Montag, 28. Februar 2022

Niemals aber Erziehung!



Es gibt viele Konzeptionen für den Umgang mit Kindern. Die Palette reicht von autoritärer Erziehung über Gewähren-Lassen bis zu antiautoritärer Erziehung, und meist wird ein partnerschaftliches Verhältnis als erstrebenswert angesehen. Die Grundlage aller verschiedenen Methoden ist stets diese: „Kinder müssen erzogen werden.“ Es fragt sich nur, wie.

Amication fragt anders: Müssen Kinder wirklich erzogen werden? Vielleicht sind sie ja gar keine „Erziehungs-Menschen“, sondern ganz normale Leute? Vielleicht sind Kinder ja schon von Geburt an Menschen – vollwertige Menschen, und müssen nicht erst dazu gemacht werden, auch nicht auf die progressivste Art und Weise? 

Vielleicht ist die Idee, Erziehung müsse sein, eine falsche und gefährliche Sicht vom Menschen? Wem dient dies wirklich? Steht da nicht einer über dem anderen? Wird da nicht „zu deinem Besten“ geformt? Muss da nicht einer etwas einsehen? Hat da nicht einer immer recht?

Das alles erinnert an die Art, wie Europäer mit Afrikanern und Indianern, Männer mit Frauen, Kommunisten mit Bürgern umgingen. Es wird deutlich, dass das Oben-Unten-Denken im Umgang mit Kindern eine breite, historisch gewachsene und lange Zeit unbefragte Basis hat. 

Wobei die Mächtigen aus ihrem Selbstverständnis heraus nicht von vornherein böse, sondern gut, liebevoll und verantwortungsbewusst sind, wie Eltern zu ihren Kindern: Europa missioniert den Rest der Welt, Männer enthalten Frauen das Wahlrecht vor, die Partei beschließt, was „objektiv“ gut ist. 

Amication verlässt diese Welt des „einer steht über dem anderen“, und das gilt auch gegenüber jungen Menschen. Die existentiellen Aussagen über Kinder werden auf neue Weise gedacht: 

Mach mich nicht zu einem Menschen, ich bin es von Anfang an. Sag mir Deine Erfahrungen, aber sag nicht, dass Du besser weißt als ich, was für mich gut ist, denn das spüre ich selbst am besten. Liebe mich, aber sei nicht für mich verantwortlich, denn das bin ich selbst. Ich brauche Deine Loyalität und Solidarität, Deine Unterstützung, und wenn Du nicht anders kannst, Dein ehrliches Nein – niemals aber Erziehung!“


 

Montag, 21. Februar 2022

Abgrenzung

 


Es kommen immer mal wieder irritierte Anfragen an mich. Dann kläre ich die Missverständnisse. Jetzt will ich auf unsere Website einen Abgrenzungstext zu den drei größten Problemen stellen. Hier ist er schon mal vorab.

 

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Abgrenzung

Wer sich zum ersten Mal mit der Amication beschäftigt, kann in Assoziationsfelder geraten, die befremdlich, irritierend oder auch abstoßend sind. Drei solcher Missverständnisse sollen hier geklärt werden. Es geht um die Vermutungen, Amication hätte etwas mit Vernachlässigung von Kindern, mit Kinderrevolution und mit Pädophilie zu tun. 

 

Kinder werden nicht vernachlässigt.

In unseren Texten ist immer wieder die Rede davon, dass wir Kinder „nicht erziehen“. Wer einen solchen Satz liest, kann an Vernachlässigung und antiautoritären Umgang denken.

Doch unser „nicht erziehen“ bedeutet nicht, dass die Kinder sich selbst überlassen werden oder dass die Kinder tun können, was sie wollen. Wir haben mit antiautoritären Positionen nichts zu tun. Wie alle Eltern sind wir für unsere Kinder da und kümmern uns um sie, und ein Nein ist ein Nein. 

Bei dem „nicht erziehen“ der Amication geht es um eine spezifische, hoch ausdifferenzierte Beziehungsform für das Zusammenleben mit Kindern, fachlich gesprochen um Postpädagogik und die Rehumanisierung der Pädagogik. Es geht in der Amication um eine nicht-erzieherische Haltung. Diese amicative Haltung begründet eine neuartige Verantwortung, die Erwachsene übernehmen. 

Was das bedeutet, ist in den Texten, Wort- und Videobeiträgen der Website ausführlich in Theorie und Praxis dargestellt. 

 

Kinderrevolution wird nicht propagiert.

Der Gedanke politischer Emanzipation junger Menschen tauchte in den 1970er Jahren in der US-Literatur auf, und es entstand das „Children's Rights Movement“. Die dort geforderten Rechte für junge Mitbürger fußen auf den Gedanken von Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung. 

Wir sahen damals die Parallele der von uns propagierten erziehungs-missionsfreien Eltern-Kind-Beziehung zum Children's Rights Movement. Unser Beziehungsaspekt wurde dort in eine politische Perspektive utopisch weitergedacht. 

1980 wurde dann dementsprechend das Deutsche Kindermanifest von uns proklamiert, in dem eine Ausgestaltung der Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und politischen Emanzipation des Kindes im Sinne vollwertiger Bürger- und Menschenrechte vorgenommen wird. 

In einer Präambel und 22 Artikeln werden Rechte aufgeführt, die Kindern zustehen sollten. Diese Rechte sind nicht hier und jetzt zu realisieren, und dies wird auch nicht gefordert. Die Rechte des Deutschen Kindermanifests können erst dann verwirklicht werden, wenn Kinder als gleichberechtigte Mitbürger angesehen werden. 

Im Deutschen Kindermanifest wird die Gleichberechtigung des Kindes als weite Perspektive gesehen. Es wird von einer Position der Zukunft her formuliert, was Kindern dann, wenn sie gleichberechtigt sein sollten, an Rechten zustehen würde. 

Doch einigen Rechten könnte man auch heute schon zustimmen. Zum Beispiel dem Recht des Artikels 14: „Kinder haben das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Es gibt keine Züchtigung.“ 

Amication propagiert mit dem Deutschen Kindermanifest keine Kinderrevolution, sondern es wird dazu beigetragen, über die rechtliche Position von Kindern nachzudenken. Dabei muss jedes Recht des Deutschen Kindermanifests – wenn es realisiert werden soll – vor Ausnutzung und Missbrauch geschützt werden. 

In diesem Zusammenhang wird an Artikel 9 Anstoß genommen: "Kinder haben das Recht, gegen Entgelt zu arbeiten." Oder an Artikel 18: „Kinder haben das Recht, ihr Sexualleben selbst zu bestimmen und Nachkommen zu zeugen.“ Auch diese Artikel sind aus der Sicht von Kindern als gleichberechtigten Mitbürgern her formuliert. Damit das Recht auf Arbeit und auf Sexualität keine destruktiven Tore für Erwachsene öffnen, sind sie gegen Ausnutzen und Missbrauch wirkungsvoll abzusichern. 

Ausführlich werden Hintergrund und Sinn des Deutschen Kindermanifests in unserer Schrift „Kinder in der Demokratie“ dargestellt (Website: Medien/Literatur). Auch Einwände und Kritik werden aufgegriffen und beantwortet. 

 

Verbindung zu Pädophilie besteht nicht. 

Als Eltern lieben wir unsere Kinder, und dabei gibt es keine Grenzüberschreitung. Alles, was in Sachen Pädophilie und sexuellem Missbrauch daherkommt, wird von uns nicht geduldet. 

Heute gibt es eine große Sensibilität hinsichtlich Kindesmissbrauch. Diese Sensibilität ist wichtig und richtig. Der Ausdruck „Freundschaft mit Kindern“ kann da irritieren. Was ist damit gemeint und wie kam es dazu? 

Vor über vierzig Jahren, 1978, im Jahr der Vereinsgründung, wollten wir unsere nicht-erzieherische Grundposition mit einem positiven Begriff versehen und suchten einen dazu passenden Namen. Den damals viel diskutierten Begriff „Antipädagogik“ fanden wir zu plakativ, nicht kommunikativ und zu verletzend für pädagogisch eingestellte Menschen. 

Die Werte Achtung, Respekt und Gleichwertigkeit charakterisieren unser Konzept der Eltern-Kind-Beziehung. Achtung, Respekt und Gleichwertigkeit sind auch die Grundlage jeder Freundschaft. Wegen dieser Werteübereinstimmung hielten wir es damals für sinnvoll, den positiven und konstruktiven Begriff „Freundschaft“ in unsere Texte und unseren Vereinsnamen einzubeziehen. 

Da wir an der Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehungen arbeiten wollten, nannten wir den Verein dann „Freundschaft mit Kindern – Förderkreis e.V.“. Unsere frühen Texte bekamen dementsprechend das Kennwort und die Überschrift „Freundschaft mit Kindern“.


 

 

Montag, 14. Februar 2022

PizzeriaKinder

 

  

Frage beim Vortrag: „Ich bin mit meinem Mann in der Pizzeria, am Nachbartisch sind Kinder. Sie sind laut, rennen rum, gucken auf die Teller. Es ist ungemütlich. Was soll ich machen? Ich will ja nicht kinderfeindlich sein.“ 

Können Kinder ungemütlich sein? Sind nicht viel zu wenig Kinder in der Öffentlichkeit? Gibt es da einen kinderfeindlichen Anspruch auf kinderlärmfreie Zonen? Kuschkinder in der Pizzeria ja, Lautkinder nein?

Ich kenne das natürlich auch. Und ich bin not amused, wenn diese Eltern ihre Kinder im Lokal von der Leine lassen. Und wenn sie das mit so einem superavantgardistischerm Blick tun: nervt extra. Diese Eltern ansprechen bringt gar nichts. Macht nur noch mehr ungute Stimmung. Den Wirt um Ruhe bitten, absurd. Nur: ich will mich entspannen und bin auf dem Spielplatz gelandet. Nichts gegen Spielplätze, passt nur grade nicht zusammen. 

Tja. Die Kinder sind am falschen Ort, wenn sie hier spielen wollen. Gibt es falsche Orte für Kinder? Für Menschen? Na ja: Im OP-Saal wird außer dem Arzt auch niemand sonst akzeptiert, im Cockpit nicht. Im Konzert tollen Kinder nicht herum, beim Fußballderby nicht auf dem Rasen, bei einer Beerdigung nicht hopphopp über den Sarg, und aufs Klo geh ich auch alleine. Es gibt sie schon, die kinderfreien Räume.

Aber die Pizzeria? Italien scheint auf, die Kinder dort in ihrer beiläufigen Öffentlichkeit. Hier ist aber nicht Italien. Wie kinderfeindlich ist das denn, die Kinder hier bei uns in der Pizzeria ruhigzustellen? Vitalität her! Aber im Museum? Auf dem Friedhof? Und und und.

Ich überlege, was ich der Mutter sagen soll. Dann blätter ich das ganze Szenario auf. Irgendwie haben die Eltern auch recht, ihre Kinder in der Pizzeria loszulassen, und solange sie nicht die Salami von der Pizza klauen...Und irgendwie ist es einfach nur rücksichtslos. Da sehe ich beides. 

Wenn Sie einen gemütlichen Pizzaabend mit Ihrem Mann machen wollen, dann sollten sie aufstehen und in einen andere Pizzeria gehen. Ohne Kommentar, so was bringt nur noch mehr Ungemütlichkeit, die Antworten der Eltern können Sie sich sparen.“ „Und wenn ich schon bestellt habe?“ „Einpacken lassen und morgen essen. Erst mal gehen und gemütlich woanders essen. Es geht um Achtsamkeit für sich selbst: Diese Pizzeria tut ihnen nicht gut, also weg hier. Gelassen."

"Wenn man in Hundescheiße tritt, kann man gelassen bleiben. Und den Schuh sauber machen. Man kann sich auch aufregen über seine Mißgeschicke. Diese lauten Kinder in der Pizzeria sind ein Mißgeschick. Sie müssen sich nicht aufregen. Sie können gehen und fertig.“ 

Die Alternative ist natürlich, diese Lautkinder ins eigene Pizzerialeben einzubeziehen. Sie ansprechen. Ins Gespräch kommen. Sie zeigen den Kindern, was Sie bestellt haben. Wollt ihr nachher ein Eis? So etwas geht auch. Schauen Sie, wie Sie drauf sind. Aber nicht als Pflicht kindernett sein. Andere Menschen, auch Kinder, können stinken oder duften. Trauen Sie Ihrer Nase und folgen Sie ihr.“



 

 

Montag, 7. Februar 2022

Feuer - freigesetzt!


 

Ich war mal wieder zu Besuch bei meinen Enkelkindern, es war ein harmonischer Tag. Auf der Fahrt nach Hause ging mir etwas durch den Kopf, was Jans und ich einmal vor langer Zeit über unsere eigene Kindheit notiert hatten – aus unserer damaligen Erwachsenenperspektive. Gilt das auch heute noch für meine Enkel? Und ihre Eltern, meine Kinder? Und für mich, den Vater und Großvater? Haben sich meine Kinder, die Eltern von heute, verwandelt? Ich hatte heute ein gutes Gefühl: meine Kinder, meine Enkel und ich, wir sind vorangekommen!

Hier die Gedanken von damals.

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Als wir selbst Kinder waren, haben wir Tag für Tag gelernt, dass die Erwachsenen im Recht zu sein beanspruchten. Von Anfang an lebten wir in einer Umgebung, die am Oben-Unten ausgerichtet war und in der unsere Selbstverantwortung nicht wahrgenommen wurde. Und als Erwachsene wenden wir diese tief eingeprägte Strategie im Umgang mit den eigenen Kindern an, getreu den "Erfolgen", die wir den damaligen Erwachsenen abgeguckt haben. 

Aber wir können uns neu orientieren. Amication macht bewusst, dass es auch ganz andere Erfahrungen aus unserer Kindheit gibt. Kíndheitsgefühle, die aus uns selbst kommen, die wir niemandem abgesehen haben, die ursprünglich zu uns gehören: Das Gefühl der eigenen Würde, das Gefühl des eigenen Werts, das Gefühl, über sich selbst bestimmen zu können, das Gefühl, für sich selbst Verantwortung tragen zu können, das Gefühl, okay zu sein und sich lieben zu können, und viele andere dieser machtvollen und konstruktiven Gefühle noch. 

Diese Lebenswelt musste zwar stets gegen die Erwachsenen und ihre "Erziehungsnotwendigkeiten" verteidigt werden, doch zum Glück gab es Erwachsene und Erziehung nicht rund um die Uhr. Wir hatten unsere gleichaltrigen Freunde, auch als "Kinder" definierte Menschen. Bei ihnen konnten wir authentisch sein, wirklich leben, voller Ideen und mit uns selbst im reinen. Es war ein Raum ohne die Verwirrung und die Absonderlichkeiten, in die uns die Erwachsenenwelt mit ihren Werten und Gefühlen verstrickte.

Diese Momente des erwachsenen- und erziehungsfreien Erlebens mit den Gleichaltrigen gaben uns die Kraft, lange Zeit Widerstand gegen alle möglichen Erziehungsansprüche zu leisten. Doch schließlich holte uns das demoralisierende Gift „Ich weiß besser als Du, was für Dich gut ist“ nach und nach ein. Und der Glaube an uns und unsere eigene Kraft, Würde und Selbstliebe wurde nachhaltig gestört oder gar zerstört.

Aber wir haben überlebt! Denn der Kern unseres Selbst und unsere Kindheitsgefühle sind unzerstörbar. Und wir können uns mit der amicativen Sichtweise wieder so sehen lernen, wie es unserer eigenen uralten und liebevollen Selbstwahrnehmung entspricht. Jeder Erwachsene, der uns damals seinen Willen aufnötigte – und wohl noch Dankbarkeit dafür erwartete – tat uns weh, trieb uns in immer neue Schlupfwinkel, zerbrach etwas in uns. Wir können heute die Wut und den Schmerz von damals nehmen, um unseren Kindern nicht Gleiches zuzufügen. 

Und wir können auf das Kind in uns zugehen, auf die Hoffnungen, die Sprachlosigkeit, das Leid von damals. Auch heute kennen unsere Kinder das Leid und die Tränen um sich selbst und die Missachtungen genau wie wir – schon von daher sind wir gleich. Damals, als Kinder, hatten wir recht! Damals verteidigten wir unsere Menschenwürde! 

Heute können wir nicht nur mit dem Verstand einsehen, was not tut, sondern wir können dies auch wieder mit dem Herzen erkennen. Wir brauchen das Gefühl – machtvolle, tief anrührende und erlösende Emotionen – um unsere Menschlichkeit von den Fesseln des althergebrachten Denkens zu befreien. Feuer wurde sorgfältig eingeschlossen, als wir jung und hilflos waren. Setzen wir es dennoch frei! 

Kinder sind vollwertige Menschen von Geburt an – sie werden nicht erst durch die Erziehung zu Menschen. Wir selbst, Kinder gewesen, wissen und fühlen dies. Wer kann es wirklich wagen, das zu bestreiten? Heute, als Erwachsene, sind wir stark genug, jeden nachdrücklich und selbstbewusst zurückzuweisen, der einem Kind die Fähigkeit und das Recht abspricht, über sich selbst zu bestimmen und für sich selbstverantwortlich zu sein. Wir haben diese conditio humana* als Grundlage unserer Existenz selbst erfahren. Nehmen wir unsere heutige Kraft und Überlegenheit, um unsere eigenen Kinder zu schützen!


* conditio humana: Bedingung des Menschseins