Montag, 30. September 2024

Amication und Glück




Kann man mit Amication glücklich werden? Ist Amication eine Garantie für Glück? Jemand, der die amicative Lebensführung gutheißt, kann durchaus Erwartungen in diese Richtung haben. Dass das Leben jetzt leichter wird, dass alles besser klappt, dass eben allgemein mehr Glück stattfindet.

Durch die Amication verschwinden nun tatsächlich viele Belastungen. Man glaubt wieder an sich und an seinen Wert und daran, dass man niemals wirklich Fehler machen kann. Und erkennt seine letztlich eben doch vorhandene Konstruktivität. Man sieht die Kinder mit diesen anderen – amicativen – Augen: Dass sie ihre eigene Innere Welt haben, die man grundlegend achtet. Man erkennt ihre Würde und Einmaligkeit. 

Das alles befreit und bringt Leichtigkeit und Lächeln, als verfügbare Grundstimmung. So etwas wird bewusst, wenn man andere Familien mit dem traditionellen Umgang erlebt oder wenn man sich an alte Zeiten vor der amicativen Wegmarke erinnert. Also: Da ist durchaus Glück.

Aber dieses Glück ist kein Donnerschlag wie die große Liebe oder der Ausbruch des Weltfriedens. Nichts gegen die großen Glücksdonner – aber das leistet Amication nicht. Amication ist auch nicht das Instrument, um die mittleren Glücke zu bekommen. Amication verschafft nicht solches Glück – das kommt von woanders her. Glück fällt entweder vom Himmel oder man muss etwas dafür tun. Selbstverantwortlich von Geburt – die Grundposition der Amication – gilt auch in der Glücksfrage, und das bedeutet, dass ein jeder auch für sein Glück selbst zuständig ist. 

Man kann also keine Glückswunder von der Amication erwarten, sondern man muss sich schon selbst um sein Glück bemühen. Und da gibt es unzählige persönliche Wege, denn das Glück des einen ist nicht die Richtschnur für das Glück des anderen. Doch wenn auch ein jeder sein Glück auf seine Weise realisiert – amicative Menschen verbindet der amicative Glücksstaub zwischen den Zeilen des Lebens.


 

Montag, 23. September 2024

Kraft der Erinnerung

 


Amicative Menschen lebten lange Zeit im pädagogischen System mit den destruktiven Oben-Unten-Strukturen. So etwas wirkt nach, beim einen mehr, beim anderen weniger. Das Alte kann einen immer wieder einholen. Entweder aktiv: Ich gebe Dir die Schuld. Oder passiv: Ich bekomme ein Schuldgefühl.

Bei diesen Fallgruben wird das Selbstwertgefühl mitunter so dünn, dass es nicht mehr wahrgenommen wird, vor allem, wenn man selbst der Empfänger pädagogischer Attacken ist. Der Sturz in diese Fallgrubender pädagogische Rücksogtut weh, und dagegen gibt es kein Patentrezept. Allerdings: nach einer mehr oder weniger langen Zeit gelingt es amicativen Menschen, sich all der Erkenntnisse und Orientierungen zu erinnern, zu denen man sich bekennt, und mit dem Erinnern kommt auch das Selbstwertgefühl zurück.

Erinnerung – an die gesamte Neue Welt – ist eine wichtige Hilfe, um auf dem amicativen Weg voranzukommen und ein wirksames Mittel gegen den pädagogischen Rücksog.  



Montag, 16. September 2024

Amicative Medizin

 


„Du übersiehst das Bemühen von Eltern und Fachleuten, neue kinderfreundliche Wege zu erkunden, erste Schritte zu tun weg vom Oben-Unten hin zur Beziehung auf gleicher Augenhöhe. Du bist so pauschal und so schwarz-weiß: Nur Amication ist richtig. Irgendwie arrogant und kontraproduktiv, denn Du willst doch Menschen für die Amication gewinnen.“

Also: Da übersehe ich nichts. Auf meinen Veranstaltungen erlebe ich immer wieder Eltern und Fachleute, die sich zu lösen beginnen vom traditionellen Erziehungs-Oben-Unten. Intuitiv, ohne Theorie, mit dem Herzen fühlend, absprungbereit, erste Schritte wagend, oder schon voll im (nicht)pädagogischen Neuland unterwegs. Dies ist für mich anrührend zu sehen, und ich wünsche mir viele viele solcher Erwachsener.

Meine Texte und meine Vorträge und Seminare sind voll Klarheit und Wahrheit: Erziehung hier - Nicht-Erziehung/Amication/Postpädagogik dort. Mit intellektueller Kraft sehe ich den Unterschied, und ich trage diesen Erkenntnisimpuls gern und beschwingt weiter und male freudig meine Wortbilder. Ohne Intuitives herabzusetzen, ohne das Suchen, Fragen, Beginnen, Zweifeln abzutun!

Und bei all meiner intellektuellen Klarheit nehmen meine Zuhörerinnen und Zuhörer auch meine Herzenswärme wahr, aus der heraus ich all dies überhaupt erst hervorhole. Ich bin als Botschafter unterwegs, als Kind im Erwachsenenland. Meine intellektuelle Trennschärfe wird von den meisten Menschen, die mir zuhören, gern angenommen, durchaus auch staunend, dass das, was sie spüren, bereits einen solchen fulminanten Überbau hat.

Das hätten sie nicht gedacht! Und sie sagen, dass ihnen das hilft, weiter auf ihrem Weg zu den Kindern zu gehen, dem Weg, den sie als für sich richtig erfühlt haben. Und sie bedanken sich für diese Hilfe beim Emanzipieren von all den Normen eines „richtigen“ Umgangs mit Kindern, die in ihnen rumspuken und die so viel Macht über sie haben.

Und die von so vielen einflussreichen und renommierten Persönlichkeiten zustimmungsfordernd daherkommen, von

Aebli, Böhm, Bosco, Brezinka, Brunner, Cohn, Comenius, Dewey, Diesterweg, Dilthey, Flitner, Freinet, Fröbel, Ftenakis, Gagné, Gordon, Herbart, Humboldt, Jegge, Juul, Kant, Kerschensteiner, Klafki, Korczak, Hentig, Litt, Makarenko, Meves, Mollenhauer, Montessori, Neill, Nohl, Pestalozzi, Piaget, Pikler, Pawlow, Petersen, Platon, Prekop, Reich, Rousseau, Roth, Schleiermacher, Skinner, Sokrates, Spranger, Steiner, Uschinski, Wild, Wyneken, Ziller, Zulliger, Hinzius und Kunzius.

Forderungen, die in all den Fachbüchern und Erziehungsratgebern stecken, dass den Müttern und Vätern ganz schwindelig wird. Ganz abgesehen davon, was sich in ihnen angebraut hat, wie sie sein sollten, als ihr erstes Kind kam. Sie wollen sich davon lösen, weil sie das alles ungut finden. Und da komme ich ins Spiel und biete ihnen halt etwas Medizin an, damit sie ihr Gleichgewicht besser halten können. Eine spezielle Mixtur aus Intellekt und Emotion, Emanzipation und Gelassenheit, Selbstliebe und Empathie, Zweifellosigkeit und Überzeugtheit.

Diese amicative Medizin ist dem einen süß, dem anderen bitter. Ich aber freue mich, wenn sie hilft.


 

Montag, 9. September 2024

Vertrauen

 


Eine Studentin schrieb nach ihrem Besuch unseres Familienseminars:

 

Amication hat viel mit Vertrauen zu tun, eine wirkliche amicative Beziehung – und nicht nur zu Kindern – braucht eine wirkliche Vertrauensbasis.

Joschas Augen dürfen nicht zu viel der Sonne ausgesetzt sein, deswegen trägt er eine Schirmmütze. Im Laufe des Nachmittags beobachte ich einige Male, wie seine Mutter ihm die Mütze, die er im Spieleifer verloren hat, wieder aufsetzt. Sie tut es beiläufig, ohne den Unterton „Kannst Du nicht aufpassen!“, und Joscha setzt sie ebenso beiläufig wieder auf, die Angelegenheit wird nicht zum angstvollen Problem.

Vertrauen darauf, dass die Mütze ihm wirklich nur aus Versehen herunterfällt, und vertrauen darauf, dass seine Mutter einen Grund hat, sie ihm wieder aufzusetzen.

Wenn ich Kindern aber plötzlich etwas zutrauen muss, was ich ihnen in Wirklichkeit gar nicht zutraue, dann wird es anstrengend – und unecht. Sich in gegenseitigem Wechselspiel „Ich tue nur, was ich will, Du musst nur das Gleiche tun“ zuzurufen, scheint nicht auszureichen. Amication hat ebenso viel mit Sensibilität zu tun, Situationen müssen immer wieder neu erspürt werden – ganz subjektiv und ohne aufgesetzten Maßstab.

Ich kann amicatives Verhalten nicht inszenieren und nicht darstellen, nicht zeigen, dann wird es zum Zwang. Ich kann den amicativen Anspruch intellektuell formulieren ohne ihn intuitiv begriffen zu haben.

Jeder Mensch weiß, was für ihn das Beste ist, und ist auch in der Lage, dies zu signalisieren – wenn wir darauf hören. Darauf hören können – und wollen.

Am Tisch sitzt Norbert mit seinem Baby, unterhält sich mit einer weiteren Teilnehmerin, sie blättert im Buch „Unterstützen statt erziehen“. Das Baby hält in der einen Hand seine Flasche und trinkt genüsslich, während es mit der anderen über sich greift, Norberts Gesicht streichelt, durch seine Haare fährt und dem Gespräch zu lauschen scheint, ohne es zu stören. Es herrscht auch hier diese entspannte, zärtliche Beiläufigkeit.

Man spürt das gegenseitige Vertrauen. Eigenverantwortung nicht in Frage stellen, sich nicht mit erzieherischem Zeigefinger und einem „Ich weiß besser als Du, was gut für Dich ist“-Unterton über das Kind stellen – es ist wirklich eine Gefühlssache.