Montag, 31. Oktober 2016

Mit welchem Recht, Teil I

Ich habe eigene Erfahrungen mit dem Lehrersein. Ich habe beide Staatsexamen für das Lehramt abgelegt und Mathematik, Biologie, Physik und Technik in den Klassen 5 bis 10 unterrichtet. Die Schüler wählten mich zum Vertauenslehrer. Ich übersehe nicht das große Engagement der allermeisten Lehrer und ihre vielfältige Hilfe und Unterstützung für die ihnen anvertrauten Kinder. Ich habe vor diesen Leistungen ehrlichen Respekt. Aber ich will hier sehr grundsätzliche Fragen zum Thema Schule aufwerfen und werde sie in vielen Nuancen, mit großer Entschiedenheit und ungeschminkt vortragen. Dabei kann ich akzeptieren, wenn man meine Gedanken als provozierend und absurd zurückweisen sollte. Doch ich setze niemanden herab, auch keinen Lehrer und keine Lehrerin. Ich erhoffe mir Betroffenheit und Nachdenklichkeit.

"Lieber Lehrer, liebe Lehrerin: mit welchem Recht..."

Mit welchem Recht legen Sie fest, was ein anderer Mensch zu denken und was er nicht zu denken hat? "Schlag Dein Buch auf, lies den zweiten Absatz von oben!", "Wiederhole, was ich gerade gesagt habe!", "Gib den Text mit eigenen Worten wieder!", "Wieviel ist sieben mal acht?", "Wo fließt der Amazonas?", "Wann, warum, womit, weshalb, wodurch, weswegen, wohin, wie lange, wozu, wie oft, wie gut, wie schnell, mit wem, mit wem nicht, mit welchem Recht, ...?" Mit welchem Recht setzen Sie sich grandios über das Recht eines anderen Menschen hinweg, zu denken, was er will? Warum mißachten Sie das Menschenrecht auf Gedankenfreiheit? Permanent, ohne auch nur irgendeinen Impuls des Innehaltens, des Ahnens, dass da etwas Ungeheuerliches passiert? Mit welchem Recht greifen Sie so ohne jeden Skrupel in die innere Souveränität eines anderen Menschen ein? Mit welchem Recht zelebrieren Sie in geradezu religiösem Fanatismus diesen kulturellen Imperialismus? Mit welchem Recht behandeln Sie die Kinder wie die Nigger, denen der Missionar die Religion und Zivilisation beizubringen hat? Warum haben Sie wie die kommunistische Partei immer Recht? Was treibt Sie in diesen unreflektierten Chauvinismus, in diesen überbordenden Adultisms?

Was hindert Sie eigentlich, in Kindern Menschen zu sehen, die ihre eigenen Gedanken und ihre eigene innere Welt haben, mit denen man von Gleich zu Gleich in Austausch treten kann? Was treibt Sie in den "pädagogischen Bezug", der Ihnen die Führungs- und Formungsrolle gibt, wie progressiv sich das heute auch ausnimmt? Wozu ist es gut, dass Sie selbst nach und nach versteinern, weil Sie immer dieselben Fragen stellen und ohne wirklichen geistigen Austausch leben - den Sie verfehlen, wenn Sie Kinder nicht als vollwertige Menschen mit einer eigenen souveränen innern Welt sehen, sondern als Behälter, die mit Ihrem Wissen und Ihrer Kultur gefüllt werden müssen? Warum sind Ihre Augen verschlossen vor dem Leid, das Sie diesen Menshen psychisch, intellektuell und spirituell zufügen? Und vor dem Leid, das Sie sich durch die dadurch bedingte Isolation selbst zufügen?

Warum verschließen Sie sich dem kulturellen Paradigmawechsel von Oben-Unten hin zur Gleichwertigkeit und zur Achtung vor der Identität des anderen? Wie er längst gelungen ist in den Lebensbereichen Schwarz-Weiß, Mann-Frau, Mensch-Natur, Kultur-Kultur, Religion-Religion und vielen anderen? Mit welchem Recht setzen Sie den historisch überholten Totalitarismus im Klassenzimmer fort? Mit welchem Recht verordnen Sie im Machbarkeitswahn gottgleicher Sendung anderen Menschen Ihre kulturelle und zivilisatorische Vorstellung vom Menschen?

Mit welchem Recht verstoßen Sie gegen das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit? Warum können die Kinder nicht sagen, was sie wollen und wann sie es wollen? Was heißt "Ihr seid zu laut!", "Du bist nicht dran!", "Rede vernünftig!", "Das paßt nicht hierher!" eigentlich? Mit welchem Recht maßen Sie sich an, anderen Menschen über den Mund zu fahren? Warum machen Sie die Kinder mit Ihrem "Ruhe jetzt!" zu Duckmäusern? Mit welchem Recht sind nur Ihre Gedanken und Ihre Worte verbindlich, und warum haben die Kinder keine wirkliche Möglichkeit zum Widerspruch, zum Vortragen eigener Meinungen, zur Vertretung ihrer Interessen? Mit welchem Recht hängt alles grundsätzlich und im Detail immer wieder von Ihrem Wohlwollen ab, wie in der Leibeigenschaft? Mit welchem Recht üben Sie im Klassenzimmer Diktatur aus und mißachten die Grundwerte der Demokratie? Mit welchem Recht gilt für Sie nicht "Die Würde des Menschen ist unantastbar"? Mit welchem Recht tasten Sie die Würde der Kinder an, denken und sagen zu können, was sie selbst denken und sagen wollen?

Fortsetzung folgt.
    





Samstag, 29. Oktober 2016

Die süßen Gläser unseres Herzens

"Die süßen Glaser unseres Herzens" ist die Fortsetzung meines Posts vom 22.10. "Honig, pures Glück"

Hast Du genascht?“ Das Honigglas steht auf dem Tisch vor mir, es ist offen, der Deckel liegt auf dem Tisch. Der Finger, der eben noch süß im Mund war, ist blitzschnell verborgen in der anderen Hand. Ich bin gelähmt, erstarrt. Die Sonne, das Licht, die Bienen, der Garten draußen mit all den Blumen und den Düften, die klangvolle Sommerwelt: aus. Eine dunkle Wolke dringt von der Stimme hinter mir in die Küche.

                                          ***
 
Wenn wir unsre Geheimnisse, unsere Heiligkeiten, unseren Honig und unsere Rosenwelten leben – wie wird das Echo sein, das da kommt, kommen kann, kommen könnte? Gibt es dunklen Donner oder lichtes Mitsein?

Was gebe ich von mir preis, was vertraue ich an: den Menschen um mich herum? Erzähle ich von meiner Liebe? Von meinen geheimen Entschlüssen? Von meinen erkundenden Gedanken? Von meinen aufsteigenden Melodien? Von meinem Naschen am Lebensglück?

Teil mit mir meinen Frieden.“ So voll ist mein Herz. So viel Freude und Glück ist in mir. „Willst du auch“ - teilhaben an dem, was mir geschenkt wird? In Deinen Augen sehe ich den Glanz meiner Augen. Und Du spürst, wie süß der Honig ist.

Wir haben früh gelernt, wie das mit dem Anvertrauen der Honigwelten ist. Wir gehen vorsichtig durch die Welt und durchs Leben. Wir wissen, wen wir mitnehmen können. Und vor wem wir auf der Hut sein sollten. Und oft folgen wir lieber dem Mißtrauenspfad, als dass wir uns den Honig verbittern und die Rosenwelt verwüsten lassen. Und verstecken die süßen Gläser unseres Herzens. Doch ab und zu geschieht auch das Wunder, dass der andere nicht dunkel ist, sondern hell und liebevoll, und ich kann davon erzählen, wie viel Glück und Licht in mir ist.

Ein jeder kennt da sein eigenes Maß, und wo der eine ganz vorsichtig ist, ist der andere robust. Was erzählen Kinder noch ihren Eltern, was erzählen sich noch die Partner? Wie gefährlich ist das Mich-Zeigen ? Für meinen Frieden? Wo der eine ganz ins Versteck geflohen ist, hat der andere ein überströmendes Herz und gerät immer wieder in Gefahr.

Vielleicht können wir ab und zu innehalten, wenn wir die Kinder beim Honigschlecken überraschen, und uns zurückziehen, die Küchentür leise schließen, überwältigt von ihrem Glück in Resonanz geraten.

Vielleicht können wir Rosen schenken, wenn wir ein süßes Seelengeheimnis aus der Erwachsenenwelt mitbekommen. Zeuge werden ohne Dunkelwolken zu verbreiten, so angebracht sie auch sein mögen. Die Dunkeltür leise schließen, überwältigt vom Glück des anderen in Resonanz geraten

Die Achtsamkeit im Zusammensein mit den anderen und ihren Heiligkeiten, mit den Kindern oder mit dem Partner, will immer wieder neu bedacht werden. Es ist ein so weites Feld.




Freitag, 28. Oktober 2016

Rote Karte

Wer beim Fußballspielen gegen die Regeln verstößt, bekommt schließlich die Rote Karte. Die Rote Karte hat etwas mit Grenzen, Regeln, Strafe, Unterordnung, Einsicht, Sinn, Würde, Achtung zu tun. Ein weites Feld! Was läßt sich vom Fußballspielen und der Roten Karte auf das Zusammensein mit Kindern übertragen?

Wer stellt die Regeln für die Kinder auf? Wir Erwachsene. Was sind das für Regeln? Sie sind das Ergebnis unserer Erfahrung, unseres Wissens, unserer Ängste, unseres Muts, unserer großen und kleinen Befindlichkeiten. Die Regeln, die wir den Kindern vorsetzen, sind immer unsere Regeln. Sie sind wichtig, damit wir im Zusammensein mit den Kindern nicht aus dem Gleichgewicht geraten. Sie schützen uns. Und viele Regeln schützen auch unsere Kinder. Vor Folgen, die sie nicht überblicken. Vor Folgen, die ihnen selbst oder anderen schaden können. Wie wir meinen. Wir Erwachsene bestimmen die Regeln.

Die Kinder kennen die jeweiligen Regeln. Bei Mutter so, bei Vater so, bei Oma so, bei Lehrer Müller so. Viele sind gleich, viele sind anders. Sei's drum: die Kinder wissen Bescheid.

Wenn sich mein Kind nicht an meine Regeln hält, was dann? Ich möchte meinen Regelfrieden wiederherstellen. Meine Regel hat etwas mit meiner Grenze zu tun. Mein Schild: "Bis hierher und nicht weiter" wurde nicht beachtet. Wenn mir das zuviel ist, muss ich etwas gegen diese Grenzverletzung tun. Wenn ich nichts tue, wird sich mein Kind in einem Bezirk aufhalten, wo es - für mich, meine Weltsicht, Identität - nichts zu suchen hat. Ich werde diese Grenzverletzung heilen, damit ich daran nicht krank werde. Meine Regel wurde verletzt, aber sie soll weiterhin gelten. Eine Regelverletzung läßt sich rückgängig machen. Wirklich? Besser: Sie läßt sich heilen. Aber wie?

Im Fußball durch die Rote Karte. Auszeit. Im Alltag mit Kindern durch - durch was? Was sind unsere Roten Karten für die Kinder, wenn sie unsere Regeln verletzen?

Ein Kind wirft mit Steinchen, ärgert den Bruder, bleibt nicht an der Kreuzung stehen, ach, tausend Situationen. Die Kinder tun nicht, was sie sollen. Regelverstoß - Rote Karte. Nur: Welche Karte funktioniert wirklich? Was ist die Zauberkarte? Ich weiß das natürlich auch nicht. Jeder hat da seine eigenen Erfahrungen, und es ist auch bei allen Roten Karten so, dass sie etwas aus der jeweiligen Beziehung zwischen mir und meinem Kind sind. Und was in der einen Familie funktioniert, ist in der anderen völlig unangemessen.

Ich weiß aber, was alle Karten verdirbt, was nur noch mehr Unfrieden schafft. Es ist das freundliche oder ärgerliche "Ich habe recht" und das gutgemeinte oder missionarische "Sieh das ein". Ganz zu schweigen von dem unakzeptablen "Du bist böse/schlecht/unverschämt/dämlich ..." Es ist die Haltung, der Bessere zu sein, und die Kinder hätten aber doch dies und das bittesehr zu tun. Rote Karten mit gutgemeinter oder nicht gutgemeinter Herabsetzung sind etwas anderes als Rote Karten ohne Herabsetzung. Wenn schon Rote Karten, dann mit Respekt und Achtung. Wie beim Fußball.

Die Rote Karte wird das Verhalten der Kinder beim nächsten Mal kaum ändern können. Nicht die Rote Karte! Die Rote Karte ist etwas für jetzt, für die Heilung der Verletzung. Für das Wiederherstellen meines Regelwerks und meiner benötigten Achtung. Anders beim nächsten Mal wird es erst, wenn die Kinder das selbst wollen. Sie kennen alle Zusammenhänge, die Regeln sind bekannt. Auch die Roten Karten, die im Fall des Falles ins Haus stehen. Doch wie sie damit, mit meinen Regeln umgehen? Steinchenwerfen ist doch super! Wozu sind Steinchen denn da? Das Auge, das in Gefahr ist: Das wird erst dann geschützt, wenn die Idee von Schützen und Achten in der gesamten Beziehung lebt.

Es kann aber auch etwas anderes gelingen: Die Stoppschilder der Kinder sehen und - beachten. Es gibt gute und ungute Varianten, erkennbar am Ton, ablesbar im Gesicht. "Nein", "Will nicht", "Laß mich", "Mama!", "Papa!" Und immer haben wir die Möglichkeit, zu verstehen, ihre Grenzen zu sehen und zu achten. Die Kinder zeigen ihre Stoppschilder, unmißverständlich eigentlich. Man kann um diese Dinge wissen und, ohne Streß, daran denken und vielleicht, ohne Streß, ab und zu oder auch öfter mal halt machen. Sich selbst die Rote Karte verpassen, augenzwinkernd, aber wirksam.

Donnerstag, 27. Oktober 2016

Wahlbürger Kind



Deutsches Kindermanifest, Artkel 7

Kinder haben das aktive und passive Wahlrecht


Wie einst Männer, Frauen und Schwarze von der politischen Macht ferngehalten wurden, so geschieht es heute noch mit den jungen Menschen. Mit dem Wahlrecht für Kinder wird kein neues Recht gefordert, das die Erwachsenen den Kindern geben. Dieses Recht ist von niemandem zu geben. Es ist unabhängig davon längst da, es kommt jedem von Geburt an zu. Aber andere können die Ausübung dieses Rechts behindern. Und genau dies geschieht mit Kindern durch das Grundgesetz in Artikel 38 Absatz 2: "Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat." Dies ist zu ändern!

Die Erwachsenen erkämpften sich die Macht mit revolutionärer Gewalt oder mit ökonomischen Druck. Kinder haben diese Mittel nicht, doch existiert für sie eine andere Möglichkeit: Sie können die Herzen der Mächtigen gewinnen. Diese Revolution kann nur aus dem demokratischen Gefühl der Erwachsenen kommen, aus ihrem Wunsch und ihrem Verlangen, dass Recht und Freiheit und politische Selbstbestimmung auch für ihre Kinder gelten sollen. Der demokratische Gedanke wird von einer wichtigen emotionalen Komponente begleitet: Er muß auch gefühlt werden. Auch Demokratie muß gefühlt werden. Die Revolutionen sind nicht nur mit dem Bewußtsein von der Unterdrückung und dem Widerstand dagegen, sondern auch mit dem Gefühl für Recht und Freiheit erfolgt. Nur wer daran leidet, dass Kinder in einer Diktatur gefangen gehalten werden, wird dies beenden können und wollen.

Die Unfähigkeit zum Frieden hat ihre Wurzeln auch in der Kindheitserfahrung, gegen die absolute Macht der Erwachsenen kein Recht setzen zu können, in einer Diktatur der Erwachsenen zu leben. Wenn erst mit achtzehn Jahren Demokratie erlebt wird, hat sich die Ohmachtserfahrung der Rechtlosigkeit längst festgesetzt. Und dass sich Ohnmacht nicht mit Recht, sondern nur mit Gegenunterdrückung aufheben läßt.

Es ist nicht notwendig, etwas von Politik zu verstehen, wenn es um das Selbstbestimmungsrecht und das Wahlalter geht. Die Bürger entrissen dem König die Macht nicht deswegen, weil sie nachweisen konnten, dass sie mehr von Politik verstehen als er, sondern weil sie über ihr politisches Schicksal selbst bestimmen wollten. Die Legitimation kommt nicht aus dem besseren Verständnis von Politik oder aus irgendeiner Unterweisung in gesellschaftliche Zusammenhänge, sondern aus der demokratischen Idee: Dass die Macht nicht für einen oder wenige reserviert ist, sondern dass alle Anteil an der Macht haben - alle ohne jegliche Einschränkung. Die Forderung, Kinder müßten etwas von Politik verstehen, ehe sie wählen können, und 18 Jahre oder vielleicht 16 Jahre wäre da die äußerste Grenze, ist eine zutiefst undemokratische Position. Diese Forderung trägt diktatorische Züge, das Verlangen nach Herrschaft und Unterordnung ist offensichtlich. Das "Davon verstehst Du nichts" ist ein Abwehrargument, um die Macht nicht zu teilen.

"Das ist doch lächerlich. Jetzt sollen schon Wickelkinder wählen!" Neben ernsthaften Einwänden gibt es auch Unverständnis und Diffamierung. Man kann dies als töricht abtun. Aber man kann auch gelassen reagieren und Kritikern ohne Aufregung entgegenhalten, dass sie dem Sinn nach dem uneingeschränkten Wahlrecht für Kinder einmal nachspüren und sachliche Fragen stellen können. Ungute Gefühle, die durch die Forderung nach dem Wahlrecht für Kinder ausgelöst werden, lassen sich kaum argumentativ ausräumen. Es ist sinnvoller, sie als emotionale Realität anzuerkennen. Es kommt auch nicht darauf an, Einwände und Bedenken kleinzureden und wegzudiskutieren, sondern sie aus der eigenen Position heraus zu beantworten.

"Wie bitte -Wahlalter Null?" Wenn Säuglinge und Kleinkinder nicht zur Wahl gehen, ist das kein Grund zur Diffamierung der Forderung, die Wahlaltersdiskriminierung abzuschaffen. Die Selbstverständlichkeit, dass Säuglinge und Kleinkinder sich wahrlich nicht mit politischen Dingen beschäftigen, muss nicht in den Perfektionismus münden, die "wirkliche" Altersgrenze für das Wahlrecht neu zu definieren. Niemandem schadet es, wenn die untere Altersgrenze nicht gezogen wird. Und ist es so schwer zu erkennen, dass es nicht darum geht, mit dem Wahlrecht für Kinder die Wirklichkeit abenteuerlich zu verbiegen, sondern nur darum, jedem ohne Einschränkung die politische Selbstbestimmung offenzuhalten, wann immer er von diesem Menschenrecht Gebrauch machen will?

Politische Entscheidungen werden immer auch mit Blick auf die Wähler getroffen. Wie reagieren die Wähler, die unter 18 Jahre alt sind? Diese Frage ist gänzlich neu, und erst sie führt dazu, Kinder tatsächlich ernstzunehmen und bei den politischen Entscheidungen überhaupt zu berücksichtigen. Nicht aus Großzügigkeit, sondern aus Notwendigkeit. Es gibt in Deutschland 13 Millionen Menschen unter 18 Jahren. Selbst wenn nur 20 Prozent zur Wahl gehen sollten, sind das noch gut zweieinhalb Millionen Stimmen. Daran kommt kein Politiker vorbei. Die Kinder haben jetzt Macht - gesellschaftliche, politische Macht. Allein ihre Stimmzettel verleihen ihnen dieses Gewicht. Es ist durch nichts zu ersetzen. Großzügigkeit und Freundlichkeit können jederzeit widerrufen werden. Gegen die Macht, die aus den Stimmzetteln kommt, gibt es jedoch kein Mittel.

Wenn Kinder politisch gleichwertig sind und einige Male an Wahlen teilgenommen haben, wird man ihnen mit einer anderen Achtung begegnen. Im Einkaufszentrum, im Bus, im Schwimmbad erlebt man dann nicht unmündige Kinder, sondern Wahlbürger. Wahlbürger Kind. Von der psychologischen Aufwertung für die Kinder selbst ganz abgesehen. "Ich bin nicht unwichtig - ich bin wichtig. Ich entscheide mit. Meine Stimme zählt."

Die Politiker werden bemerken, dass die Pädagogik die Kinder unrealistisch sieht. Sie werden erkennen, dass Kinder bereits vollwertige Menschen sind und nicht erst dazu gemacht werden müssen. Die gesamte Forschung wird neu konzipiert, denn wer die Realität des Kindes tatsächlich erfasst, hat das erfolgreichere Wahlprogramm und gewinnt die Wahl. Nicht mehr pädagogische Lehren werden die Beziehungen zu Kindern bestimmen, sondern die Kinder selbst werden die Erwachsenen lehren, wie sie die Kinder richtig ansprechen können und wie Kinder ihre Beziehungen mit den Erwachsenen gestalten wollen. Die Erwachsenen werden ebenso ihre Vorstellungen hierzu einbringen, es gibt ein neues Miteinander auf gleicher Augenhöhe. Wer dem nicht folgt, verliert seinen gesellschaftlichen Einfluß - denn die Konkurrenz, die sich auf diese Realität einstellt, gewinnt die Wahl. Die neuen Machtverhältnisse sehen die Kinder als Machtpartner, gleichberechtigt neben den anderen Gruppen der Gesellschaft. Die politische Emanzipation bewirkt unaufhaltsam die Gleichwertigkeit auch in den menschlichen Beziehungen.

Richard Farson in "Birthrights":
"Wir sind stolz darauf, dass vorangegangene Generationen einsichtig genug waren, das Wahlrecht nicht von Besitz, Bildung, Wissen, Rasse, Geschlecht oder Vermögen abhängig zu machen. Wir berauben einen Menschen, der das Greisenalter erreicht hat, nicht dieses Rechts, ebensowenig wie wir irgendeinen der Millionen - nicht in Krankenhäusern erfassten oder behandelten - Alkoholiker, Neurotiker, Psychopathen oder Fanatiker der verschiedensten Richtungen davon ausschließen. Aber das Kind schließen wir aus." (R. Farson, Birthrights: A Bill of Rights for Children, USA 1974)

Die Kinder erinnern die Erwachsenen an ihre eigene Kindheit und an die Ohnmacht dieser Zeit. Erwachsene können sich heute wie die Geschwister ihrer Kinder sehen, die Fraternité der Französischen Revolution wird als Geschwisterlichkeit zu einer neuen Kraft. Wer mit diesem veränderten Bewußtsein seinen Kindern in die Augen sieht, erkennt ihren Anspruch auf Selbstbestimmung und Teilhabe an der Macht.

Die Erwachsenen haben mit Wahlgesetzen dafür zu sorgen, dass ein Kind auch tatsächlich von seinem Wahlrecht Gebrauch machen kann, wenn es das will. Dass Kinder den uneingeschränkten Zugang zu Wahlveranstaltungen haben wie Erwachsene. Dass sie an die gewünschten Informationen herankommen. Dass Eltern sich dem politischen Engagement der Kinder nicht in den Weg stellen. Dass Kinder in einer druck- und angstfreien Atmoshäre wählen können. Dass niemand sie daran hindert, wenn sie zum Wahllokal gehen wollen.

Das alles sind große Aufgaben und Pflichten, und es wird erheblicher Anstrengungen der Erwachsenen bedürfen, bis die Demokratie auch für Kinder Realität ist. Und dies geht bis in die Details: Dass die Schreibpulte in den Wahlkabinen sowohl für große als auch für kleine Menschen geeignet sind. Dass jemand, der noch nicht lesen kann, eindeutige Symbole auf den Wahlzetteln vorfindet. Dass die Wahlurnen so niedrig aufgestellt werden, dass ein Kind seinen Wahlschein ohne Mühe hineinwerfen kann...

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Sehr ausführlich dargestellt habe ich die gesamte Thematik in meiner Broschüre "Kinder in der  Demokratie: Politische Emanzipation - Deutsches Kindermanifest - Wahlrecht für Kinder", bei mir zu beziehen für 3.-

Mittwoch, 26. Oktober 2016

Die Würde und Hundertmal


 »Die Würde des Kindes ist unantastbar«. Diesen Satz gibt es nicht. Nicht im Grundgesetz (dort heißt es »Die Würde des Menschen ist unantastbar«) und nicht im Alltag. Was heißt schon »Würde des Kindes«? Und wenn es so etwas wie die Würde des jungen Menschen wirklich geben sollte, was soll dann das mit dem »unantastbar« sein? Das ist doch ganz lebensfremd und unrealistisch. 

»Ich hab Dir doch schon hundertmal gesagt!« Na ja, das geht da rein und da raus. Aber etwas bleibt doch hängen, dieser Unterton nämlich. Diese Selbstverständlichkeit das Hundertmalsagers, dass er das hundertmal sagen --- darf. Ja: darf. Darf er das? So etwas sagen? So mit einem anderen Menschen umgehen? Will ich so etwas haben in meinem Leben? In meinem kleinen Kinderleben? In meinem großen Erwachsenenleben? Es ist völlig klar: Ich will das wirklich nicht! Was fällt dem anderen ein, sich so über mich zu erheben? Sich so über mich zu empören? Mich so blöd dastehen zu lassen? Es ist zum Kotzen. Die Würde ist dahin...

Wenn sie denn dahin ist. Denn die Würde ist eine sehr geheimnisvolle Angelegenheit. Sie wohnt in mir. Sie wohnt in jedem. Egal, wie alt er ist. Sie wohnt in jedem Kind. Sie wohnt in Corbinian, wenn er zum hundertsten Mal nicht mit dem Stuhl vor die Heizung kippeln soll. Sie wohnt in Kilian, wenn er zum hundertsten Mal nicht diese Töne drauf haben soll. Sie wohnt einfach in den Menschen – und eigentlich geht sie auch nicht weg. Sie wird nur gezerrt, geschlagen, gebeutelt, missachtet.

Könnte der Würde ja auch egal sein, wenn sie gehauen wird. »Wer bist Du denn? Was willst Du? Zum hundertsten Mal? Versteh ich nicht. Was ist denn Dein Problem? Kannst Du Kippeln nicht leiden? Ich schon. Macht doch Spaß. Kannst Du meine Supertöne nicht leiden? Ich schon. Sie kommen so gut aus dem Bauch.« Die Würde kann auch alles abschmettern, was da an Sauereien auf sie losgelassen wird. Besser: Könnte.  

Ja, wenn man denn so stark ist. Wenn man denn so gut im Sattel sitzt. Dass die Lanze einen nicht abwirft. Wenn. Wer ist aber so stark? Dass man die Attacken der anderen abgleiten lässt? Und noch verstärkt: Wenn man den Angreifer in seiner Not sieht und ihm noch die zweite Wange anbietet? Sicher ist so etwas denkbar, aber doch nur theoretisch. Nicht im wirklichen Leben. Da ist man einfach angemacht von diesen Wütereien, von diesem Hundertmal.

»Die Würde ist unantastbar« kann man auch so lesen, dass, egal was kommt, alles von der Würde abprallt. Die Würde hat eine bombastische Unantastbarkeitshornhaut, da kommt keiner gegen an. So ist das aber nicht gemeint. Es ist so gemeint, dass die Würde etwas Verletzbares und Verletzliches ist, etwas, das gut beschützt sein will. Wie Kinder eigentlich, kleine zumal. Sind so kleine Hände. Da liegt eine seltsame anrührende bis rührselige Vorstellung vor. Ich muss mich für Deine Würde in die Bresche werfen. Weil Du so schwach bist und die anderen so stark sind. Das schreiben wir gleich mal hoch, ganz hoch, ganz nach oben, ins Grundgesetz. Damit wird die Würde sehr klein geschrieben: weil sie so superschutzbedürftig ist.

Die Würde ist stark. Sie ist Teil von uns. Sie ist Identität. Ich bin. Ich bin meine Würde. Niemand kann sie mir nehmen. Jeder kann sie antasten, bittesehr, aber das macht der Würde nichts. Lang nur zu – das verletzt mich nicht, das prallt an mir ab. Diese Sicherheit spüre ich tief in mir drin. Wirklich. Ich, Hubertus, Schreiber dieser Zeilen. Aber nur dort, wo sie gut versteckt ist, hinter den sieben Bergen, in meinem innersten Land. Das Hundertmal erreicht diesen Kern meines Ich nicht. Vorher, im Bergland davor, da wird  rumgeholzt. Und da zeige ich mich nicht mehr. Da renn ich weg, hinter den letzten Berg. Mein Blick geht nach unten, mein Gesicht ist erstarrt, mein Mund ist verschlossen. »Los, antworte!« der Andere spürt seine Ohmmacht. Er will in den heiligen inneren Bereich. Doch nichts da! Aus und vorbei für Dich. Ab hier wohne ich! Ab hier ist mein Land, meine Harmonie, mein Glück, meine Seligkeit. Da kommst Du niemals hin.

Kinder, die sich in diese geheimen Verstecke zurückziehen. Wir, die wir uns in unsere geheimen Verstecke zurückziehen. Hundertmal kommt da nicht mehr ran. Die Verbindung ist abgerissen. Hundertmal ist draußen vor. Hundertmal ist ein Erwachsener, ein Feind. Er wütet. Er bedrängt mich. Er meckert. Er will meine Hände, meine  Füße, meine Sprache, er will meine Gedanken. Er will auch mein Herz. Und meine Seele. Er will mich. Er ist ein Allesfresser, ein Vielfraß, ein Seelenhai. Er ist einfach ein Monster.  

Wir sind nicht immer Monster für die Kinder. Aber immer wieder. Oft genug. Wozu ist das nötig, gut, wichtig? Wozu wird das gebraucht? Was fährt in uns, »hundertmal« zu sagen und Herr und Frau Hundertmal zu sein? Na ja, so ist das eben. Das hat seinen biografischen soziohistorischen psychoquarkigen Hintergrund, allemal. Wir sind eben so, geworden, und fallen in diesen Hundertmalwahn, dreimal am Tag, süchtig, nach dieser Droge, dieser Kinderfresslust, wild auf ihre Hände, ihre Füße, ihre Sprache, ihre Gedanken, ihr Herz, ihre Seele.  

Meine Güte! Aber was denn sonst? Gibt es einen Alltag mit Kindern ohne Hundertmal? Habe ich noch nicht erlebt. Ich bin selbst oft genug Hundertmal, und alle anderen, die ich kenne auch. Abzüglich der Kinder: die das noch nicht sind. Gehört so etwas zum Menschen? Zum erwachsenen Menschen? Dieses Hundertmal? Kann ich mir nicht vorstellen, dass die Natur oder der liebe Gott das ursprünglich so eingerichtet haben, dass das zum Überleben der Menschen wichtig ist, so eine Herbabsetzungsorgie. Ist nur so gekommen. Vielleicht liegts am Klima nach der Eiszeit, am Lifestyle seit 10.000 Jahren, seit Sesshaftigkeit statt Jagdkultur, seit Zaun (für die gezähmten Haustiere) statt freiem Raum (für alle Lebewesen auf gleicher Augenhöhe). Wer weiß, wo das herkommt. Aber es ist da.

Und ich mag das nicht. Nicht besonders. Überhaupt nicht. Ich möchte das Zauberkraut gegen das Hundertmal haben. Feenkraut – find ich gut! (Hotzenplotz). Und dann sehe ich Corbinian mit seinen 4 Jahren kippeln und halte ihn ganz beiläufig an (nicht fest). Zärtlichkeit im Alltag. Und höre mir Kilians Töne an und denke »nimm ihn auf den Arm«  und dann tu ich es, auch wenn er schon 6 ist und schwer ist. Ich drehe seinen Kopf dabei so, dass mir diese Superfrequenzen nicht voll vors Trommelfall donnern. Eine leichte beiläufige Kopfwegdrehung. Ist schon gut. Er beruhigt sich. Der eine hört mit den Tönen auf, der andere hört mit dem Kippeln auf. Das Leben geht weiter, undramatisch, wenn wir kein Drama daraus machen, einfach so. Hundertmal ist nicht gekommen.

Wo ist Hundertmal? Nicht da. Ist es fort gegangen? Jetzt jedenfalls. Kommt es wieder? Sicher. Aber bis dahin erst mal nicht. Seine Abwesenheit wird nicht bedauert. Sie wird auch nicht gefeiert. Es ist endlich das Normale passiert: Miteinanderumgehen ohne die Würde des anderen anzutasten.

Egal, was die Kinder anstellen, machen, danebenhauen, ekelkotzen, giftspritzen, sonstwas: es ist immer voll Sinn, voll ihres Sinnes, so, wie das gerade in ihnen ist. Immer Ausdruck ihrer Würde. Wie kann man das nur so übersehen?! Fehlt da das Gefühl für die eigene Würde? Für die Wucht und Dringlichkeit und Unhinterfragbarkeit und Berechtigung und Unantastabarkeit der eigenen Würde, um das, genau das beim andern zu sehen, beim Kind zu sehen und gelten zu lassen? Sicher. So wird es schon sein. Wir sind würdetraumatisiert, würdegeschädigt, würdegeschändet, ein Kinderleben lang Hundertmal. Ein Erwachsenenleben lang Hundertmal. Oh Mann, ist schon schlimm, so eine Scheiße.  

Aber: da gibt es ja noch den Geist, den Verstand, das Reflektieren, das Meditieren, das Nachsinnen: Könnte doch auch anders gespielt werden, die Sache mit der Würde. Mit der Würde des Kindes. Mit meiner Würde. Man könnte doch auch die Finger davon lassen. Wäre auch ein Weg. Erkannt – Gebannt. So schnell wird's nicht gehen, aber es ist ja schon mal ein Fortschritt, zu erkennen: »Die Würde des Kindes ist unantastbar.«

Wenn es mir gelingt, in den Streitereien mit den Kindern ihre Würde nicht zu verlieren. Wenn ich meine eigene Würde nicht angegriffen fühle durch ihre Aktionen und Aktiönchen. Wenn ich mir meines Wertes sicher bin. Wenn ich mir ihres Wertes sicher bin. Dann klappt das auch, das mit dem ohne Hundertmal.

Wie werde ich mir meines Wertes und meiner Würde so sicher?  Das macht jeder auf seine Weise. Wenn er es denn macht. Wer nichts mehr in sich spürt an eigener Würde, für den weiß ich nichts. Ehrlich und wirklich. Wer aber etwas merkt, so ein Würde-Würzelchen oder gar einen großen Würde-Baum, dem sage ich: lass uns doch darauf setzen, lass es uns hervorkramen, lass es uns auf die Lebensfahnen schreiben, aus dem Autofenster flattern: Ich bin voll Würde! Jeder ist voll Würde.

Als Kapitän Hook nach langem Kampf von Peter Pan besiegt ist, verliert er zum Schluss ihres Gerangels seine – Haare. Er steht mit Glatze da. Er hatte eine Perücke getragen! Dieser wilde Kerl hat eine Perücke! Lächerlichkeit kommt auf. Aber: Sein Gesicht! Alle halten eine Sekunde den Atem an. Es wird intim, fast superpeinlich. Und dann kommt sein erlösender Satz: »Gebt mir  meine  Würde wieder.« Und Peter gibt ihm die Perücke, die Würde zurück. Und Kapitän Hook, dieser Bösewicht mit Würde wie jeder Mensch, er setzt sie auf, und alles ist wieder im Lot.

Geben wir den Kindern ihre Perücke, ihr Gesicht, ihre Würde, sie dürfen es nicht verlieren – das ist der Zuruf. Die Kunst. Der Zauber. Und dann geht so viel. Dann hören sie zu. Dann hören sie auf zu kippeln und auf zu tönen. Dann tun sie ja, was man von ihnen will, dann bricht der Friede aus. Das ist alles nicht verboten. Das kann man in seinem Leben, in seinem Nachdenken und sogar in seinem Tun auch dabei haben. Im Angebotskoffer. Und manchmal, wenn die Sonne scheint, dann wirklich machen: »Hundertmal – Du bist heute nicht dran. Dafür ist das Wetter zu gut. Geh jetzt.« Und dann geht Hundertmal, und die Würde des Kindes ist unangetastet, sie strahlt und fängt uns ein.

Dienstag, 25. Oktober 2016

Das hätten sie nicht gedacht!

In einigen Kommentaren zu meinen Posts spüre ich ein Unbehagen: Du übersiehst das Bemühen von Eltern und Fachleuten, neue kinderfreundliche Wege zu erkunden, erste Schritte zu tun weg vom Oben-Unten hin zur Beziehung auf gleicher Augenhöhe. Du bist so pauschal und so schwarz-weiß: Nur Amication ist richtig, den Rest kann man vergessen. Irgendwie arrogant und kontraproduktiv, denn Du willst doch Menschen für die Amication gewinnen.

Also: Da überseh ich nichts. Auf meinen Veranstaltungen erlebe ich immer wieder Eltern und Fachleute, die sich zu lösen beginnen vom traditionellen Erziehungs-Oben-Unten. Intuitiv, ohne Theorie, mit dem Herzen fühlend, absprungbereit, erste Schritte wagend, oder schon voll im (nicht)pädagogischen Neuland unterwegs. Dies ist für mich anrührend zu sehen, und ich wünsch mir viele viele solcher Erwachsener.

Meine Texte und meine Vorträge und Seminare sind voll Klarheit und Wahrheit: Erziehung hier - Nicht-Erziehung/Amication/Postpädagogik dort. Mit intellektueller Kraft sehe ich den Unterschied, und ich trage diesen Erkenntnisimpuls gern und beschwingt weiter und male freudig meine Wortbilder. Ohne Intuitives herabzusetzen, ohne das Suchen, Fragen, Beginnen, Zweifeln abzutun!  Und bei all meiner intellektuellen Klarheit nehmen sie auch meine Herzenswärme wahr, aus der heraus ich all dies überhaupt erst hervorhole. Ich bin als Botschafter unterwegs, als Kind im Erwachsenenland. Meine intellektuelle Trennschärfe wird von den meisten Menschen, die mir zuhören, gern (!) angenommen, durchaus auch staunend, dass das, was sie spüren, bereits einen solchen fulminanten Überbau hat.

Das hätten sie nicht gedacht! Und sie sagen, dass ihnen das hilft, weiter auf ihrem Weg zu den Kindern zu gehen, dem Weg, den sie als für sich richtig erfühlt haben. Und sie bedanken sich für diese Hilfe beim Emanzipieren von all den Normen eines "richtigen" Umgangs mit Kindern, die in ihnen rumspuken und die so viel Macht in ihnen haben. Und die von so vielen einflußreichen bis renommierten Persönlichkeiten zustimmungsheischend daherkommen: von Aebli, Böhm, Bosco, Brezinka, Brunner, Cohn, Comenius, Dewey, Diesterweg, Dilthey, Flitner, Freinet, Fröbel, Ftenakis, Gagné, Gordon, Herbart, Humboldt, Jegge, Juul, Kant, Kerschensteiner, Klafki, Korczak, Hentig, Litt, Makarenko, Meves, Mollenhauer, Montessori, Neill, Nohl, Pestalozzi, Piaget, Pikler, Pawlow, Petersen, Platon, Prekop, Reich, Rousseau, Roth, Schleiermacher, Skinner, Sokrates, Spranger, Steiner, Uschinski, Wild, Wyneken, Ziller, Zulliger, Hinzius und Kunzius. Die in all den Fachbüchern und Erziehungsratgebern stecken, dass ihnen ganz schwindelig wird. Ganz abgesehen davon, was sich in ihnen angebraut hat, wie sie sein sollten, als ihr erstes Kind kam. Sie wollen sich davon lösen, weil sie das alles ungut finden. Und da komm ich ins Spiel und biete ihnen halt etwas Medizin an, damit sie ihr Gleichgewicht besser halten können. Eine spezielle Mixtur aus Intellekt und Emotion, Emanzipation und Gelassenheit, Selbstliebe und Empathie, Zweifellosigkeit und Überzeugtheit, Starkwirkung knapp vorm Eingebildetsein.

Diese amicative Medizin ist dem einen süß, dem anderen bitter. Ich aber freu mich, wenn sie hilft. Und biete heute gleich ein paar weitere Bronchi-Tropfen gegen den pädagogischen Husten an und poste flink noch einen Blog aus meiner Bücherkiste: "Echt jetzt?"

Echt jetzt?


Anfang der 1970er Jahre wird die Erwachsenen-Kind-Beziehung einer bislang ungekannten Analyse unterzogen. Wissenschaftler und Forscher beziehen einen neuen Ausgangspunkt. Sie fragen nicht mehr in einem pädagogischen und objektiven Sinn "Was ist wirklich gut für das Kind?", sondern sie fragen von einer authentisch-personalen Basis aus: "Was will ich eigentlich in der Kommunikation mit Kindern?" Sie verlassen das Selbstverständnis eines zur Erziehung aufgerufenen Vormunds. Wobei sie nicht in Gefahr geraten, die Kinder nun zu ihrem persönlichen Vorteil auszunutzen. Sie sehen auf die hinter jeder Erziehung real existierenden Menschen, denen sie auf der existentiellen Ebene begegnen wollen: "Wer bin ich - wer bist Du?"

Von dieser Basis her wird ein neuer Weg zum Kind eingeschlagen, der nicht von pädagogischer Sichtweise vorgezeichnet ist, sondern unverstellt und radikal-ehrlich: Von Ich hin zur subjektiven Identität eines jeden jungen Menschen. Diese in der Postmoderne gründende Position geht von der existentiellen Gleichheit der Menschen und ihrer Erkenntnisse aus und verläßt damit Pädagogik und Erziehung mit ihrem im objektiven Denken begründeten Führungs- und Formungsauftrag.

Der Erwachsene hat nun im Umgang mit Kindern ein von Erziehung freies Selbstverständnis. Er wendet sich zwar von der Erziehung ab, nicht aber vom Kind. Er will ja die Kommunikation mit Kindern, jedoch ohne jegliche Erziehung. Er betritt das Land des Kindes mit den vielen Facetten seiner Persönlichkeit, mit Ideen, Vorschlägen, Kritik, Erklärungen, Ermutigungen, Ängsten, Grenzen, Hoffnungen, Mut. Mit all dem, was ihm selbst aus seinen eigenen, subkjektiven Gründen wichtig ist, in die Beziehung zum Kind einzubringen. Er kommt ohne Formungsauftrag, ohne List und ohne pädagogische Mission. Er kommt authentisch, als Person. Er verlagert nicht das Zentrum seiner Konzentration in das Kind, wenn er mit Kindern zusammen ist. Er bleibt bei sich und übernimmt Verantwortung für die Person, die ihm zuallererst anvertraut ist: für sich selbst.

Der postpädagogische Erwachsene sucht seinen Weg zum Kind also vom Ich her. Das existentielle "Wer bin ich?" wird begleitet vom "Wer bist Du?". Methoden und Techniken, Strategien und Didaktiken, Persönlichkeitsschulung und Kommunikationstraining, Vorbereitung und Supervision, Zielbestimmung, Motivation, Evaluation, Analyse ... - all das, was in der pädagogischen Kommunikation mit mühevollem und kräftezehrendem Einsatz realisert wird, kann entfallen. Der Erwachsene erwacht wie aus einer Betäubung, entlastet und befreit. Dies bewirkt, dass er - bei sich selbst angekommen - eine spezifische Einfühlung entfaltet, die nur jenseits von Pädagogik und Erziehung existiert. Mit dieser postpädagogischen Empathie hat er immer wieder die Chance, das Kind wirklich zu verstehen und die Wichtigkeiten und Bedürfnisse des Kindes mit den eigenen Vorstellungen zu einer authentischen Praxis zu verbinden.

Montag, 24. Oktober 2016

Kinderzigaretten

Ich erzähle ein Beispiel aus meinem erziehungsfreien Erleben. Aus meinem Forschungsprojekt zur Erkundung der Amication. Wie jedes Verhalten wird auch die erziehungsfreie Praxis von den Persönlichkeiten der Handelnden geprägt. Und was für den einen erziehungsfreien Erwachsenen möglich ist, ist es für den anderen noch lange nicht. Wieviel man zuläßt oder untersagt ist nicht das Kriterium für erziehungsfreies Verhalten, sondern es kommt wie stets auf die innere - erziehungsfreie - Haltung an. Diese lebt allerdings in mir und meinem Tun. Ich folge dabei dem Insgesamt meines Wissens, meiner Erfahrung, meiner Gefühle, der Situation: Aus all diesem komponiert sich der Impuls, der mich handeln läßt.

Ich bin Nichtraucher aus Überzeugung und habe nie geraucht.

"Uns fehlen noch 50 Cent." Doris und Bärbel (beide 13 Jahre alt) wollen sich Zigaretten kaufen. Wenn sie erwachsen wären, wäre es kein Problem für mich, ihnen die 50 Cent zu geben. Ab 16 dürfen sie offiziell rauchen - machen drei Jahre den Unterschied? Ich bin froh, dass ich mit ihnen allein bin und gebe ihnen das Geld. Ich erfülle eine Bitte, und dies ist selbstverständlich.

"Können wir die Zigaretten bei Dir lassen? Wenn zu Hause gemerkt wird, dass wir welche haben, kriegen wir Ärger." Sie vertrauen mir ihre Zigaretten an. Als sie zu Hause sind, sehen mich die Zigaretten auf der Fensterbank an. Mache ich mit, wenn sie sich ihre Gesundheit ruinieren? Sie haben mir etwas anvertraut, und ich habe ihnen geholfen. So, wie ich meinen erwachsenen Freunden auch helfe. Natürlich kennen sie das Raucherrisiko, das ist überhaupt nicht das Problem. Es geht um ihre eigene Lebensführung, und da unterstütze ich sie. Das Gerede von "gesundheitsgefährlich" mit dem Ton "aber ihr müßtet doch..." mißachtet ihre Würde.

"Spendierst Du uns eine Schachtel Zigaretten?" Doris und Bärbel haben Lungenschmacht. Aber ich habe keine Lust, ihr Rauchen so massiv zu fördern. Eine ganze Packung - da mache ich nicht mit. Ist das anders, als wenn ich ihnen das fehlende Geld für eine Packung gebe oder ihre Zigaretten bei mir zu Hause aufbewahre? Mein Gefühl signalisiert mir einen Unterschied, auf den ich mich verlasse. 50 Cent zuschießen ist eine freundschaftliche Geste, Zigaretten aufheben ist Vertrauenssache. Eine ganze Packung kaufen ist mir zu viel. Ich find meine Grenze willkürlich, aber ich akzeptiere mein Gefühl. Und sie verstehen mich.



I

Sonntag, 23. Oktober 2016

Warum "Unterstützen statt erziehen"?

Warum ist Ihrer Meinung nach „Unterstützen statt erziehen“ die richtige Methode im Umgang mit dem eigenen Kind?

Niemand, auch ein Kind nicht, hat es gern mit jemandem zu tun, der einem belehrend, missionarisch oder erzieherisch daherkommt. Und das ist auch gar nicht nötig. Man kann als Vater oder Mutter den Kindern ohne erzieherischen Anspruch sagen, was zu sagen ist. Kinder orientieren sich an solchen authentischen Botschaften, setzen sich damit auseinander und wachsen daran. Erziehung wirkt viel zu aufgesetzt und wird von den Kindern nicht wirklich ernst genommen. Man läuft dann gegen eine Wand stiller oder lauter Ablehnung. Mit dem Modell „Unterstützen statt erziehen“ vermeidet man dieses ungute Theater und bringt Leichtigkeit ins Spiel. Man kann hier eine neuartige Verantwortung den Kindern gegenüber übernehmen und einfach viel Erfolg haben.

Können Sie Beispiele für Situationen nennen, in denen Eltern ihren Kindern besser auf gleicher Augenhöhe begegnen?

Dass man sich bei aller Überlegenheit nicht über den anderen emporschwingt, ist immer möglich. Das gilt für den Arzt oder Werkstattmeister ebenso wie für Eltern. Patienten, Kunden oder Kinder reagieren auf diese Gleichwertigkeit trotz Überlegenheit positiv, sie fühlen sich geachtet und können dann auch Ratschlägen leicht folgen. Die Oben-Unten-Ausstrahlung, wie sie in der traditionellen Erziehung in bester Absicht gang und gäbe ist, kann man ablegen. Das ist kein Verlust an Autorität, sondern eine neuartige Autorität, die in der Würde aller Beteiligten gründet. Und gilt für alle Situationen des Alltags mit Kindern.

Wo liegen die Grenzen dieser Methode und besteht nicht die Gefahr, daß die Kinder sie zu ihren Gunsten ausnutzen?

Es geht nicht um antiautoritäres Zurückweichen. Vater und Mutter stehen zu ihren Werten und Grenzen und setzen sie durch, ohne Zimperlichkeiten. Ein Nein ist ein Nein. Man muß den Kindern dabei aber nicht mit oder ohne Worten vermitteln, dass man dann der bessere Mensch ist. „Sieh ein, ich habe recht!“ bedeutet einen seelischen Übergriff auf das Kind. „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ ist kraftvoll und ohne eine solche Verletzung. „Unterstützen statt erziehen“ geht in jeder Lebenslage, niemand läßt sich dabei ausnutzen.

Warum denken Sie, dass sich die Liebe zu seinem Kind nur wirklich entfalten kann, wenn man sich selbst so liebt, wie man ist?

Wir haben damals als Kinder gelernt, daß wir erst zu richtigen Menschen erzogen werden müßten. Davon, daß wir uns selbst akzeptieren und lieben dürften, war nicht die Rede. Das war schlimm genug. Muss aber nicht das letzte Wort sein. Jeder kann, darf und sollte sich lieben, wie immer er ist und was immer er tut oder denkt! Das ist eine Grundentscheidung für das eigene Leben, und ich persönlich bin davon überzeugt, Liebe und Ebenbild Gottes zu sein. Diesen Glauben an sich selbst und seine Konstruktivität kann sich jeder zurückholen. Und dann sieht man kraftvoll, erfüllt und dankbar auf die Kinder, die einem anvertraut sind. Sie sind Teil der unendlichen Liebe wie wir selbst.

Samstag, 22. Oktober 2016

Honig, pures Glück



Hast Du genascht?“ Das Honigglas steht auf dem Tisch vor mir, es ist offen, der Deckel liegt auf dem Tisch. Der Finger, der eben noch süß im Mund war, ist blitzschnell verborgen in der anderen Hand. Ich bin gelähmt, erstarrt. Die Sonne, das Licht, die Bienen, der Garten draußen mit all den Blumen und den Düften, die klangvolle Sommerwelt: aus. Eine dunkle Wolke dringt von der Stimme hinter mir in die Küche.

Ich seh doch, dass Du genascht hast!“ Ich will all das schützen, bewahren, bergen. All das, was gut, heilig, schön, prächtig, liebevoll ist. Den Honig im Glas, die zigtausend Bienen, die mir ihr Geschenk gemacht haben, die Freude, die vom Mund aus in mich hineinzieht, der erfüllte Wunsch, die Verheißung: Du kannst glücklich sein. Honig, pures Glück.

Nein.“ Ich will mir das nicht entreißen lassen, wegstehlen lassen, schlechtreden lassen. Ich bin im Rosenland unterwegs, im Honigland, im Lichtland. Diese verhexende Dunkelheit in meinem Rücken, ich spür ja, wie sie stärker wird, der Schicksalstornado rast heran. Ich kenne das ja, ich werde mitgerissen werden, zerschellt irgendwo stranden, zerschlagen, gedemütigt, herabgesetzt, vertrieben.

Zeig her!“ Die Finger der Bergehand werden aufgestemmt, der Honigfinger triumphierend hochgerissen, Beweis meiner Unartigkeit, Türöffner für die folgende Seelenfingerei. Grenzüberschreitung, Willkür, Gehirnwäsche. Ich bin chancenlos, ich bin ausgeliefert, mein Herz, meine Seele, meine Liebe: beiseite gestoßen, Pech und Schwefel über mich.

                                                ***

Hast Du genascht?“ Ich bin erschrocken, fahre hoch... und weiß mich doch geborgen. Klar habe ich genascht, wie die Großen das nennen. Ich bin dem Honig gefolgt, der Einladung der Bienen, des Lichts und des Lebens, des Sommers und der Blumen. Er steht uns Kindern zu, dieser Honig, ein Finger voll, viele Finger, das ganze Glas. Die Wucht der Richtigkeit meines Seins und die Wahrheit des Honigs tragen mich. Die Stimme hinter mir schwingt ein, sie ist so süß wie der Honig im Glas.

Willst Du auch?“ Schnelle Schritte, Einverständnis der Herzen, leuchtende Augen, wir lachen, und es tut gut. So viel Friede, so viel Freude. So viel Vertrauen, so viel In-die-Seele-Sehen. Ja, wir sind auch verschmitzt. Wir wissen schon, was die Großen davon halten. Aber sie sind fern, wir sind geschützt durch die Macht des Honigs und durch unseren Glauben an uns selbst. Wir schließen das Glas, klettern durchs Fenster und laufen in unser Glück.


Donnerstag, 20. Oktober 2016

Lieber Thomas Gordon

Das Gefühl für die Gleichwertigkeit von Kindern ist nicht leicht zu erlangen. Es gibt vieles, das man sich klarmachen kann, per Nachdenken. Aber der Ausstieg aus dem Oben-Unten-Gefühl ist schwer. Ich stelle einen Text vor, mit dem man etwas von dem Unrecht fühlen kann, das in der pädagogischen Sicht auf Kinder steckt. Allerdings muss dieser Text auf eine besondere Art gelesen werden.

Lesen Sie die zwei Passagen aus dem Buch von Thomas Gordons "Familienkonferenz" erst einmal aufmerksam durch. Die besondere Art, diesen Text zu lesen, erkläre ich danach. Es sind zwei kurze Passsagen dieses viel gelesenen Erziehungsratgebers (S. 120 und 203):

    Die Eltern in unseren Kursen begrüßen es sehr, darin unterwiesen zu
    werden, wie sie kindliches Verhalten modifizieren, das für sie
    unannehmbar ist. Manche erklären im Kursus: "Ich kann es kaum
    erwarten, nach Hause zu kommen und es an etwas auszuprobieren,
    das mein Kind zu meinem Ärger seit Monaten getan hat."

    Kinder wie Erwachsene behandeln
    Die Niederlage-lose Einstellung nach Methode III gibt den Kindern
    zu verstehen, dass ihre Bedürfnisse den Eltern auch wichtig sind und
    dass man den Kindern zutrauen kann, als Gegenleistung Rücksicht
    auf die elterlichen Bedürfnisse zu nehmen. Das heißt, Kinder ebenso
    zu behandeln, wie wir Freunde oder den Ehepartner behandeln.
    Diese Methode ist so wohltuend für Kinder, weil sie so gerne das
    Gefühl haben, dass man ihnen vertraut und sie als Gleichgestellte
    behandelt. (Methode I behandelt Kinder, als ob sie verantwortungslos
    sind und nichts im Kopf haben).

Besonders die zweite Textstelle hört sich gut an. Es geht ja darum, Kinder als Gleichgestellte zu behandeln. Wenn Sie Texte vor einem Hintergrund lesen, der Ihnen als diskriminierend bekannt ist, merken Sie ein Oben-Unten rasch und können die Herabsetzung (mit)fühlen. Zum Beispiel, in Texten, in denen Schwarze herabgestuft oder in denen Frauen verächtlich gemacht werden.

Lesen sie jetzt den Gordon-Text vor einem solchen bekannten Diskriminierungs-Hintergrund. Vor einem Hintergrund, wo Ihr Gefühl sofort Sturm laufen wird - weil da jemand nicht ernst genommen, nicht als gleichwertig eingestuft und herabgesetzt wird. Lesen sie ihn vor dem frauenfeindlichen Hintergrund. Damit Ihnen dieser diskriminierende Hintergrund präsent wird, habe ich die entsprechenden Schlüsselworte ausgetauscht: Statt "Erwachsene" lesen Sie "Männer", statt "Kinder" lesen Sie "Frauen". Lesen Sie und lassen Sie den veränderten Text auf sich wirken:

    Die Männer in unseren Kursen begrüßen es sehr, darin unterwiesen
    zu werden, wie sie weibliches Verhalten modifizieren, das für sie
    unannehmbar ist. Manche erklären im Kursus: "Ich kann es kaum
    erwarten, nach Hause zu kommen und es an etwas auszuprobieren,
    das meine Frau zu meinem Ärger seit Monaten getan hat".

    Frauen wie Männer behandeln
    Die Niederlage-lose Einstellung nach Methode III gibt den Frauen
    zu verstehen, dass ihre Bedürfnisse den Männern auch wichtig sind
    und dass man den Frauen zutrauen kann, als Gegenleistung
    Rücksicht auf die männlichen Bedürfnisse zu nehmen. Das heißt,
    Frauen ebenso zu behandeln, wie wir Freunde oder Kollegen
    behandeln. Diese Methode ist so wohltuend für Frauen, weil sie so
    gerne das Gefühl haben, dass man ihnen vertraut und sie als
    Gleichgestellte behandelt. (Methode I behandelt Frauen, als ob sie
    verantwortungslos sind und nichts im Kopf haben).

                                                  ***

Sie merken sofort, dass so ein Text unmöglich ist. Von der ganzen Art. Als wären Frauen irgendwelche Haustiere, die mit Möhrchen und Methode zu behandeln sind. Ihr Gefühl ist in dieser Problematik einfach weit entwickelt. Sie werden den Text nicht ernst nehmen oder abstoßend finden, wenn er denn ernst gemeint sein sollte. Selbstverständlich ist der Originaltext von Thomas Gordon für die Kinder ganz genauso diskriminierend! Nicht im Leben würde ich mir als junger Mensch so einen Text gefallen lassen. Bin ich ein Kaninchen, das mit Methode III im (Lauf)Stall zu zähmen ist? Thomas Gordon und die allermeisten Eltern und pädagogischen Fachleute lieben ihre Kinder - wie auch vor hundert Jahren die Männer ihre Frauen liebten. Doch das ist nicht das Problem. Es geht um etwas, das bei aller Liebe auch dabei ist, und entweder im Oben-Unten-Land oder im Gleichwertigkeits-Land zu Hause ist.  "Wir sind gleichwertig - fühlt es doch!" rufen uns die Kinder zu.

Mittwoch, 19. Oktober 2016

Klartext by Rousseau

In der modernen Pädagogik wird auf sanfte Durchsetzungstechniken
Wert gelegt, um dem Kind die "Einsicht" in die "Notwendigkeiten" -
das heißt allemal Erwachsenenvorstellungen - zu "erleichtern". Wie
"freundlich", "demokratisch", "partnerschaftlich" es dann "in
"Augenhöhe" mit "Ich-Botschaften" in "Kreisgespräch" und
"Rollenspiel" und in der "Familienkonferenz" und der "Lehrer-
Schüler-Konferenz" "menschenkundlich" und in "vorbereiteter
Umgebung" auch zugehen mag: die verheerende psychische
Herabsetzung des Kindes bleibt, da der pädagogische Erwachsene
nach wie vor - aus seinem Selbstverständnis heraus - die innere
Führung beansprucht und dem Kind die Fähigkeit, das eigene
Beste selbst wahrzunehmen, abspricht. Die heutigen "Freundlich-
keiten" kaschieren lediglich die bestehende grundlegende
Oben-Unten-Struktur, die Angriffe auf das Selbst des Kindes
und die psychische Missions-Aggression des Erwachsenen und
entziehen sie effektvoll der Thematisierung und Diskussion.

Diese "sanfte" Pädagogik hat lange Tradition. Schon der französische
Philosoph und Pädagoge Jean-Jacques Rousseau forderte 1760
in seinem Buch "Emile oder Über die Erziehung" (Reclam UB
901, 1963/2001, S. 265f.):

"Laßt ihn (den Zögling, H.v.S.) immer im Glauben, er sei der
Meister, seid es in Wirklichkeit aber selbst. Es gibt keine 
vollkommenere Unterwerfung als die, der man den Schein der
Freiheit zugesteht. So bezwingt man sogar seinen Willen ...
Zweifellos darf es (das Kind, H.v.S.) tun, was es will, aber
es darf nur das wollen, von dem ihr wünscht, dass es es tut."

Dienstag, 18. Oktober 2016

Du gibst Deine Ziele auf?

Ich höre weiter den beiden Einjährigen zu und übersetze. Luca und Paul sitzen auf ihrer Krabbeldecke und fachsimpeln. Über Konflikte mit ihren Eltern. Luca hat erzählt, dass er tut, was seine Mutter will - wenn er merkt, dass ihr Anliegen mehr Gewicht hat als seins. Aber was ist, wenn ihre Wünsche gleich dringlich sind?

Paul: Was machst du, wenn Dir etwas genauso wichtig ist?
Luca: Dann seh ich zu, dass passiert, was ich will.

P  Auch wenn Du merkst, dass es Deiner Mutter wichtiger ist?
L  Wenn meine Dringlichkeit zu 100 Prozent gegen ihre Dringlichkeit
     steht, sorge ich für mich.
P  Da hast Du keine Chance. Erwachsene sind immer überlegen.
L  Nein. Sie können nur die Hälfte aller Konflikte gewinnen.
P  Aber sie haben Macht.
L  Nicht nur sie. Sie haben Muskelkraft, Geld und intellektuelle
     Überlegenheit. Aber wir sind oft stärker: durch unsere
     psychologischen und psychosomatischen Machtmittel.
P  Du meinst unsere Emotionen und Töne?
L  Ja. Wenn Du die richtigen Gefühle ansprichst und genau die
     Frequenzen raushast, die zu Deiner Mutter passen, lässt sie Dich
     machen.
P  Meine Mutter nennt das Quengeln, Nörgeln, Jaulen, Heulen...
L  Hör auf, das ist die diskriminierende Sprache der alten Zeiten.
     Meine Mutter würde nie so von mir reden.
P  Weil sie merkt, dass Du nicht gegen sie, sondern für Dich bist.
L  Ja, das ist sehr entscheidend. Meine Machtmittel setze ich nie
     gegen sie ein, sondern nur für mich. Da muss sie sich nicht mit
     Diskriminierungen verteidigen.
P  Ihr habt einen ehrlichen Kampf. Von König zu König.
L  Mir kommt Autorität zu, ebenso wie ihr. Das kommt aus der
     Liebe zu uns selbst und ist nie gegen andere gerichtet.   
P  Du hast eine Königsbeziehung.
L  Ja.
P  Ich habe eine Erziehungsbeziehung. Erzieher oben, Zögling unten.
     Verschleiert als demokratisch-partnerschaftliches Verhältnis.
L  Es gibt auch eine Partnerschaft zwischen Herrscher und Sklave.
P  Es ist nicht wirklich von Gleich zu Gleich.
L  Weil sie meint, dass Du noch kein richtiger Mensch bist.
     Sondern erst einer werden musst. Durch Erziehung.
P  Geh mal in eine Universität und hör Dir an, was da über Kinder
     gelehrt wird.
L  Ich weiß, Pädagogik.

L  Ich kann mich aber oft genug auch nicht durchsetzen.
P  Und was machst Du dann?
L  Na, nicht das, was ich wollte.
P  Ich meine es nicht auf der Handlungsebene. Wie fühlst Du Dich
     dabei?
L  Also...
P  Wenn meine Mutter sich durchsetzt, geht es mir ganz schlecht.
     Erstens kann ich nicht tun, was ich will. Handlungsebene. Das
     ist schlimm genug. Aber dann kommt noch ihr "Sieh das ein"
     und "Ich habe recht" und "Es ist für Dich besser so". Diese
     Selbstverständlichkeit, diese Arroganz, diese Finger in meiner
     Seele!
L  He, beruhige Dich. Sie ist nicht da. Ich versteh Dich. Es ist
     schrecklich, wenn Erwachsene so drauf sind.
P  Am schlimmsten ist, dass sie nichts, absolut nichts davon merkt,
     was bei mir abläuft. An Selbstwertzweifeln. Und Schuldgefühlen.
     Weil ich wieder etwas verkehrt gemacht haben soll.
L  Das kann sie nicht merken, weil sie voll bester Absicht ist. Sie
     liebt Dich. Sie meint, dass sie Dir etwas Gutes tut, wenn sie sich
     so um Deine Einsicht bemüht. Ihr fehlt das Bewußtsein, etwas
     Unrechtes zu tun.
P  Wie geht es Dir, wenn Deine Mutter sich durchsetzt?
L  Ich ärgere mich. Oder ich bin wütend. Das ist aber ziemlich
     schnell vorbei. Aus meiner Wut wird kein Hass.
P  Weil sie es für sich und nicht gegen Dich tut
L  Ja, irgendwie merke ich das immer. Und was soll ich mich lange
     über etwas aufregen, das doch nicht zu ändern ist?
P  Du gibst Deine Ziele auf?
L  Nein. Ich bin nur realistisch. Ich kann Niederlagen akzeptieren.
P  Du fühlst Dich nicht schlecht dabei?
L  Es sind Niederlagen meines Tuns, nicht meines Werts, vergiß das
     nicht. Mein Wert wird von meiner Mutter nie angegriffen.
P  Ich fühle immer, dass auch mein Wert herabgesetzt wird. Ich muss
     immer besser werden.
L  Trotzdem will ich meine Ziele erreichen. Was jetzt nicht geht, geht
     vielleicht später.
 
P  Woran hältst Du zum Beispiel fest?
L  Am Süßkram. Das gebe ich nicht auf. Sie ist voll dagegen. Aber
     es schmeckt einfach! Und sie glaubt bestimmt ihr Leben lang, dass
     das ungesund ist.
P  Gibt es bei Euch deswegen dann nicht dauernd Streit?
L  Streit trifft es nicht. Hast Du beim Süßkram Streit?
P  Jedesmal. Und immer diese Nörgelei, dass ich das einsehen soll und
     dass sie recht hat und nur mein Bestes will. Und neuerdings diese
     "Gespräche".
L  Was für "Gespräche"?
P  Sie ist modern. Sie liest solche Bücher, geht in Kurse und Seminare
     und lernt, was die beste Methode für den Umgang mit Kindern ist.
     Da sind "demokratisch-partnerschaftliche" Gespräche angesagt,
     auf Augenhöhe, mit Ich-Botschaften. Mit allen psychologischen
     Tricks.
L  Von Erzieher zu Zögling, von oben nach unten. Die Methoden werden
     raffinierter, nichts ändert sich wirklich.
P  Nein. Es ist nicht wie bei Dir von Gleich zu Gleich.
L  Unser Konflikt ist offen und klar, ohne Tricks und Manöver. Ich sehe
     oft, dass ihre Sicht besser passt, und kann dann zustimmen. Aber bei
     anderen Sachen eben nicht, wie beim Süsskram. 
P  Und?
L  Ich ändere mich nicht, sie ändert sich nicht. Das ist kein Drama. Es ist
     eher ein bisschen komisch.
P  Du siehst so etwas mit Humor?
L  Warum nicht?
P  Wenn sie Dir keinen Süßkram lässt?
L  Ich werd auch ohne sie schon noch drankommen.
P  Ach so.
L  Aber das ist nicht der Punkt.
P  Sondern?
L  Sie lässt mir keinen Süßkram, aber sie lässt mir meine Innere Welt,
     und zwar immer. Sie tastet meine Selbstachtung und meinen Wert
     nicht an.
P  Du kannst ihrer Meinung nach ein Süßkram-Fan sein?
L  Ja. Sie weiß, dass ich so jemand bin. Sie achtet das.
P  Und nimmt Dir trotzdem den Süßkram weg?
L  Ja. Das ist kein Widerspruch.
P  Sie sorgt für sich selbst und will Dich nicht ändern.
L  Wir tun beide im Grunde dasselbe. Jeder sorgt für sich und tastet
     dabei die Würde des anderen nicht an. Das ist ein sehr
      verbindendes und verlässliches Gefühl, gerade bei meinen Niederlagen.

P  Meine Mutter will, dass ich dem Süßkram abschwöre.
L  Sie will ihn Dir nicht nur konkret wegnehmen?
P  Ich soll auch einsehen, dass Süßkram schlecht ist. Und dass ich
     schlecht bin, wenn ich Süßkram will.
L  Sie will Dich erziehen.
P  Ja.
L  Kultureller Imperialismus.
P  Was macht Deine Mutter? Gibt sie ihren Wunsch auf, dass Du
     Süßkram ablehnst? Dass Du Dich änderst?
L  Nein, sie gibt ihre Wünsche nicht auf. Aber sie ist auch ganz
     realistisch. Sie kennt meine Einstellung. Die respektiert sie, wenn
     sie auch hofft, dass ich meine Meinung mal ändern könnte.
P  Könntst Du?
L  Bei Süsskram? Kann ich mir nicht vorstellen. Aber möglich ist
     alles. Mich drängt ja keiner. Ich kann es mir jederzeit überlegen.
P  Bei Dir ist alles so unproblematisch.
L  Also, Probleme habe ich auch.
P  Aber sie sind leicher. Niemand geht Dir an die Seele.
L  Die Achtung vor unseren Inneren Welten ist immer präsent.
     Dieser Fluss wird nicht beeinträchtigt. Das ist schon sehr
     entspannend.
P  Es kommt mir wunderschön vor.
L  Ich wünsche Dir das auch.

     

Sonntag, 16. Oktober 2016

Schweineschnauze und Steckdose

Wie können wir ein Gefühl dafür bekommen, dass Kinder sich selbst gehören und keine Erziehung brauchen? Dass sie wie alle anderen Menschen vollwertig sind, nicht erst dazu gemacht werden müssen? Und dass wir in gleichwertigen Beziehungen mit ihnen leben können? Ich schreibe gern in Bildern und lade in emotionale Welten ein. Luca und Paul sind noch kein Jahr alt, sie sitzen auf der Krabbeldecke und unterhalten sich. Ich höre zu und übersetze:

Luca: Deine Mutter hat Dich auch nicht gelassen.
Paul: Nein. Das ärgert mich.
Luca: Mich auch
Paul: Sie lassen uns nicht tun, was wir wollen.
Luca: Stimmt.
Paul: Es ist unmöglich.

L  Deine Mutter hat so eine schaurige Ausstrahlung.
P  Sie hat schöne Ausstrahlungen. Sie liebt mich.
    Aber sie hat auch dieses schreckliche Zeug.
L  Was ist das? Meine Mutter hat das nicht.
P  Sie fühlt sich für mich verantwortlich.
L  Sie fühlt sich für Dich verantwortlich?
P  Sie weiß besser als ich, was für mich gut ist.
L  Das meint meine Mutter auch.
P  Nein, da ist ein Unterschied.
L  Ein Unterschied?
P  Meine Mutter meint das nicht nur aus ihrem Wissen.
L  Sondern?
P  Sie sagt, Erwachsene können wirklich alles besser beurteilen als
    Kinder.
L  Das meint sie doch nicht im Ernst.
P  Doch. Davon ist sie felsenfest überzeugt.
L  Niemals kann ein Mensch etwas besser beurteilen als ein anderer.
    Jeder tut es auf seine Weise, aus seiner eigenen Inneren Welt
    heraus. Da sind alle gleichwertig.
P  Sie glaubt, das gilt nicht bei Erwachsenen und Kindern.
L  Da hält sie ja an völlig überholten Ansichten fest.
P  Leider. Aber es ist die Sicht ihrer Eltern und deren Eltern.
    Das hat lange Traditition.
L  Weiß ich, aber meine Mutter ist da anders. Die Postmoderne kann
    an Deiner Mutter doch nicht spurlos vorübergegangen sein.
P  Schön wär es. Aber sie erkennt nicht, dass wir vollwertige Menschen
    sind. Dass wir uns selbst gehören und selbstverantwortlich sind, von
    Anfang an. Sie setzt auf Erziehung.

L  Hast Du mit ihr noch nicht darüber gesprochen?
P  Tausendmal. Aber sie versteht es nicht.
L  Meine Mutter sagt, dass sie ihre Selbstverantwortung als Kind beinah
    verloren hat. Weil die Erwachsenen das damals nicht gelten lassen
    wollten.
P  Und?
L  Sie hat sich nicht beirren lassen. Sie hat sich versteckt, und keiner
    hat gemerkt, dass sie immer noch an sich glaubte.
P  Wenn ich mit meiner Mutter über diese Dinge rede, wird sie ärgerlich.
    Sie sagt dann, dass ich trotzig und ungezogen bin.
L  Das muss ja alles sehr anstrengend für Dich sein.
P  Ist es auch.

P  Meiner Mutter geht es auch schlecht dabei.
L  Weil Du Dir ihren Überfall auf Deine Innere Welt nicht gefallen
    läßt.
P  Natürlich nicht. Niemals!
L  Und deswegen hast Du Dich losgerissen und bist noch mal auf das
    Ding da los.
P  Klar. Auf die Schweineschnauze.
L  Sie sagte zu Dir "Steckdose". Aber wir haben es doch im Bilderbuch
    gesehen, es sah aus wie die Schnauze von einem Schwein.
P  Also, ich muss meiner Mutter immer klarmachen, dass sie in meiner
    Inneren Welt nichts zu suchen hat mit ihren Ansprüchen. Sie kann
    mich besuchen, o.k. Aber sie hat kein Recht, ihre Erkenntnisbäume
    in mich zu pflanzen.
L  Stimmt.
P  Wenn sie anderer Meinung ist als ich und das Ding da unten an der
    Wand für eine "Steckdose" hält, dann ist das ihre Sicht.
L  Die kann sie Dir sagen, aber es muss klar sein, dass Du eine andere
    haben kannst und nichts einsehen musst.
P  Genau das tut sie nicht.
L  Wir sollten einen Weltkongress einberufen. Alle Menschen in
    unserem Alter würden das Ding da für eine Schweineschnauze
    halten.
L  Wenn sie vorher das Buch gelesen haben.
P  Und unser Kongressergebnis steht gleichrangig neben dem Ergebnis
    des Erwachsenenkongresses. Jeder erkennt seins.
L  Aber Du sollst einsehen, dass es keine Schweineschnauze ist,
    sondern eine "Steckdose". Und dass sie recht hat.
P  Das macht mich kaputt.
L  Und weil sie es nicht schafft, geht es ihr auch schlecht.

P  Deine Mutter hat doch auch "Steckdose" gesagt.
L  Ja. Aber es war ihre Sicht. Meine hat sie gelten lassen.
P  Sie lässt Deine Sicht gelten?
L  Ja.
P  Immer?
L  Immer.
P  Was hältst Du von ihrer Sicht?
L  Eigentlich redet sie keinen Unsinn.
P  Du glaubst ihr?
L  Sie ist vertrauenswürdig.
P  Weil sie Deine Innere Welt achtet.
L  Ja.
P  Ich komme gar nicht mehr auf die Idee, meiner Mutter noch irgendwo
    zu vertrauen.
L  Aber sie hat mich nicht überzeugt. "Steckdose"? Es wird sich schon
    noch klären.
P  Bist du denn freiwillig weggeblieben?
L  Ich habe gemerkt, wie wichtig ihr das war. Ich bekomme so etwas
    immer  mit. Und sie merkt meine Dringlichkeit.
P  Die kann sie auch merken, weil sie in Dir nichts durchsetzen will. Da
    ist sie offen für das, was Dir wichtig ist.
L  Genau. Und ich bekomme ihre Dringlichkeit mit, weil ich mich nicht
    verteidigen muss.
P  Ich kann so etwas nicht merken. Ich muss dauernd aufpassen, dass
    sie nicht schon wieder ihre Pflöcke in mein Land rammt.
L  Ich bekomme also mit, wie wichtig ihr das ist, dass ich von der
    Schweineschnauze wegbleibe. Ich habe mich gefragt, ob mir meins
    wichtiger ist.
P  Und?
L  Sie hatte solche Not, dass ich ganz erstaunt war.
P  Du hast nachgegeben?
L  Nein. Das ist nicht der richtige Ausdruck. Ich lass sie, wenn es ihr
    dermaßen wichtig ist. Warum auch nicht. Ich liebe sie doch.
P  Wie Du das sagst... Aber ich versteh Dich. Du fühlst Dich nicht
    angegriffen. Du hörst hin, wenn sie Probleme hat, und kannst
    großzügig sein.
L  Großzügig? Es ist doch selbstverständlich, dass ich jemandem helfe,
    wenn ich kann. Und wenn ich ihn liebe, um so eher.

Paul: Und was machst Du, wenn Dir etwas genauso wichtig ist?
  

Was Luca dann macht, kommt morgen.












Samstag, 15. Oktober 2016

wie sehr dein arm

und wenn
dunkle und scheussliche
dämonen
mit ihrem gelächter
und heiserem einflüstern
mich
dir
entfremden
oh
wie sehr
brauche ich dann
gerade deinen arm
deine liebe und kraft 
um den weg
zu dir
nicht zu verlieren

Freitag, 14. Oktober 2016

Ein bisschen Paradies

"Ich krieg das nicht hin, einerseits das Dunkle in mir gelten zu lassen und andererseits gleichzeitig das Helle. Das sind doch scharfe Gegensätze. Ich entscheide mich für das Helle, für die Selbstliebe. Was soll da noch all das dunkle Zeug in mir?"
"Es ist nicht die Frage, was das soll, sondern es gilt die Tatsache, dass es ist. So wie es nicht eine Frage ist, was das soll, wenn ein Bein gebrochen ist. Das Bein ist kaputt: Das ist. Real. Jetzt kann man das solange bejammern und daran leiden, bis man stirbt, oder man sieht zu seinem Bein und erkennt die Wirklichkeit: Ich habe ein krankes Bein. Mehr ist ja nicht passiert. Wir selbst gehen niemals unter."

"Wenn ich so voll Hass bin, gehe ich unter."
"Nein, dann schwimmst Du weiter im Leben, diesmal in anderem Gewässer oder unter Wasser, aber Du bist es, der dort schwimmt. Egal, wo wir sind und wer wird sind: Wir sind. Und wenn Du schon mal in so unfreundlichen Gewässern schwimmst - es ist nicht nötig, dass Du Dir das übelnimmst. Auch Monster sind Wesen, wie Engel. Das Gefühl, unterzugehen und die Selbstliebe niemals wirklich zu erreichen, ist die Lebensart von den dunklen Herrschaften. Solange Du Dich da aufhältst, ist es wie mit dem kranken Bein: Es ist krank, und Gesundbeten hilft nicht. Es ist erst dann gesund, wenn es gesund ist! Vorher ist die lange Zeit der unangenehmen Krankheit. Und man kann, wenn man krank ist, etwas lesen oder ein Würfelspiel mit anderen spielen. Spiel doch in der Hölle mit dem Teufel Monopoly oder Schach oder Halma. Er kennt die Regeln. Später, wenn die Selbstliebe Dir wieder etwas sagt, wenn Dein Bein wieder gehen kann und will, siehst Du weiter. Selbstverständlich läßt Dich auch der Teufel wieder laufen, wenn die Zeit dafür gekommen ist."

"Das glaube ich nicht, in mir wird immer das Dunkle da sein."
"Ja, sicher, aber es muss sich auch ausruhen und bestimmt Dich nicht Tag und Nacht. Es lebt nur dann, wenn es passt, wenn es sinnvoll ist, wenn das Dunkle sich in Dir wohlfühlt."
"Es soll sich in mir nicht wohlfühlen."
"Willst Du es bekämpfen, erziehen, therapieren? Stellst Du Dich über die dunklen Seiten in Dir? Das kannst Du tun, aber wenn Du zum Drüber-Stellen übergehst, freut sich das Dunkle in Dir, denn das Drüber-Stellen ist ja sein Lebenselixier: Das Dunkle drückt das Helle herab. Wenn Du ein Drüber-Steller bist, fühlt sich das Dunkle in Dir wohl: dadurch, dass Du das Dunkle nicht willst, es ablehnst, es zurückweist, ins Dunkle stellst, bist Du ihm verfallen. Nötig ist das nicht."

"..."
"Es gibt die Möglichkeit zur Selbstliebe. Die Idee. Die Perspektive. 'Ich liebe mich sowie ich bin' ist keine Garantie. Es ist auch keine Verpflichtung. Es ist Einladung, Trost, Aufatmen, Lächeln. Und natürlich auch ein bisschen Verheißung, ein bisschen Paradies, hier, jetzt. Ein bisschen Gegenzauber für die dunkle Welt, bei allem Respekt und ohne sich über sie zu stellen. Wieviel davon Realität wird, hängt von vielem ab, auch von mir, auch vom anderen Menschen: von meiner Liebe zu Dir. Liebe und Selbstliebe sind Geschwister - sie könenn fliegen und das Dunkle in uns immer wieder zurücklassen. Und: Sie wachsen von allein, Du musst Dich nicht bemühen. Sie sind Geschenke des Lebens."


Donnerstag, 13. Oktober 2016

Selbstliebe-Tipi

"Ich liebe mich so wie ich bin" - das ist eine stolze Vorgabe. Wer will das nicht? Gelernt haben wir in unserer Kindheit anderes, natürlich: Wir sollten ja erst Menschen werden, an uns arbeiten, Fehler verbessern usw. usw. Die Sache mit der Selbstliebe stößt das alles um, eröffnet eine andere Sicht auf sich selbst. Und wenn man es dann für möglich, für gestattet, für moralisch, für erstrebenswert hält, sich selbst zu lieben, wie immer man gerade ist - wenn man es nicht für überspannt, abgedreht, utopisch, lebensfremd hält: dann ist man auf einmal im Wort, sich selbst gegenüber. Sich nun lieben zu dürfen, zu können, zu sollen. Nichts Schlimmes gibt es mehr in mir. Alles ist irgendwie o.k., und auch das, was eigentlich nicht o.k. ist, ist es dann doch, auf wundersame Weise, eben weil ich an mich glauben kann, an mich glaube.

Man spürt das Dilemma, das in diesen Überlegungen steckt. Wunsch und Wirklichkeit, Dichtung und Wahrheit. Wie kann man mit dem "Ich liebe mich so wie ich bin" umgehen? Ein Hauch im Wind? Eine von vielen Möglichkeiten meiner selbst? Eine Verpflichtung mir gegenüber? Eine neue Norm? Befreiung? Oder nur neue Last?

Die Selbstliebe wird in der postmodernen Welt, aus der sie kommt, nicht über den Selbsthass gestellt. Alle Wesen, Erscheinungen, Dinge, was immer, sind gleichwertig. Das Bild der großen Ebene ohne Oben-Unten, nur Weite, Raum für unendlich viele Wesen, Erscheinungen, Dinge, was immer: stets von gleichem Rang. Selbstliebe ist ein seelisch Ding, eins von vielen. Nicht besser als andere, nicht schlechter. Nicht besser als Selbsthass, nicht schlechter.

Wegen dieser grundlegenden Gleichwertigkeit entlastet die Selbstliebe alle, die sich gerade/länger/immer nicht selbst lieben: Sie müssen nicht besser werden. Sie müssen nicht den Selbsthass, die dunkle Seite ihres Selbst zurücklassen. Sie müssen nicht glücklich sein.

Alles an uns, alles! ist Teil von uns. Es gibt keine wirklich Rangfolge. Es gibt unzählige Bewohner des Landes, das wir sind. Alle Bewohner - die hellen und die dunklen, die starken und die schwachen, die weißen und die schwarzen - haben ihre Geschichte, sind in uns gewachsen, geworden, sie sind da. Wir sind vielschichtige Wesen, und die Idee, man müsse etliches rauswerfen, entrümpeln, revolutionieren, ist zwar eine bekannte und lang erlernte Idee ("Du musst an Dir arbeiten, besser werden"). Aber diese Idee - die ja auch in uns wohnt - verhext uns nicht länger, hat keine Macht mehr, uns den Weg zu weisen: "Jetzt musst Du aber die dunklen Seiten in Dir überwinden, auf zur Selbstliebe".

Wir sind der Chef unseres Lebens. Nichts hat in Wahrheit Macht über uns. "Ich liebe mich so wie ich bin" steht nicht über mir. Es ist eine Tür, durch die ich gehen kann. Dieses Zelt steht auch in meinem Land, das Selbstliebe-Tipi, und wann und wie lange ich mich darin aufhalte, wird sich zeigen.

Ich sage also jemandem, der das mit der Selbstliebe gern hinbekommen möchte:
"Lass Dich in Ruhe. So, wie du bist, ist es o.k.."
"Und die dunklen Seiten an mir?"
"Sie sind ein Teil von dir."
"Aber mein Selbsthass, meine Zweifel an mir, mein Mißtrauen gegen mich, all das ängstig mich und verhindert, dass ich mich lieben kann!"
 "Ja - so ist es".
"Aber das soll verschwinden!" "
"Wünsche sind nicht verboten. Auch Stress ist nicht verboten. Wenn Dir Dein Wunsch zum Stress gegen Dich selbst wird: kannst Du machen. Aber: es ist nicht nötig! Du kannst auch Deinen Wünschen zuwinken, Du kannst ihnen sagen, dass auch sie nicht das Recht haben, über Deine Kräfte hinaus in Dir zu wohnen. Du muss Dich auch von Deinen Wünschen nicht beherrschen lassen."

Morgen gehts weiter an der Stelle!

Mittwoch, 12. Oktober 2016

Und wenn ich mich nicht mehr für Kinder verantwortlich fühle?

"Hubertus, wie verhalten sich die Kinder, wenn ich aufhöre, mich für sie veranwortlich zu fühlen?"
 "Wieso machst Du Dir Gedanken darüber?"
"Sollen wir uns keine Gedanken mehr über das Verhalten und die Entwicklung unserer Kinder machen?"
"Sollen sowieso nicht. Es gibt kein Sollen mehr. Nur noch: ich will. Also: Willst Du Dir Gedanken über Deine Kinder machen? Dann tu es. Wenn Du es eigentlich nicht willst: dann lass es."
"Aber man muss doch ..."
"Wirklich? Wer sagt das?"

Amicative Menschen machen sich selbstverständlich auch Gedanken über die Entwicklung ihrer Kinder. Diese Gedanken, diese Sorgen, dieses Kümmern kommen von innen. Sie kommen nicht aus einem Sollen, einer Norm (was man als gute Eltern tun sollte). Sie kommen nicht aus Verantwortung für das Kind, sondern aus Verantwortung für sich selbst. Diese Gedanken sind Ausdruck des Kümmerns um sich selbst. "Meine Liebe zu mir umfasst auch Dich, Kind. Und deswegen mache ich mir meine Gedanken, auch um Dich."

Die Verantwortung für Kinder wird nicht deswegen aufgegeben, weil das gut für die Kinder ist. Dann wäre man letztlich doch für die Kinder verantwortlich und landet bei der skurilen Position, dass man aus Verantwortung für Kinder diese Verantwortung aufgibt. Nein: Man gibt die Verantwortung für Kinder deswegen auf, weil das gut für einen selbst ist.

Dabei geht es um diese zwei Grundpositionen:

Entweder!
Man fühlt sich (sehr wohl) für Kinder verantwortlich.
Oder!
 Man fühlt sich (nur noch) für sich selbst verantwortlich.


Ich kann meine Einstellung - in Kindern selbstverantwortliche Wesen zu sehen - nicht rückgängig machen und will dies nicht. Ich kann und will nicht mehr jemand sein, der sich für andere verantwortlich fühlt. Weil dies jeder Mensch selbst ist. (Mich für einen anderen verantwortlich zu fühlen würde für mich bedeuten, ihn psychisch zu überfallen, in bester Absicht.) Kinder haben wie alle Menschen eine eigene, souveräne innere Welt. Dies erkenne ich. Und dieser meiner Erkenntnis und Wahrheit, dieser meiner Wirklichkeit begegne ich mit Achtung. Dies bin ich mir schuldig. 

Es ist die Angelegenheit der Kinder, wie sie auf meine Nicht-Verantwortung reagieren. Die Kompetenz und Verantwortung auf meine Einstellung zu reagieren liegen nicht bei mir, sondern bei den Kindern. Nicht, dass mich das nicht interessiert und kalt lässt. Nur: Die Zuständigkeiten werden nicht verwischt. Hier die Entscheidung zur Nicht-Verantwortung - dort die Reaktion darauf.

"Wie verhalten sich nun die Kinder, wenn man aufhört, sich für sie verantwortlich zu fühlen?"
"Meine Erfahrung ist, dass es nach einiger Zeit des Aufmerkens und der Nagelprobe einenen erleicherten Umschwung gibt."
"Was sagen sie?"
"Sie sprechen mit dem Herzen: Endlich verstehtst Du! Endlich hörst Du auf, mich nach Deinem Bild zu formen!"
"Was bedeutet das konkret?"
"Es gibt einen unbeschwerteren Alltag mit Kindern."
"Und?"
"Die Kinder bieten immer das Abenteuer gleichwertiger Beziehungen an. Wir Erwachsenen sind es, die sich darauf einlassen können. Wir können das Angebot der Kinder, ihnen auf gleicher Augenhöhe zu begegnen, verstehen und annehmen. Wir Erwachsene können mit dem Kind in uns kollaborieren..." 










Dienstag, 11. Oktober 2016

Vom guten Ton


Alltag mit Kindern, Wohnzimmer. „Was machst Du denn da? Wie sieht's denn hier aus? Das glaub ich nicht!“ Kerstin sieht entgeistert zu ihrer Dreijährigen und ist sprachlos. Bis auf das, was gerade ausbrach. Melanie, mit sich und ihrem Spiel in Harmonie, kniet auf dem Teppich, steht auf.

Langsam, sie nimmt die Magie ihrer Königsaura mit nach oben, sie steht und sieht ihre Mutter voll an. Die rechte Hand erhoben, Handfläche nach vorn. Und sanft, klar, majestätisch: „Nicht in diesem Ton.“ Stille. „Mama, nicht in diesem Ton.“ Melanie spricht von innen. „Du könntest doch auch mal sehen, was ich hier geschafft habe.“ Hand und Arm machen einen Bogen. „Das ist der Teppich. Und das ist der Pudding. Und das ist die Autobahn. Zwei Spuren. Langsamspur, Überholspur. Ausfahrt, Einfahrt. Und da ist die Tankstelle.“

Melanie steht königlich da. Kerstin ist gebannt. Melanie bleibt online: „O.k., ich seh ja, dass Dich das nervt. Schon gut. Ich helf auch, dass es wegkommt. Ich hol den Eimer und den Lappen.“ Melanie macht ein etwas besorgtes Gesicht, Kerstin rührt sich noch immer nicht. „Ich mach's auch nicht nochmal.“ Kleines Nachdenken. „Jedenfalls nicht mit Schoko. Vanille muss ich noch mal sehen.“

Parallelwelt, zeitgleich: „Nicht in diesem Ton.“ Stille. „Mama, nicht in diesem Ton“. Melanie erklärt ruhig, freundlich und geduldig: „Ich weiß ja, dass Du nicht anders kannst. Und ich habe das drei Jahre mitgemacht. Aber jetzt ist es mal gut. Ja, wir leben in einer Schimpfkultur. In der Menschen herabgesetzt werden. Kinder sowieso. Aber Du könntest ja auch mal sehen, was ich hier geschafft habe. Und was auf meinem Kopf ist: eine Krone. Meine Krone. Würde. Ich bin ein Mensch, mit Würde. Und ich möchte diese Töne nicht mehr. Kannst Du das lassen, einfach weglassen, hinter Dir lassen, ins Museum bringen? Du bist doch selbst mit diesem Tönen groß geworden. War doch auch für Dich nicht schön. O.k., Du lässt sie weg? Das kannst Du.“

Kerstin schießen Tränen in die Augen. Sie fühlt es wieder, diese Herabsetzungswucht in ihrer eigenen Kinderzeit. Aus erstarrter Tiefe bricht es auf. „Auch ich wurde so angefaucht.“ Schmerz überwältigt sie. Sie weint heftig. Sie nimmt Melanie in den Arm, kurz. Sie muß ihren Tsunami loswerden. Stürzt zum Handy, ruft Irene, ihre beste Freundin an. „Weiß Du, was mir gerade passiert ist?“ Sie erzählt. Und Irene versteht. Auch sie weint. Und telefoniert ins Land. Es gibt eine Telefonlawine. Rund um die Welt. Am nächsten Morgen gibt es keine Schimpfe mehr.

***

Wie viel Würde können wir gelten lassen? Wenn wir uns bedrängt fühlen und in Not sind? Wenn es nicht so läuft, wie es sein sollte – bei den anderen, mit den anderen? Wenn Pudding auf dem Teppich ist oder der Partner fremdgeht, Kleinkram, Großkram? Wenn es aus dem Ruder läuft, und der andere einfach nur blöd bis gemein ist. Was ja täglich um die Ecke kommt. „Was machst Du denn da?“ Oder ohne Worte, einfach entgeistert sein, vom Vertrauensbruch, Regelwegdrücken, Vereinbarungsmüllisieren. Wie viel Unperson steht da vor mir?

Würde? Was für eine Würde? Ärger, Wut, Zorn – wo gibt es da noch Würde? Hat Melanie noch eine Krone auf dem Kopf? Wie war das nochmal, als unsre Großen ihre Anfälle bekamen, Ausfälle hinlegten,  Schimpfschwälle losließen? Krone? “Nicht in diesem Ton“ ... das wäre eine heroische Tat gewesen!
              
„Amication ist eine fantastische Weltsicht, in der jeder sich selbst gehört“ steht auf einer meiner Buchrückseiten. So ist es. Und jeder hat eine Krone der Würde. Die Souveränität der Kinder ist in
dieser Krone, ist diese Krone. Souveränität heißt nicht, dass die Kinder jederzeit tun können, was sie wollen. Gilt auch für Erwachsene. Niemand kann fliegen, auch wenn er will. Es gibt immer wieder Hindernisse und Steine im Weg. Und sie kommen oft genug von den Menschen ringsum. Von Kerstin in diesem Fall.

Das Nein des anderen ist nicht zu überhören, und es ist oft auch stärker als unser Ja. Tut oft genug weh. Doch es kann auch nachvollziehbar und überzeugend daherkommen, leicht einzulösen. „Ich helf auch, dass es wegkommt“. Der Stein des anderen im eigenen Weg lässt sich immer wieder auch akzeptieren. Die Kraft, die so ein Szenario zu einem leichten Spiel fließen lässt bis hin zu einer gewissen Heiterkeit, kommt von der Würde. Aus der Souveränität. Sie darf nur nicht verschimpft werden. Dann wird es schwer, sehr schwer. Dann geht es nicht mehr um den Stein, sondern um die Krone. Dann sind wir verhext und spüren, wie sie vom Kopf gewischt wird. Und das kommt nicht gut. Gar nicht gut.

Melanie richtet sich auf. „Nicht in diesem Ton.“ Sie ist nicht beim Stein, bei Kerstins „Hör damit sofort auf“. Sie ist bei ihrer Würde, der Attacke gegen ihre Krone, und sie richtet ihre Kraft auf diese dunkle Macht. „Der Weg zum Frieden kann nur der Friede selber sein.“ Ein hoher Anspruch. Aber es kann ja gelingen. Melanie schickt ihrer Mutter liebevoll ihre Friedensbotschaft. Deutlich und nachdrücklich, ja, aber ohne Gegenschimpfe: „Nicht in diesem Ton“. Das ist sanft und mächtig, kommt von innen, klar und einladend. Und diese Botschaft aus dem Würdekosmos erreicht Kerstin, Kerstins Würde, Kerstins Kinderwürde. Von Gleich zu Gleich stehen sie sich gegenüber, Tochter und Mutter, eingefangen in eine anrührende Magie. In ihren Kronen sprühen Würdefunken. Liebe ist. Mehr geht nicht, und mehr ist auch nicht nötig.

Bleiben wir kurz in der Erwachsenenwelt. Wenn der andere Dinge tut, die uns nicht recht sind. Kleinere Dinge im Leben vor Ort, größere Dinge in der Welt draußen. Wir könnten den Blick für seine Krone behalten, uns nicht nehmen lassen. Egal, was der andere anstellt. Das ist in unseren Tagen mit ISIS und Co nicht zu schaffen? Wenn wir den Terror im Wohnzimmer (Pudding auf dem Teppich) und in der Welt (Syrien) stoppen – da gibt es die Einladung der Amication. Das Stoppen, das  An-, Auf- und Niederhalten, das lässt sich auch machen, ohne die Würdekrone zu zerschlagen. „Nicht in diesem Ton.“ „Ich bin Dein Nein und stehe doch nicht über Dir. Ich bin Dein Nein, weil Du einen Weg gehst, den ich nicht mitgehen will.“ Dieser Ton ist anders, ein guter Ton, und diesen Ton bringt Melanie in Erinnerung. Schoko? Vanille? Wir werden sehen!

Montag, 10. Oktober 2016

Blick in den pädagogischen Abgrund

Sehen wir weiter in den pädagogischen Abgrund! Das ist schon alles sehr gruselig, schafft aber Klarheit und Wahrheit. Subjektive Klarheit und Wahrheit, versteht sich. Später gibt es dann wieder schönere Posts, voll Schwung und Güte...Amication ist ein Sonnenland, aber von dort erkenne ich eben auch das strukturelle Leid im gesamten Erziehungsland, das durch liebende und gutmeinende oder widerwärtige und böswillige Menschen für die Kinder konkret wird.

Ich möchte niemanden verschrecken, der sich für die amicative Welt interessiert. Es geht um mein Erkennen, meine Botschaft, meine Einladung. Vielleicht braucht es eine gewisse seelische Stärke, Sensibilität, Erinnerung, um die pädagogischen Seiten unserer Kultur als dunkel und desaströs zu erkennen. Ich zeig das mal auf, es muss ja niemand laut Beifall klatschen - man kann auch angerührt schweigen. Jeder kann sich mitnehmen lassen zu der amicativen Tür, die ich zeige: und sie in eigener Verantwortung schließen oder hindurchgehen. Nun aber zum pädagogischen Abgrund:

Wenn wir jemanden etwas absprechen, wovon er aber überzeugt ist und von dem er meint, dass es ihm zukommt, erlebt er diese Position als Angriff. Wenn wir Kindern aufgrund der pädagogischen Position absprechen, dass sie Selbstverantworter sind - sie sich jedoch so fühlen -, dann erleben sie dies als psychische Agression, als Angriff auf ihr Selbstverständnis. Sie erleben die pädagogische Nicht-Anerkennungs-Haltung als ein psychisches Gift, dem sie sich ausgeliefert fühlen.

Dieses Gift wirkt langsam, aber unaufhaltsam. Es zersetzt das mitgebrachte Selbstverantwortungsgefühl und damit das grundlegende Selbstvertrauen, das Vertrauen darin, dass ich Grund aller Dinge bin und mich getragen weiss vom Sinn des Ganzen. Und es zersetzt auch das Vertrauen in die anderen, in die Erwachsenen, in die Sozialität und Gemeinschaft: Denn von diesen großbeinigen stimmgewaltigen Riesen kommt ja diese eklige Psycho-Ätze, und ihre loyale Unterstützung in die selbstverantwortlich erspürten und mitgeteilten Wichtigkeiten bleibt ja immer wieder aus, "weil wir besser wissen als du, was für dich gut ist". Misstrauen zu sich selbst und zur Gemeinschaft baut sich auf, verborgener oder offener Selbsthass und sozialer Hass bis hin zur Bereitschaft, sich und andere zu töten (Kriegsbereitschaft), sind die Langzeitfolgen der pädagogischen Mentalität.

Aus Kindern sind nach einer langen Reihe von Jahren der Verhexung dann Erwachsene geworden, die so sind, wie wir wurden: voll von großen und kleinen, offenen und verdeckten Minderwertigkeits- und Schuldgefühlen, abhängig vom Urteil anderer, mutlos, den eigenen Weg zu gehen, vorbeigeschleust am eigentlichen Leben.

Das  alles läßt sich ändern.

Sonntag, 9. Oktober 2016

Die pädagogische Antwort ist knallhart

Bereits vorgeburtlich werden die Menschen zur Selbstverantwortung ausgebildet. Mit Hormonen und biochemischen Möglichkeiten steuern die Embryos ihren Nahrungs- und Sauerstoffbedarf. Und sie sind es, die die Geburt einleiten, nicht die Mutter oder gar der Arzt mit der Spritze. Nach etwa neun Monaten der Entwicklung spürt jeder selbst, wann der rechte Zeitpunkt für ihn gekommen ist: Das Ungeborene gibt den entscheidenden Hormonausstoß in den Körper der Mutter und löst damit die Wehentätigkeit aus. Das Kind kommt als hochwertig ausgebildeter Selbstverantworter auf unsere Welt.

Jetzt bricht üblicherweise die traditionelle Grundeinstellung der Erwachsenen über das Kind herein: "Du bist kein selbstverantwortliches Wesen! Kinder, gar Neugeborene, können das eigene Beste nicht wahrnehmen! Wir sind für dich verantwortlich! Wir wissen besser als du, was für dich gut ist!" Das Neugeborene ruft uns zu: "Ich bin ein Selbstverantworter! Das ist jeder Mensch, vom Anfang bis zum Tod! Ich habe es gut gelernt, für mich verantwortlich zu sein, es gehört zu meinem Wesen, zum menschlichen Wesen! Erkennt und achtet es! Unterstützt mich loyal, doch erzieht mich nicht!" Aber die traditionelle, pädagogische Antwort ist knallhart und unerbittlich, und sie teilt sich in der psychischen Kommunikation im Tonfall, der Mimik und Gestik mit: Verantwortlich für die Kinder sind die Erwachsenen, Kinder können das eigene Beste nicht wahrnehmen.

Selbstverständlich lieben auch pädagogisch orientierte Eltern ihre Kinder. Doch bei aller Liebe - ihre Grundhaltung in der Frage der Selbstverantwortung ist für das Kind psychische Aggression. Das Kind erlebt diesen seelischen Angriff auf sein Selbstbild am Geburtstag, am zweiten Tag, am ditten Tag, denn die Grundhaltung "Wir sind für dich verantwortlich" ist ja im Gefühl der Erwachsenen verankert, und sie geht nicht weg. Diese Aggression begleitet das Kind den ersten Monat, den zweiten, den dritten, das erste Jahr, das zweite, das dritte - die gesamte Kindheit über, 16, 17, 18 Jahre lang. Ununterbrochen und alternativlos erfährt der junge  Mensch von den Erwachsenen, dass er so, wie er ist, noch kein vollwertiger Mensch sei. Dass er nicht zur Selbstverantwortung befähigt sei, dass er erst ein soziales Wesen werden müsse, dass er dies und das lernen müsse, dass er erzogen werden müsse, so, wie andere meinen, dass es gut für ihn sei. Diese psychische Aggression wird zwischen den Zeilen des täglichen Umgangs über ihn geschüttet und hat Folgen.