Montag, 22. April 2019

Anketten im Reichstag II





 

























Fortsetzung vom 15.4.

Ungute Gefühle, die durch die Forderung nach dem Wahlrecht für Kinder ausgelöst werden, lassen sich kaum argumentativ ausräumen. Es ist sinnvoller, sie als emotionale Realität anzuerkennen. Es kommt auch nicht darauf an, Einwände und Bedenken kleinzureden und wegzudiskutieren, sondern sie aus der eigenen Position heraus zu beantworten. Welche Überlegungen stützen das Wahlrecht für Kinder? 10 Beispiele:

1.  Kinder werden auf neue Weise von den Erwachsenen ernst genommen. Politische Entscheidungen werden immer auch mit Blick auf die Wähler getroffen. Wie reagieren die Wähler, die unter 18 Jahre alt sind? Diese Frage ist gänzlich neu, und erst sie führt dazu, Kinder tatsächlich ernst zu nehmen und bei den politischen Entscheidungen überhaupt zu berücksichtigen. Nicht aus Großzügigkeit, sondern aus Notwendigkeit. Die Kinder haben jetzt Macht – gesellschaftliche, politische Macht. Allein ihre Stimmzettel verleihen ihnen dieses Gewicht. Es ist durch nichts zu ersetzen. Großzügigkeit und Freundlichkeit können jederzeit widerrufen werden. Gegen die Macht, die aus den Stimmzetteln kommt, gibt es jedoch kein Mittel.

2.  Es gibt einen psychologischen Durchbruch für die Kinder. Wenn Kinder politisch gleichwertig sind und einige Male an Wahlen teilgenommen haben, wird man ihnen mit einer anderen Achtung begegnen. Im Einkaufszentrum, im Bus, im Schwimmbad erlebt man dann nicht unmündige Kinder, sondern Wahlbürger. Wahlbürger Kind. Von der psychologischen Aufwertung für die Kinder selbst ganz abgesehen. »Ich bin nicht unwichtig – ich bin wichtig. Ich entscheide mit. Meine Stimme zählt.«

3.  Kinder verstehen viel von Politik. Zunächst: Es ist nicht notwendig, etwas von Politik zu verstehen, wenn es um das Selbstbestimmungsrecht und das Wahlrecht geht. Die Bürger entrissen dem König die Macht nicht deswegen, weil sie nachweisen konnten, dass sie mehr von Politik verstehen als er, sondern weil sie über ihr politisches Schicksal selbst bestimmen wollten. Die Legitimation kommt nicht aus dem besseren Verständnis von Politik oder aus irgendeiner Unterweisung in gesellschaftliche Zusammenhänge, sondern aus der demokratischen Idee: Dass die Macht nicht für einen oder für wenige reserviert ist, sondern dass alle Anteil an der Macht haben – alle ohne jegliche Einschränkung. Die Forderung, Kinder müssten etwas von Politik verstehen, ehe sie wählen können, und 18 Jahre oder vielleicht 16 Jahre wäre da die äußerste Grenze, ist eine zutiefst undemokratische Position. Diese Forderung trägt diktatorische Züge, das Verlangen nach Herrschaft und Unterordnung ist offensichtlich. Das »Davon verstehst du nichts« ist ein Abwehrargument, um die Macht nicht zu teilen.

Kinder müssen also nichts von Politik verstehen, um Anteil an der politischen Macht zu haben. Dennoch aber verstehen sie viel von Politik: Humanität, Toleranz, Kreativität, Sensibilität, Fairness u. a. sind wichtige konstruktive Eigenschaften für die Politik. Von diesen gesellschaftlichen Basisfaktoren verstehen Kinder eine Menge, und es ist so, dass Erwachsene über dieses politische Wissen viel von ihnen lernen können. Und von den tagespolitischen Fragen versteht der eine mehr, der andere weniger – so, wie das bei den Erwachsenen auch ist.

4.  Versuche, Kinder zu verführen, laufen ins Leere. Denn die Konkurrenz schläft nicht. Sie deckt solche Versuche auf, und dann revanchieren sich die Kinder mit Wahl der Konkurrenz. Welche Chance hat denn ein politischer Verführer in einer Zeit, die demokratisch geprägt ist und in der destruktive und faschistische Tendenzen enttarnt werden? Die Inhumanität und der Totalitarismus politischer Verführer sind leicht zu durchschauen angesichts realer Machtbeteiligung durch demokratische Wahlen. Demokratie – erlebte, erfahrene Demokratie – ist die beste Waffe gegen jede Diktatur und jeden Verführungsversuch.

Wenn Kinder aber in einer Diktatur leben – dann nämlich, wenn sie das Wahlrecht nicht haben – , kommt es nur auf den Verführer mit den größten Versprechungen an. Die Sorge vor der Verführbarkeit der Kinder spiegelt die Ängste der Erwachsenen, die in der eigenen Kindheit einer ausweglosen Diktatur ausgesetzt waren: Sie mussten den damaligen Erwachsenen folgen, ohne Recht. Sie lernten folgsam zu sein und allen Sprüchen zu glauben. Die Kinder des demokratischen Zeitalters jedoch kennen ihre Macht. Sie können sich ihre Sensibilität für Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit bewahren, denn sie bestimmen selbst über ihr Schicksal. Kinder, für die Demokratie Realität und ein gewachsener Wert ist, werden sich mit Abscheu von diktatorischen Zumutungen und politischen Verführungen abwenden.

5.  Kinder sind sensibler als Erwachsene für Fairness und Wahrheit. Die Versuche, die Wähler zu hintergehen, zahlen sich bei den Kinderstimmen nicht aus. Politische Tugenden sind in Bezug auf diese Wählergruppe viel effektiver, und Politiker werden insgesamt in eine positive Richtung diszipliniert, wenn Kinder über Wahlstimmen verfügen. Sie quittieren unerbittlicher als Erwachsene Unfairness, Lüge und Gemeinheit mit Abwahl.

6.  Die Wahlreden werden verständlich. Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland 15 Millionen Menschen unter 18 Jahren. Selbst wenn nur 20% zur Wahl gehen sollten, sind das noch 3 Millionen Stimmen. Daran kommt kein Politiker vorbei. Er muss so reden, dass er auch von diesen Wählern gut verstanden wird. Es gibt kein Problem aus Politik und Gesellschaft, das man nicht auch Kindern verständlich machen kann. Die Ausrede von der Kompliziertheit der Sachverhalte überzeugt nicht länger, die Konkurrenz hat nämlich den Politiker, der die Dinge auch den Kindern erklären kann. Das gilt nicht nur für Wahlreden, sondern allgemein für die Kommunikation zwischen Gewählten und Wählern, und das tut der gesamten politischen Kultur gut.

7.  Die Wahlprogramme werden zugunsten der Kinder umgeschrieben. Alles, was dem Interesse der Kinder dient und einen Stimmengewinn durch die Kinder verspricht, wird nun ernsthaft thematisiert und diskutiert und in die Programme der Parteien aufgenommen. Zum Beispiel Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Ortschaften, giftfreies Spielzeug, körpergerechte Schulmöbel, arbeitsfreie Wochenenden der Eltern, Umgestaltung des Schulwesens, funktionierender Lärmschutz, kinderfreundlicher Haus- und Wohnungsbau bis hin zu Treppengeländern für Kinder, kindgerechte Gestaltung öffentlicher Räume, phantasievolle Spielplätze, flächendeckende Jugendzentren, adäquate Einstiegsmöglich­keiten in Bus und Bahn auch für Kinder. Viele Dinge, für die engagierte Eltern im Interesse ihrer Kinder bislang erfolglos auf die Straße gehen, werden plötzlich realisiert, als hätte es nie etwas anderes gegeben. Durch das politische Gewicht der Kinder wird sich etliches ändern – sicher nicht zu unser aller Nachteil.

8.  Es gibt mehr Respekt und Toleranz Kindern gegenüber. Wahrscheinlich unterscheiden sich Kinder in ihrem Wahlverhalten kaum von dem der Erwachsenen. So wie die Frauen insgesamt kaum anders wählen als die Männer. Vielleicht sind Kinder aber auch bestimmten Trends und bestimmten Personen eher zugewandt als Erwachsene und wählen Parteien und Politiker, von denen kaum jemand sonderlich begeistert ist. Doch wie auch immer: Am grundlegenden Recht auf politische Selbstbestimmung des jungen Menschen hat niemand herumzudeuten, es kommt ihnen zu wie jedem anderen Menschen. Auch wenn Kinder das wählen, was einem gerade nicht passt: Es gilt und es muss als Realität zur Kenntnis genommen werden. Erwachsene  lernen durch das Wahlrecht für Kinder, auch die von ihren Auffassungen abweichende Meinung der Kinder zu respektieren und zu tolerieren.

9.  Erwachsene werden zu einer gänzlich neuartigen Einstellung und Beziehung zu Kindern gelangen. Die Politiker werden bemerken, dass die Pädagogik die Kinder unrealistisch sieht. Sie werden erkennen, dass Kinder bereits vollwertige Menschen sind und nicht erst dazu gemacht werden müssen. Die gesamte Forschung wird neu konzipiert, denn wer die Realität des Kindes tatsächlich erfasst, hat das erfolgreichere Wahlprogramm und gewinnt die Wahl. Nicht mehr pädagogische Lehren werden die Beziehungen zu Kindern bestimmen, sondern die Kinder selbst werden die Erwachsenen lehren, wie sie die Kinder richtig ansprechen können und wie Kinder ihre Beziehungen mit den Erwachsenen gestalten wollen. Wer dem nicht folgt, verliert seinen gesellschaftlichen Einfluss – denn die Konkurrenz, die sich auf diese Realität einstellt, gewinnt die Wahl.

Die neuen Machtverhältnisse sehen die Kinder als Machtpartner, gleichberechtigt neben den anderen Gruppen der Gesellschaft. Die politische Emanzipation bewirkt unaufhaltsam die Gleichwertigkeit auch in den menschlichen Beziehungen. Es wird sich herausstellen, dass nicht Erziehung, sondern Beziehung angemessen ist, wie stets, wenn Menschen auf einer gleichen Stufen miteinander leben. Die Erwachsenen erleben in Kindern Menschen, die sie nicht missionieren müssen, sondern die ihnen tatsächlich gleich sind und auf die sie sich stützen können, gesellschaftlich wie privat.

10.  Die Gesellschaft braucht die Kinder als politische Macht. Kinder werden immer als Hoffnung, als Zukunft gesehen. In der Literatur. Im Kindergarten. In der Schule. In Festvorträgen. Jetzt wird diese Hoffnung gesellschaftliche Realität. Die Alltagspolitik – das Ringen darum, wie alle zusammen leben – wird erweitert und korrigiert. Es ist eine große Chance der Menschheit, die Kinder an der Gestaltung der Welt wirksam zu beteiligen. Und es ist vielleicht die letzte Chance. Angesichts der atomaren Gefahr und der drohenden Vernichtung der Lebensgrundlagen wird alles in die Waagschale des Lebens geworfen. Die Kinder werden Wege weisen, die zu gehen niemand bislang gewagt hat. Sie wählen die Partei, die kompromisslos den Hunger in der Welt beseitigt. Das als einziges Beispiel. Sie sehen die Welt aus der unverbrauchten Perspektive derer, die noch Jahrzehnte leben wollen – gesund und in Frieden. Und dies wird reale Politik.


aus: H.v.S., Kinder in der Demokratie: Wahlrecht für Kinder, 2001 (1981)