Alltag mit Kindern, Wohnzimmer. „Was machst Du denn da? Wie
sieht's denn hier aus? Das glaub ich nicht!“ Kerstin sieht entgeistert zu ihrer
Dreijährigen und ist sprachlos. Bis auf das, was gerade ausbrach. Melanie, mit
sich und ihrem Spiel in Harmonie, kniet auf dem Teppich, steht auf.
Langsam, sie nimmt die Magie ihrer Königsaura mit nach oben,
sie steht und sieht ihre Mutter voll an. Die rechte Hand erhoben, Handfläche
nach vorn. Und sanft, klar, majestätisch: „Nicht in diesem Ton.“ Stille. „Mama,
nicht in diesem Ton.“ Melanie spricht von innen. „Du könntest doch auch mal
sehen, was ich hier geschafft habe.“ Hand und Arm machen einen Bogen. „Das ist
der Teppich. Und das ist der Pudding. Und das ist die Autobahn. Zwei Spuren.
Langsamspur, Überholspur. Ausfahrt, Einfahrt. Und da ist die Tankstelle.“
Melanie steht königlich da. Kerstin ist gebannt. Melanie
bleibt online: „O.k., ich seh ja, dass Dich das nervt. Schon gut. Ich helf
auch, dass es wegkommt. Ich hol den Eimer und den Lappen.“ Melanie macht ein
etwas besorgtes Gesicht, Kerstin rührt sich noch immer nicht. „Ich mach's auch
nicht nochmal.“ Kleines Nachdenken. „Jedenfalls nicht mit Schoko. Vanille muss
ich noch mal sehen.“
Parallelwelt, zeitgleich: „Nicht in diesem Ton.“ Stille.
„Mama, nicht in diesem Ton“. Melanie erklärt ruhig, freundlich und geduldig:
„Ich weiß ja, dass Du nicht anders kannst. Und ich habe das drei Jahre
mitgemacht. Aber jetzt ist es mal gut. Ja, wir leben in einer Schimpfkultur. In
der Menschen herabgesetzt werden. Kinder sowieso. Aber Du könntest ja auch mal
sehen, was ich hier geschafft habe. Und was auf meinem Kopf ist: eine Krone.
Meine Krone. Würde. Ich bin ein Mensch, mit Würde. Und ich möchte diese Töne
nicht mehr. Kannst Du das lassen, einfach weglassen, hinter Dir lassen, ins
Museum bringen? Du bist doch selbst mit diesem Tönen groß geworden. War doch
auch für Dich nicht schön. O.k., Du lässt sie weg? Das kannst Du.“
Kerstin schießen Tränen in
die Augen. Sie fühlt es wieder, diese Herabsetzungswucht in ihrer eigenen
Kinderzeit. Aus erstarrter Tiefe bricht es auf. „Auch ich wurde so angefaucht.“
Schmerz überwältigt sie. Sie weint heftig. Sie nimmt Melanie in den Arm, kurz.
Sie muß ihren Tsunami loswerden. Stürzt zum Handy, ruft Irene, ihre beste
Freundin an. „Weiß Du, was mir gerade passiert ist?“ Sie erzählt. Und Irene
versteht. Auch sie weint. Und telefoniert ins Land. Es gibt eine Telefonlawine.
Rund um die Welt. Am nächsten Morgen gibt es keine Schimpfe mehr.
Bleiben wir kurz in der
Erwachsenenwelt. Wenn der andere Dinge tut, die uns nicht recht sind. Kleinere
Dinge im Leben vor Ort, größere Dinge in der Welt draußen. Wir könnten
den Blick für seine Krone behalten, uns nicht nehmen lassen. Egal, was der
andere anstellt. Das ist in unseren Tagen mit ISIS und Co nicht zu schaffen?
Wenn wir den Terror im Wohnzimmer (Pudding auf dem Teppich) und in der Welt
(Syrien) stoppen – da gibt es die Einladung der Amication. Das Stoppen,
das An-, Auf- und Niederhalten, das
lässt sich auch machen, ohne die Würdekrone zu zerschlagen. „Nicht in diesem
Ton.“ „Ich bin Dein Nein und stehe doch nicht über Dir. Ich bin Dein Nein, weil
Du einen Weg gehst, den ich nicht mitgehen will.“ Dieser Ton ist anders, ein
guter Ton, und diesen Ton bringt Melanie in Erinnerung. Schoko? Vanille? Wir
werden sehen!
***
Wie viel Würde können wir
gelten lassen? Wenn wir uns bedrängt fühlen und in Not sind? Wenn es nicht so
läuft, wie es sein sollte – bei den anderen, mit den anderen? Wenn Pudding auf
dem Teppich ist oder der Partner fremdgeht, Kleinkram, Großkram? Wenn es aus
dem Ruder läuft, und der andere einfach nur blöd bis gemein ist. Was ja täglich
um die Ecke kommt. „Was machst Du denn da?“ Oder ohne Worte, einfach
entgeistert sein, vom Vertrauensbruch, Regelwegdrücken,
Vereinbarungsmüllisieren. Wie viel Unperson steht da vor mir?
Würde? Was für eine Würde?
Ärger, Wut, Zorn – wo gibt es da noch Würde? Hat Melanie noch eine Krone auf
dem Kopf? Wie war das nochmal, als unsre Großen ihre Anfälle bekamen, Ausfälle
hinlegten, Schimpfschwälle losließen?
Krone? “Nicht in diesem Ton“ ... das wäre eine heroische Tat gewesen!
„Amication ist eine
fantastische Weltsicht, in der jeder sich selbst gehört“ steht auf einer meiner
Buchrückseiten. So ist es. Und jeder hat eine Krone der Würde. Die Souveränität
der Kinder ist in
dieser Krone, ist diese
Krone. Souveränität heißt nicht, dass die Kinder jederzeit tun können, was sie
wollen. Gilt auch für Erwachsene. Niemand kann fliegen, auch wenn er will. Es
gibt immer wieder Hindernisse und Steine im Weg. Und sie kommen oft genug von
den Menschen ringsum. Von Kerstin in diesem Fall.
Das Nein des anderen ist
nicht zu überhören, und es ist oft auch stärker als unser Ja. Tut oft genug
weh. Doch es kann auch nachvollziehbar und überzeugend daherkommen, leicht
einzulösen. „Ich helf auch, dass es wegkommt“. Der Stein des anderen im eigenen
Weg lässt sich immer wieder auch akzeptieren. Die Kraft, die so ein Szenario zu
einem leichten Spiel fließen lässt bis hin zu einer gewissen Heiterkeit, kommt
von der Würde. Aus der Souveränität. Sie darf nur nicht verschimpft werden.
Dann wird es schwer, sehr schwer. Dann geht es nicht mehr um den Stein, sondern
um die Krone. Dann sind wir verhext und spüren, wie sie vom Kopf gewischt wird.
Und das kommt nicht gut. Gar nicht gut.
Melanie richtet sich auf.
„Nicht in diesem Ton.“ Sie ist nicht beim Stein, bei Kerstins „Hör damit sofort
auf“. Sie ist bei ihrer Würde, der Attacke gegen ihre Krone, und sie richtet
ihre Kraft auf diese dunkle Macht. „Der Weg zum Frieden kann nur der Friede
selber sein.“ Ein hoher Anspruch. Aber es kann ja gelingen. Melanie schickt
ihrer Mutter liebevoll ihre Friedensbotschaft. Deutlich und nachdrücklich, ja,
aber ohne Gegenschimpfe: „Nicht in diesem Ton“. Das ist sanft und mächtig,
kommt von innen, klar und einladend. Und diese Botschaft aus dem Würdekosmos
erreicht Kerstin, Kerstins Würde, Kerstins Kinderwürde. Von Gleich zu Gleich
stehen sie sich gegenüber, Tochter und Mutter, eingefangen in eine anrührende
Magie. In ihren Kronen sprühen Würdefunken. Liebe ist. Mehr geht nicht, und
mehr ist auch nicht nötig.