Montag, 29. April 2019

Abenteuerland, Gleis Neun









"Kommst Du mit Deinem Enkel mit in den Zoo?" wurde ich neulich gefragt. Einige Tage später sah ich, wie eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter in ein Akrobaten-Varieté ging. Eltern nehmen ihre Kinder mit auf Abenteuer. Nicht, weil es sein muss (wie in abenteuerlichen Lebensumständen), sondern - warum eigentlich?

Ich bin mit meinen Kinder oft in den Wald gegangen, unser Abenteuerland. Auch in den Zoo, Zirkus, Kino, Badesee, Konzert, usw. Was schwingt da mit und was soll das? Das Leben für uns Erwachsene ist meistens straff organisiert, Verstecke und Nischen gibt es kaum. Mit den Kindern unterwegs sein ist offener, nicht so durchgestylt, nicht so wirklich berechenbar. Mit Einladung zum Chaos, zur Pause, zum Abenteuer. Die Kinder im Schlepp - das öffnet. Lässt sich nicht vermeiden, gehört dazu. Wenn Kinder dabei sind, sind alle Planungen nur solche auf Abruf.

Kinder fallen hin und brauchen Pflaster. Kinder haben Hunger und Durst. Kinder rennen hierhin und dorthin. Kinder weinen und lachen. Kinder hören weg und woanders hin. Kinder quengeln und widersetzen sich. Kinder fassen Hunde und Katzen an. Kinder ignorieren (Erwachsenen)Regeln und stellen eigene auf. Kinder beschmieren und bekleckern sich. Kinder kichern und schreien. Kinder rennen weg und platzen rein. Kinder sollen folgen und tuns nicht. Kinder sehen unordentlich aus und sind dreckig. Kinder machen keine Hausaufgaben sondern hängen am Handy.  Kinder gehen barfuß und ins Wasser. Kinder amüsieren und nerven. Kinder sind einfach nicht erwachsen.

So viele Unwägbarkeiten, so viele Fluchtwege, so viele verbotene Früchte, so viele Einladungen des Lebens. Und dem geben wir nach, gebe ich gerne nach, lass mich an die Hand nehmen: ins Abenteuerland. Klar, ich organisier den Einstieg. "Wir fahren in den Wald", "Heute Zoo, ok?", "Wir gehen ins Varieté". Aber der Impuls und der Schwung, das überhaupt in Erwägung zu ziehen, anzuzetteln und zu machen: Der kommt aus der Resonanz mit den Kindern. Es ist das Ding: gehe ich allein los? Weniger. Ich zieh mit den Kindern los. Ich höre ihr unausgesprochenes Summen: "Was machen wir heute?" Sie kommen schon klar, sie haben ihr Abenteuer, ihr Kinderleben ist ein einziges Abenteuer. Aber da kommt war rüber, bei mir an, lässt mich einschwingen. Und dann nehme ich sie in meine Spielwiesen mit, meinen Wald, Zoo oder Varieté.

Wenn ich gelegentlich meinen dreijährigen Enkel von der Kita abhole, gehen wir immer ein Stündchen zum Bahnhof, Bahnhof Altona. Gleis Neun. Bis gaaanz nach vorn, da, wo niemand mehr ist. Die rote Lok. Die schwarze Lok. Der blaue Zug. Der grüne Zug. Der weiße Zug. Der rote Zug. Es kommt einer. Es fährt einer. Der Lokführer. Der Kinderwagen. Die Stolperplatten. Signal rot. Signal grün. Einsteiger. Aussteiger. Mülltrennboxen. Wartehäuschen. Schaltkasten. Prellbock. Vornwind. Hintenwind. Vornsonne. Hintensonne. Zugbegleiter. Müllsammler. Ansagestimme. Das ganze Ambiente - reines Abenteuerland. Ich esse meinen Hamburger (nur das Fleisch, ohne die Pappe), er sein Schokoeis (im Becher mit Waffel). Das besorgen wir vorher, und dabei gerate ich in die Vorfreude: gleich verlassen wir die Leute, verlassen die Realität, biegen vom Hauptweg ab, ins Gleis Neun...





Montag, 22. April 2019

Anketten im Reichstag II





 

























Fortsetzung vom 15.4.

Ungute Gefühle, die durch die Forderung nach dem Wahlrecht für Kinder ausgelöst werden, lassen sich kaum argumentativ ausräumen. Es ist sinnvoller, sie als emotionale Realität anzuerkennen. Es kommt auch nicht darauf an, Einwände und Bedenken kleinzureden und wegzudiskutieren, sondern sie aus der eigenen Position heraus zu beantworten. Welche Überlegungen stützen das Wahlrecht für Kinder? 10 Beispiele:

1.  Kinder werden auf neue Weise von den Erwachsenen ernst genommen. Politische Entscheidungen werden immer auch mit Blick auf die Wähler getroffen. Wie reagieren die Wähler, die unter 18 Jahre alt sind? Diese Frage ist gänzlich neu, und erst sie führt dazu, Kinder tatsächlich ernst zu nehmen und bei den politischen Entscheidungen überhaupt zu berücksichtigen. Nicht aus Großzügigkeit, sondern aus Notwendigkeit. Die Kinder haben jetzt Macht – gesellschaftliche, politische Macht. Allein ihre Stimmzettel verleihen ihnen dieses Gewicht. Es ist durch nichts zu ersetzen. Großzügigkeit und Freundlichkeit können jederzeit widerrufen werden. Gegen die Macht, die aus den Stimmzetteln kommt, gibt es jedoch kein Mittel.

2.  Es gibt einen psychologischen Durchbruch für die Kinder. Wenn Kinder politisch gleichwertig sind und einige Male an Wahlen teilgenommen haben, wird man ihnen mit einer anderen Achtung begegnen. Im Einkaufszentrum, im Bus, im Schwimmbad erlebt man dann nicht unmündige Kinder, sondern Wahlbürger. Wahlbürger Kind. Von der psychologischen Aufwertung für die Kinder selbst ganz abgesehen. »Ich bin nicht unwichtig – ich bin wichtig. Ich entscheide mit. Meine Stimme zählt.«

3.  Kinder verstehen viel von Politik. Zunächst: Es ist nicht notwendig, etwas von Politik zu verstehen, wenn es um das Selbstbestimmungsrecht und das Wahlrecht geht. Die Bürger entrissen dem König die Macht nicht deswegen, weil sie nachweisen konnten, dass sie mehr von Politik verstehen als er, sondern weil sie über ihr politisches Schicksal selbst bestimmen wollten. Die Legitimation kommt nicht aus dem besseren Verständnis von Politik oder aus irgendeiner Unterweisung in gesellschaftliche Zusammenhänge, sondern aus der demokratischen Idee: Dass die Macht nicht für einen oder für wenige reserviert ist, sondern dass alle Anteil an der Macht haben – alle ohne jegliche Einschränkung. Die Forderung, Kinder müssten etwas von Politik verstehen, ehe sie wählen können, und 18 Jahre oder vielleicht 16 Jahre wäre da die äußerste Grenze, ist eine zutiefst undemokratische Position. Diese Forderung trägt diktatorische Züge, das Verlangen nach Herrschaft und Unterordnung ist offensichtlich. Das »Davon verstehst du nichts« ist ein Abwehrargument, um die Macht nicht zu teilen.

Kinder müssen also nichts von Politik verstehen, um Anteil an der politischen Macht zu haben. Dennoch aber verstehen sie viel von Politik: Humanität, Toleranz, Kreativität, Sensibilität, Fairness u. a. sind wichtige konstruktive Eigenschaften für die Politik. Von diesen gesellschaftlichen Basisfaktoren verstehen Kinder eine Menge, und es ist so, dass Erwachsene über dieses politische Wissen viel von ihnen lernen können. Und von den tagespolitischen Fragen versteht der eine mehr, der andere weniger – so, wie das bei den Erwachsenen auch ist.

4.  Versuche, Kinder zu verführen, laufen ins Leere. Denn die Konkurrenz schläft nicht. Sie deckt solche Versuche auf, und dann revanchieren sich die Kinder mit Wahl der Konkurrenz. Welche Chance hat denn ein politischer Verführer in einer Zeit, die demokratisch geprägt ist und in der destruktive und faschistische Tendenzen enttarnt werden? Die Inhumanität und der Totalitarismus politischer Verführer sind leicht zu durchschauen angesichts realer Machtbeteiligung durch demokratische Wahlen. Demokratie – erlebte, erfahrene Demokratie – ist die beste Waffe gegen jede Diktatur und jeden Verführungsversuch.

Wenn Kinder aber in einer Diktatur leben – dann nämlich, wenn sie das Wahlrecht nicht haben – , kommt es nur auf den Verführer mit den größten Versprechungen an. Die Sorge vor der Verführbarkeit der Kinder spiegelt die Ängste der Erwachsenen, die in der eigenen Kindheit einer ausweglosen Diktatur ausgesetzt waren: Sie mussten den damaligen Erwachsenen folgen, ohne Recht. Sie lernten folgsam zu sein und allen Sprüchen zu glauben. Die Kinder des demokratischen Zeitalters jedoch kennen ihre Macht. Sie können sich ihre Sensibilität für Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit bewahren, denn sie bestimmen selbst über ihr Schicksal. Kinder, für die Demokratie Realität und ein gewachsener Wert ist, werden sich mit Abscheu von diktatorischen Zumutungen und politischen Verführungen abwenden.

5.  Kinder sind sensibler als Erwachsene für Fairness und Wahrheit. Die Versuche, die Wähler zu hintergehen, zahlen sich bei den Kinderstimmen nicht aus. Politische Tugenden sind in Bezug auf diese Wählergruppe viel effektiver, und Politiker werden insgesamt in eine positive Richtung diszipliniert, wenn Kinder über Wahlstimmen verfügen. Sie quittieren unerbittlicher als Erwachsene Unfairness, Lüge und Gemeinheit mit Abwahl.

6.  Die Wahlreden werden verständlich. Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland 15 Millionen Menschen unter 18 Jahren. Selbst wenn nur 20% zur Wahl gehen sollten, sind das noch 3 Millionen Stimmen. Daran kommt kein Politiker vorbei. Er muss so reden, dass er auch von diesen Wählern gut verstanden wird. Es gibt kein Problem aus Politik und Gesellschaft, das man nicht auch Kindern verständlich machen kann. Die Ausrede von der Kompliziertheit der Sachverhalte überzeugt nicht länger, die Konkurrenz hat nämlich den Politiker, der die Dinge auch den Kindern erklären kann. Das gilt nicht nur für Wahlreden, sondern allgemein für die Kommunikation zwischen Gewählten und Wählern, und das tut der gesamten politischen Kultur gut.

7.  Die Wahlprogramme werden zugunsten der Kinder umgeschrieben. Alles, was dem Interesse der Kinder dient und einen Stimmengewinn durch die Kinder verspricht, wird nun ernsthaft thematisiert und diskutiert und in die Programme der Parteien aufgenommen. Zum Beispiel Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Ortschaften, giftfreies Spielzeug, körpergerechte Schulmöbel, arbeitsfreie Wochenenden der Eltern, Umgestaltung des Schulwesens, funktionierender Lärmschutz, kinderfreundlicher Haus- und Wohnungsbau bis hin zu Treppengeländern für Kinder, kindgerechte Gestaltung öffentlicher Räume, phantasievolle Spielplätze, flächendeckende Jugendzentren, adäquate Einstiegsmöglich­keiten in Bus und Bahn auch für Kinder. Viele Dinge, für die engagierte Eltern im Interesse ihrer Kinder bislang erfolglos auf die Straße gehen, werden plötzlich realisiert, als hätte es nie etwas anderes gegeben. Durch das politische Gewicht der Kinder wird sich etliches ändern – sicher nicht zu unser aller Nachteil.

8.  Es gibt mehr Respekt und Toleranz Kindern gegenüber. Wahrscheinlich unterscheiden sich Kinder in ihrem Wahlverhalten kaum von dem der Erwachsenen. So wie die Frauen insgesamt kaum anders wählen als die Männer. Vielleicht sind Kinder aber auch bestimmten Trends und bestimmten Personen eher zugewandt als Erwachsene und wählen Parteien und Politiker, von denen kaum jemand sonderlich begeistert ist. Doch wie auch immer: Am grundlegenden Recht auf politische Selbstbestimmung des jungen Menschen hat niemand herumzudeuten, es kommt ihnen zu wie jedem anderen Menschen. Auch wenn Kinder das wählen, was einem gerade nicht passt: Es gilt und es muss als Realität zur Kenntnis genommen werden. Erwachsene  lernen durch das Wahlrecht für Kinder, auch die von ihren Auffassungen abweichende Meinung der Kinder zu respektieren und zu tolerieren.

9.  Erwachsene werden zu einer gänzlich neuartigen Einstellung und Beziehung zu Kindern gelangen. Die Politiker werden bemerken, dass die Pädagogik die Kinder unrealistisch sieht. Sie werden erkennen, dass Kinder bereits vollwertige Menschen sind und nicht erst dazu gemacht werden müssen. Die gesamte Forschung wird neu konzipiert, denn wer die Realität des Kindes tatsächlich erfasst, hat das erfolgreichere Wahlprogramm und gewinnt die Wahl. Nicht mehr pädagogische Lehren werden die Beziehungen zu Kindern bestimmen, sondern die Kinder selbst werden die Erwachsenen lehren, wie sie die Kinder richtig ansprechen können und wie Kinder ihre Beziehungen mit den Erwachsenen gestalten wollen. Wer dem nicht folgt, verliert seinen gesellschaftlichen Einfluss – denn die Konkurrenz, die sich auf diese Realität einstellt, gewinnt die Wahl.

Die neuen Machtverhältnisse sehen die Kinder als Machtpartner, gleichberechtigt neben den anderen Gruppen der Gesellschaft. Die politische Emanzipation bewirkt unaufhaltsam die Gleichwertigkeit auch in den menschlichen Beziehungen. Es wird sich herausstellen, dass nicht Erziehung, sondern Beziehung angemessen ist, wie stets, wenn Menschen auf einer gleichen Stufen miteinander leben. Die Erwachsenen erleben in Kindern Menschen, die sie nicht missionieren müssen, sondern die ihnen tatsächlich gleich sind und auf die sie sich stützen können, gesellschaftlich wie privat.

10.  Die Gesellschaft braucht die Kinder als politische Macht. Kinder werden immer als Hoffnung, als Zukunft gesehen. In der Literatur. Im Kindergarten. In der Schule. In Festvorträgen. Jetzt wird diese Hoffnung gesellschaftliche Realität. Die Alltagspolitik – das Ringen darum, wie alle zusammen leben – wird erweitert und korrigiert. Es ist eine große Chance der Menschheit, die Kinder an der Gestaltung der Welt wirksam zu beteiligen. Und es ist vielleicht die letzte Chance. Angesichts der atomaren Gefahr und der drohenden Vernichtung der Lebensgrundlagen wird alles in die Waagschale des Lebens geworfen. Die Kinder werden Wege weisen, die zu gehen niemand bislang gewagt hat. Sie wählen die Partei, die kompromisslos den Hunger in der Welt beseitigt. Das als einziges Beispiel. Sie sehen die Welt aus der unverbrauchten Perspektive derer, die noch Jahrzehnte leben wollen – gesund und in Frieden. Und dies wird reale Politik.


aus: H.v.S., Kinder in der Demokratie: Wahlrecht für Kinder, 2001 (1981)


Montag, 15. April 2019

Anketten im Reichstag I

 


 


























Ich las in der Zeitung, dass die zwanzigjährige Politikstudentin Tracy Osei-Tutu sich in einer spektakulären Aktion mit sieben Gleichgesinnten in der Kuppel des Reichtags ankettete. Im TAZ-Interview vom 28.3. sagte sie hierzu:

"Ich wünsche mir, dass Kinder und Jugendliche aktiver Teil der Demokratie werden mithilfe eines Kinderwahlrechts und eines Jugendrats, der über die Zukunft wacht. Wir stellen uns ein Gremium vor, das die Interessen der Jugend auf  Bundesebene vertritt. Die Mitglieder sollen zwischen 14 und 28 Jahre alt sein. Wichtigster Hebel des Jugendrats ist das Zukunftsveto. Die junge Generation soll 'Stopp' sagen können bei Themen, von denen sie langfristig betroffen sind."

Kinderwahlrecht ab 14? Tja, denke ich, immerhin ein Schritt in die richtige Richtung. Es gibt grade so eine Aufbruchsstimmung, Fridays for Future...Ich will die Gelegenheit nutzen und wieder einmal grundsätzlich werden. Also poste ich Texte zum Wahlrecht für Kinder (aus meiner Literatur*).


***


»Wenn Du jemandem gestattest,
Dir Dein Wahlrecht zu nehmen,
so bist Du kein freier Mensch,
sondern ein Sklave.
Selbst im Namen der höchsten
Ideale der Brüderlichkeit
oder anderer Werte
kann Dir niemand
das Recht nehmen,
zu wählen, zu entscheiden,
etwas zu schaffen.
Das heißt,
frei
diejenigen zu wählen,
die über Dein Schicksal
regieren werden.«

Europarat: Du bist ein Mensch – Botschaft an die Jugend Europas (1978)


***


Wie einst Männer, Frauen und Schwarze von der politischen Macht ferngehalten wurden, so geschieht es heute noch mit den jungen Menschen. Mit dem Wahlrecht für Kinder wird kein neues Recht gefordert, das die Erwachsenen den Kindern geben. Dieses Recht ist von niemandem zu geben. Es ist unabhängig davon längst da, es kommt jedem von Geburt an zu. Aber andere können die Ausübung dieses Rechts behindern. Und genau dies geschieht mit Kindern durch das Grundgesetz in Artikel 38 Absatz 2: "Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat." Dies ist zu ändern!
In Artikel 38 Absatz 2 heißt es: »Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.« Dieser Artikel soll geändert werden. Es wird definitiv festgestellt: »Wahlberechtigt und wählbar sind Kinder, Jugendliche und Erwachsene; eine Einschränkung des Wahlrechts und der Wählbarkeit aufgrund des Alters gibt es nicht.« Der Absatz 2 des Artikels 38 könnte auch ersatzlos gestrichen werden. Doch es ist sinnvoll, die Gleichberechtigung des jungen Mitbürgers unübersehbar und unzweideutig in das Grundgesetz einzufügen.
Das Wahlrecht steht als politisches Persönlichkeitsrecht, als Menschenrecht jedem zu. Wann dieses Recht zur Anwendung kommt, wann man zur Wahl geht – darüber entscheidet ein jeder selbst, zu seiner Zeit. Der eine will mit 8 Jahren zur Wahl gehen, der andere mit 30 oder mit 80 Jahren. Sicher gehen nicht alle Achtjährigen zur Wahl und auch nicht alle Dreißigjährigen und nicht alle Achtzigjährigen, aber sie haben das Recht hierzu und könnten, wenn sie wollten, und niemand darf sie daran hindern. Darum geht es. Nur darum.

Demokratie ist nicht begrenzbar. Man kann nicht zu recht demokratische Rechte in Anspruch nehmen – als Mann, als Weißer, als Erwachsener – und sie dann anderen – Frauen, Schwarzen, Kindern – vorenthalten. Das ist der Kerngedanke, wie er in der demokratischen Tradition enthalten ist, und wie er auch im Grundgesetz stehen sollte.

Die Unfähigkeit zum Frieden hat ihre Wurzel auch in der Kindheitserfahrung, gegen die absolute Macht der Erwachsenen kein Recht setzen zu können, in einer Diktatur der Erwachsenen zu leben. Wenn erst mit achtzehn Jahren Demokratie erlebt wird, hat sich die Ohnmachtserfahrung der Rechtlosigkeit längst festgesetzt.

Auch der Einwand, man solle, wenn überhaupt, das Wahlalter nicht gänzlich aufheben, sondern an ein bestimmtes unteres Mindestalter binden, etwa an das Schuleintrittsalter, verkennt den Kern des Wahlrechts in der Demokratie. Denn die Überlegungen, die zu einem bestimmten Wahlalter führen, sind für alle, die ausgeschlossen bleiben, weiterhin voller Diskriminierung. Vor allem aber wird übersehen, dass es sich beim Wahlrecht um ein absolutes Recht handelt, das jedem von Geburt an zukommt, und dass hiervon zu unterscheiden ist, wann und wie von diesem Recht Gebrauch gemacht werden kann und wird.

Es wird immer die verschiedensten Gründe geben, sein Wahlrecht nicht auszuüben, auch wenn es einem zusteht. Das ist bei Kindern nicht anders als bei Erwachsenen. Es gibt bei Erwachsenen keinerlei Diskriminierung, ein jeder hat das Wahlrecht, wie immer er auch daherkommt und was immer auch dazu führt, dass er es nicht ausüben kann oder nicht  ausüben will. Keinem unkundigen, bewusstlosen, dementen, volltrunkenen oder sonst wie wahlunfähigen Erwachsenen wird das Wahlrecht je abgesprochen. Warum also Kindern?

Warum sollte das Gesetz für junge Menschen anders sein als für erwachsene Menschen? Es ist gerecht, praktikabel und schließt jede Diskriminierung aus, wenn es keine Altersgrenze gibt, wenn das »Wahlalter Null« existiert und es jedem überlassen bleibt, zu welchem Zeitpunkt er von seinem Wahlrecht Gebrauch machen wird.

Wenn Säuglinge und Kleinkinder nicht zur Wahl gehen, ist das kein Grund zur Diffamierung der Forderung, die Wahlaltersdiskriminierung abzuschaffen. Die Selbstverständlichkeit, dass Säuglinge und Kleinkinder sich wahrlich nicht mit politischen Dingen beschäftigen, muss nicht in den Perfektionismus münden, die »wirkliche« Altersgrenze für das Wahlrecht zu definieren. Niemandem schadet es, wenn die untere Altersgrenze nicht gezogen wird. Und ist es so schwer zu erkennen, dass es nicht darum geht, mit dem Wahlrecht für Kinder die Wirklichkeit abenteuerlich zu verbiegen, sondern nur darum, jedem ohne Einschränkung die politische Selbstbestimmung offen zu halten, wann immer er von diesem Menschenrecht Gebrauch machen will?

Die Erwachsenen haben mit Wahlgesetzen dafür zu sorgen, dass ein Kind auch tatsächlich von seinem Wahlrecht Gebrauch machen kann, wenn es das will. Dass Kinder den uneingeschränkten Zugang zu Wahlveranstaltungen haben wie Erwachsene. Dass sie an die gewünschten Informationen herankommen. Dass Eltern sich dem politischen Engagement der Kinder nicht in den Weg stellen. Dass Kinder in einer druck- und angstfreien Atmosphäre wählen können. Dass niemand sie daran hindert, wenn sie zum Wahllokal gehen wollen.

Das alles sind große Aufgaben und Pflichten, und es wird erheblicher Anstrengungen der Erwachsenen bedürfen, bis die Demokratie auch für Kinder Realität ist. Und dies geht bis in die Details: Dass die Schreibpulte in den Wahlkabinen sowohl für große als auch für kleine Menschen geeignet sind. Dass jemand, der noch nicht lesen kann, eindeutige Symbole auf den Wahlzetteln vorfindet. Dass die Wahlurnen so niedrig aufgestellt werden, dass ein Kind seinen Wahlschein ohne Mühe hineinwerfen kann...

Fortsetzung folgt.



* aus: H.v.S., Kinder in der Demokratie: Wahlrecht für Kinder, 2001 (1981)

Montag, 8. April 2019

Die Wanne: erklären und erklären








"Es ist doch gut, wenn man alles erklärt. Immer wieder. Das hab ich von Anfang an gemacht. Aber jetzt sind die Zwillinge in der Schule und wollen endlos diskutieren. Ich bin oft an meiner Grenze. Manchmal schaue ich nachdenklich zu anderen Eltern und werde neidisch. Die ordnen einfach an: Ab in die Wanne! Das klappt dann auch. Bei mir gibts da endlose Diskussionen. Aber das ist doch richtig. Was meinen Sie?"

Mit diesem ausuferndem Eingehen auf die Kinder habe ich nichts im Sinn. Mit Diskussionen schon. Aber im Rahmen. Den setze ich. Die Wanne muss eben sein. Wie zig andere Sachen auch. Sie muss sein, weil ich das so will. Weil ich das richtig finde. Weil ich nicht der Dackel meiner Kinder bin.

Die Kinder sind schon die Gelackmeierten. Klarer Fall. Sie wollen keine Wanne, aber ich. Ich versuche, sie mitzunehmen, achtsam mit ihren Wünschen umzugehen, wie das heute so schön heißt. Aber eben im Rahmen, in meinem Rahmen. Und ich habe die Macht: die Wanne gehört mir, und die Kinder - auch. Nicht wirklich, schon klar. "Also rein mit Euch!" Pronto!

Diese ganze Verschleierungssalbaderei der modernen Pädagogik und der sensiblen neuen Eltern: Das rauscht doch gnadenlos an der Realität vorbei. Und das ist auch einfach extrem anstrengend. Die Mutter wird neidisch. Welcher Lehre ist sie da aufgesessen? So einer Mischung aus achtsam, antiautoritär, seelenheilkundig. Na ja, solche Eltern gibt es zuhauf. Aber diese Mutter fragt mich ja, sie ist am Limit, sie sucht Hilfe. Was kann ich ihr geben?

Ich halte ihr nicht meine Position unter die Nase. Das ist ja Feindbild und geht nicht für sie. Ein "Ab in die Wanne!" ist nicht ihre Welt. Ich versuche lieber, ihr einen versöhnlichen Gedanken zu zeigen, einen, der sie mit sich selbst in Frieden bringt.

Ich sage zu ihr: Sie sind halt eine Erklärerin. Solche Eltern gibt es. Bei jeder Elternart gibt es Leichtes und Schweres. Es gibt nicht eine Art, die immer nur Lächeln und Folgsamkeit erreicht. Es gibt die Gegensätze - Wanne ja / Wanne nein - , und es gibt verschiedene Arten, damit umzugehen. Man kann im Elternklub der Diskutierer sein ("Schau mal ..."), oder der Anordner ("Rein da!"), oder der Nachgeber ("Ok, heute keine Wanne"), oder der Schlaumeier (So wie die heute drauf sind, wird geduscht), oder der Abgeber ("Mach Du das mit den Kindern"). Und so weiter.

Sie wissen ja, wo Sie da unterwegs sind. Also. Dann diskutieren Sie. Auch endlos. Und stopfen die Kinder schließlich auch gegen deren Willen ins Wasser. Und jetzt kommt das, was ich Ihnen sagen will: Dabei müssen Sie absolut kein schlechtes Gewissen haben. Sie tun doch, was Sie können. Sie erhalten aber keine Zustimmung zu Ihren Argumenten. So ist es. Aber: Sie wollen doch den eigenen Kopf Ihrer Kinder. Den haben Sie bekommen. Der sagt zwar Nein zu Ihrem Begehren. Aber: Er ist da. Ihre Kinder steigen mit ihrem eigenen Kopf ins Wasser. Unzufrieden, gezwungen, wütend - aber mit ihrem eigenen Kopf.

Sie wünschen sich das Zaubermittel, dass die Kinder tun, was Sie gern hätten. Das gibt es, das gibt es nicht. Wie es kommt. Und wenn Sie kein "Ja Mama" bekommen, dann leiden die Kinder. Das lässt sich nicht verhindern.

Ich sage es ihr noch einmal. Eindringlich: "Das lässt sich nicht verhindern". Ich weiß, dass Eltern wie sie genau das aber als inneren Auftrag mit sich rumschleppen: Dass kein Leid/Ärger/Wut/Ungemach bis hin zum Trauma bei den Kindern entsteht, wenn man dies und das an sie ranträgt. Quadratur des Kreises. "Stehen Sie einfach zu dem Leid, das Sie verursachen." Darüber kommen wir dann länger ins Gespräch. Jesus und sein wütendes Durchsetzen im Tempel mit dem Leid der Geldwechsler ist auch dabei. Zum Schluss bekomme ich mit, dass so drüber nachzudenekn für sie neu ist -  und irgendwie verboten. Aber süße Frucht. Dass es sie entlastet. Wenn sie für die Kinder eine "Fiese Alte" ist.

Sich einbringen und sich durchsetezn: ein Alltagskram. Überall. Einkaufen, Arzt, Kollegen, Behörde, Autofahren, Partnerschaft. Man steht immer vor der Wahl: Dackel oder Fiesling. Und irgendwann ist man immer mal wieder der Fiesling. Wenn man das schlecht sein kann - dann kann man es eben schlecht. Dann kann man ja nachgeben und Dackel sein und sich dann blöd fühlen. Keine Ahnung, wie man da rauskommt. Ich kenn da meinen Weg, banal für mich: Ich liebe mich halt, so wie ich grad drauf bin, und dann gebe ich nach ("Keine Wanne") oder bin Brutalo ("Schluß jetzt, rein ins Wasser!"). Irgendwie habe ich es da doch leicht und mach mir keinen Kopf. Und von dieser Leichtigkeit erzähle ich der Mutter. Sie nimmt mir das ab - ob sie auch was davon mitnimmt?

Montag, 1. April 2019

Selbstliebe und erziehen







Der Böhme-Zeitung in Soltau bei Hannover gab ich vor kurzem anlässlich eines Vortrags ein Interview zum Thema "Selbstliebe und erziehen". Hier ist es.


Die Annahme, dass Kinder erst zu „richtigen“ Menschen erzogen werden müssten, ist sicherlich falsch, wenn damit „vollwertig“ oder „gleichwertig“ gemeint ist. Dennoch bedürfen Kinder in unterschiedlichen Lebensphasen doch immer wieder elterliche Unterstützung und auch Anleitung. Was soll daran falsch sein?

Nichts. Besser: kommt drauf an. Auf den Ton nämlich, der beim Unterstützen und Anleiten dabei ist. Von oben herab? Weil ich recht habe? Weil Du noch ein Kind bist? Ja, wir stehen oben, haben recht und ein Kind ist ein Kind. Aber bei aller Offensichtlichkeit: da kann ein unguter Ton dabei sein, der von oben herab kommt, mit Rechthaberei und „Du bist nur ein Kind“. Das muss nicht sein. Und es sollte nicht sein.

Die allermeisten Eltern handeln instinktiv so, wie es ihrer Überzeugung nach das Beste für das Kind ist. Wenn sie jetzt hören, dass das zu viel ist – erzeugt das nicht vor allem ein schlechtes Gewissen und verunsichert die Eltern nur noch mehr in einer Welt zwischen Perfektionismus und Überlastung?

Menschen gibt es seit Millionen Jahren, und immer haben Eltern instinktiv so gehandelt, wie sie es als gut für ihre Kinder eingeschätzt haben. Das ist der richtige Weg und nicht „zu viel“. Ich bestärke Eltern darin, sich auf ihr Gefühl zu verlassen. Das ganze heutzutage ausgetüftelte Erziehungsdenken stört: das ist zu viel, wird leicht zur Last und verunsichert. Ja, man kann auch mal einen Erziehungsratgeber lesen oder einen Vortrag zu Erziehungsfragen besuchen. Aber nötig ist das nicht.

Sie schlagen vor, die Selbstliebe wieder zum Ausgangspunkt des Umgangs mit den Kindern zu machen. Ist das nicht leichter gesagt als getan? Setzt diese Selbstliebe ein radikales Umdenken voraus? Und wie müsste das aussehen? Ist Selbstliebe vor allem eine Frage der inneren Einstellung? 
 
Mein Vorschlag ist keine Hausaufgabe. Niemand muss die Selbstliebe zum Ausgangspunkt des Umgangs mit Kindern machen. So etwas hört sich doch nur anstrengend an. Ich bin da anders unterwegs, nämlich so: Jeder kann es sich gestatten, erlauben, sich hineinfallen lassen in ein freundliches Ich-mag-mich. So was braucht kein Umdenken und keine besondere Einstellung. Und um so besser, wenn einem das im Zusammensein mit den Kindern passiert.

Selbstliebe scheint heute vielen Menschen schwer zu fallen, sie ist alles andere als selbstverständlich. Selbstzweifel scheinen – gerade Eltern – zu dominieren. Wie kann man Selbstliebe lernen?

Menschen tragen die Selbstliebe von Geburt an in sich. Wir haben nur in der Kindheit gelernt, uns nicht als liebenswerte Ebenbilder Gottes zu sehen sondern als fehlerhafte Wesen, die man erziehen muss. Weg damit! Es ist aber auch kein Drama, wenn man an sich zweifelt. Das gehört in der Erziehungskultur, in der wir groß geworden sind, eben dazu. Und: „Selbstliebe lernen“ - so geht das nicht. Sie ist ja da, und es kann einem irgendwie (?) widerfahren oder geschenkt werden, dass sie wieder aufblüht. Jeder ist da eingeladen, sich auf seine Sebstliebewiese plumpsen zu lassen, so wie wir das als Kinder konnten. Vielleicht gehört einfach ein bisschen Mut dazu, sich zu trauen. Sich zu vertrauen. Sich in Ruhe zu lassen. An sich zu glauben.

Auch wenn es Eltern gelingt, sich selbst zu lieben, löst das noch nicht alle familiären Probleme. Auch selbstliebende Eltern werden weiter mit ihrem Kind und miteinander Konflikte austragen müssen, auch miteinander streiten. Wo ist da der entscheidende Unterschied? 

Noch einmal: Es muss Eltern nicht gelingen, sich selbst zu lieben. Das ist doch alles viel zu gewollt. Nichts muss. Nur: Wenn man sich mag, was ja vorkommen kann, dann lassen sich die Alltagsprobleme gelassener angehen. Konflikte wird es immer geben. Ich sag hü, das Kind sagt hott. Und dann gebe ich gelassen nach oder ich setze mich ohne Zimperlichkeit durch: „Es gibt nicht noch ein Eis!“ Das haben die Kinder natürlich nicht so gerne, es entstehen Ärger und Leid. So ist es, und das lässt sich auch nicht vermeiden. Und: Ich mag mich, wenn ich mich durchsetze! Weil mir das wichtig ist, weil es meinen Werten und meinen Vorstellungen vom Besten des Kindes entspricht. 

Zum Unterschied: Ich muss den Kindern dann ihren Unwillen, Ärger oder Leid nicht wegpusten und madig machen durch ein „Sieh das ein“ und „Es ist doch nur zu Deinem Besten“. Nach jedem Regen scheint die Sonne ganz von allein. Wir müssen es uns nicht übel nehmen, wenn wir Steine im Weg der Kinder sind. Das gehört einfach dazu. Die Quadratur des Kreises, sich durchzusetzen und dabei noch ein Lachen hervorzulocken, muss sich niemand antun.

Bedeutet Selbstliebe, dass ich auf Erziehung verzichten kann? Wie soll ich mein Kind dann begleiten?

Auf Erziehung verzichten? Man kann darauf verzichten, sich im Umgang mit Kindern missionarisch, besserwisserisch, mit ungutem Sieh-das-ein-Ton über die Kinder emporzuschwingen. Ich habe den Begriff „Erziehung“ nicht so gerne, weil er diese Oben-Unten-Position normalerweise als Grundrauschen enthält. Aber lassen wir das, erziehen wir die Kinder einfach ohne diese traditionelle und pädagogische Erwachsenen-Macke. Erziehen wir instinktiv oder belesen oder beides. Verunsichert oder gefestigt oder beides. Wie es kommt. Selbstliebe hin oder her. Wie gesagt, seit Millionen von Jahren... Das wird schon!