sie stehen vor Neuem ...


            Die Abschlußrede

            Freunde, es ist geschafft.
            Neun lange Jahre sind vorbei.
            Mein herzlichstes Beileid möchte
            ich allerdings all denen wünschen, die
            noch länger in den sogenannten Schulen
            gefoltert werden.
            Die letzten neun Jahre waren die schlimmsten
            in unserem Leben.
            Und werden es wohl auch bleiben.
            Die Pauker haben uns dermaßen geschafft,
            dass manche einer sie gern vor ein Kriegsgericht
            stellen möchte.
            Ich bin auch dafür, dass die Schulen, die Gebäude
            des Schreckens -
            Schule, das Wort, das bei Kindern wie ein Brechmittel
            wirkt -
            abgeschafft werden.
            Aber nein, die Schulen werden noch von Staat
            unterstützt.
            Doch freut Euch, die Ihr es geschafft habt.
            In Zukunft dürft Ihr mit Euren Bossen über Lohn-
            erhöhungen und seine Tochter streiten.
            Freut Euch, es wird eine herrliche Zeit.
            Vergesst all das Böse, was Euch in der Schule geschah.
            Haltet die Ohren steif.
            Tschüs!
         

Montag, 12. Juli 2021

Die Krocketkugel

 

 

Nach der Beeerdigung der Urgroßmutter sind wir zusammen im ihrem Haus mit großem Garten. Die Erwachsenen in Gesprächen und Erinnerungen bei Kaffee und Kuchen, die Kinder spielen Krocket auf der Wiese unter den Apfelbäumen. Das Krocketspiel ist uralt, schon wir Kinder haben damit gespielt.

Auf einmal kommt Miriam (8) zur Kaffeerunde. "Schaut mal, die Kugel ist kaputt gegangen, genau in der Mitte durch. Ich hab wohl zu fest draufgeschlagen". Fröhlich hält sie die beiden Hälften der gelben Krocketkugel hoch. Nach einer kurzen erstaunten Schweigesekunde gehen die Gespräche weiter. Aber ich höre doch noch den einen Satz aus dem Erwachsenenstrom, der an Miriam gerichtet ist:

"Da wollte die Urgroßmutter wohl nicht, dass Du mit ihrer gelben Lieblingskugel spielst."   

Miriam erstarrt, sagt nichts und läuft zurück zum Spiel auf der Wiese.

Echt jetzt, das geht doch wohl gar nicht! Auch ich bin erstarrt. Was soll denn so ein Satz mit dem Kind machen? Locker dahergesagt, scherzhaft gemeint, aber ohne Scherzton gesagt, ernsthaft, einfach absurd. Was gräbt sich da in die Seele und in das Gedächtnis ein? Ich bin angefasst, sage erst nichts und mache dann Miriams Mutter darauf aufmerksam, dass da etwas gewaltig aus dem Ruder gelaufen ist. Später sehe ich, dass sie mit Miriam darüber spricht.

Ich will aber sofort gegensteuern. Das Spiel ist bald zu Ende, ich hole Miriam: "Komm, wie reparieren die Kugel." Ich habe Holzleim geholt. Miriam streicht auf die eine Hälfte vorsichtig die weiße Heilsalbe, sie drückt die Hälften aufeinander, ich wickle Klebestreifen drumrum. "Morgen ist die Kugel wieder okay", sage ich. Miriam strahlt. "Das hab ich ja nicht extra gemacht", sagt sie. "Klar doch, natürlich nicht", sage ich. 

Und ich sage noch etwas: "Weiß Du, die Kugel ist uralt, das hätte mir genauso passieren können. Und der Satz vorhin, dass Urgroßmutter nicht will, dass Du damit spielst, war Banane. Sie freut sich bestimmt, dass Du ihre Kugel hattest und dass wir sie repariert haben." Miriam sieht mich von innen an, blickt erleichtert und trollt sich. Und ich wünsche, dass die weiße Salbe auch die Schramme in ihrer Seele heilt.


Montag, 5. Juli 2021

Das Wiederfinden der psychosozialen Macht

 

 

Die Erkenntnis, dass die Verantwortung für das, was sich psychisch in einem Menschen ereignet, bei diesem selbst liegt, bedeutet neben vielem anderen auch, dass niemandwirklich psychisch gezwungen werden kann, zu nichts. Wie man die Welt und ihre Erscheinungen deutet, bewertet und gewichtet, ist einzig die Sache des einzelnen. Ob ein Freiheitskämpfer dem Exekutionskommando entgegenruft "Es lebe die Revolution!" oder ob er apathisch und demoralisiert auf das Ende wartet - das ist seine Sache, seine Verantwortung für sich.

Eine Kultur, die Herrschaft zur Grundlage hat, muss den Menschen diese gesellschaftlich hochwirksame Potenz nehmen. Denn nur der ist beherrschbar, der dem Beherrschtwerden auch zustimmt, der sich auch unterwerfen will. Es gibt immer gute Gründe, lieber seinen Nacken zu beugen als sich den Kopf abschlagen zu lassen - aber ein jeder hat tatsächlich die Wahl zu leben oder zu sterben, jeden Augenblick. Es ist immer die Frage, wo man für sich den größeren Vorteil erkennt. Hierüber trifft man selbst die Entscheidung, niemand sonst.

Es ist leicht, Menschen zu beherrschen, die das Gefühl für ihre Selbstverantwortung verloren haben, die daran gewöhnt sind, andere für ihr Schicksal verantwortlich zu machen: die Eltern, die Gesellschaft, die Verhältnisse. Das Wiederfınden der Selbstverantwortung bedeutet im gesellschaftlichen Bereich das Wiederfinden der psychosozialen Macht des einzelnen. Es ist dies eine Macht, die durch nichts wirklich ausgehebelt werden kann und die jedem, der herrschen will, seine Grenze zeigt.