Dienstag, 11. Oktober 2016

Vom guten Ton


Alltag mit Kindern, Wohnzimmer. „Was machst Du denn da? Wie sieht's denn hier aus? Das glaub ich nicht!“ Kerstin sieht entgeistert zu ihrer Dreijährigen und ist sprachlos. Bis auf das, was gerade ausbrach. Melanie, mit sich und ihrem Spiel in Harmonie, kniet auf dem Teppich, steht auf.

Langsam, sie nimmt die Magie ihrer Königsaura mit nach oben, sie steht und sieht ihre Mutter voll an. Die rechte Hand erhoben, Handfläche nach vorn. Und sanft, klar, majestätisch: „Nicht in diesem Ton.“ Stille. „Mama, nicht in diesem Ton.“ Melanie spricht von innen. „Du könntest doch auch mal sehen, was ich hier geschafft habe.“ Hand und Arm machen einen Bogen. „Das ist der Teppich. Und das ist der Pudding. Und das ist die Autobahn. Zwei Spuren. Langsamspur, Überholspur. Ausfahrt, Einfahrt. Und da ist die Tankstelle.“

Melanie steht königlich da. Kerstin ist gebannt. Melanie bleibt online: „O.k., ich seh ja, dass Dich das nervt. Schon gut. Ich helf auch, dass es wegkommt. Ich hol den Eimer und den Lappen.“ Melanie macht ein etwas besorgtes Gesicht, Kerstin rührt sich noch immer nicht. „Ich mach's auch nicht nochmal.“ Kleines Nachdenken. „Jedenfalls nicht mit Schoko. Vanille muss ich noch mal sehen.“

Parallelwelt, zeitgleich: „Nicht in diesem Ton.“ Stille. „Mama, nicht in diesem Ton“. Melanie erklärt ruhig, freundlich und geduldig: „Ich weiß ja, dass Du nicht anders kannst. Und ich habe das drei Jahre mitgemacht. Aber jetzt ist es mal gut. Ja, wir leben in einer Schimpfkultur. In der Menschen herabgesetzt werden. Kinder sowieso. Aber Du könntest ja auch mal sehen, was ich hier geschafft habe. Und was auf meinem Kopf ist: eine Krone. Meine Krone. Würde. Ich bin ein Mensch, mit Würde. Und ich möchte diese Töne nicht mehr. Kannst Du das lassen, einfach weglassen, hinter Dir lassen, ins Museum bringen? Du bist doch selbst mit diesem Tönen groß geworden. War doch auch für Dich nicht schön. O.k., Du lässt sie weg? Das kannst Du.“

Kerstin schießen Tränen in die Augen. Sie fühlt es wieder, diese Herabsetzungswucht in ihrer eigenen Kinderzeit. Aus erstarrter Tiefe bricht es auf. „Auch ich wurde so angefaucht.“ Schmerz überwältigt sie. Sie weint heftig. Sie nimmt Melanie in den Arm, kurz. Sie muß ihren Tsunami loswerden. Stürzt zum Handy, ruft Irene, ihre beste Freundin an. „Weiß Du, was mir gerade passiert ist?“ Sie erzählt. Und Irene versteht. Auch sie weint. Und telefoniert ins Land. Es gibt eine Telefonlawine. Rund um die Welt. Am nächsten Morgen gibt es keine Schimpfe mehr.

***

Wie viel Würde können wir gelten lassen? Wenn wir uns bedrängt fühlen und in Not sind? Wenn es nicht so läuft, wie es sein sollte – bei den anderen, mit den anderen? Wenn Pudding auf dem Teppich ist oder der Partner fremdgeht, Kleinkram, Großkram? Wenn es aus dem Ruder läuft, und der andere einfach nur blöd bis gemein ist. Was ja täglich um die Ecke kommt. „Was machst Du denn da?“ Oder ohne Worte, einfach entgeistert sein, vom Vertrauensbruch, Regelwegdrücken, Vereinbarungsmüllisieren. Wie viel Unperson steht da vor mir?

Würde? Was für eine Würde? Ärger, Wut, Zorn – wo gibt es da noch Würde? Hat Melanie noch eine Krone auf dem Kopf? Wie war das nochmal, als unsre Großen ihre Anfälle bekamen, Ausfälle hinlegten,  Schimpfschwälle losließen? Krone? “Nicht in diesem Ton“ ... das wäre eine heroische Tat gewesen!
              
„Amication ist eine fantastische Weltsicht, in der jeder sich selbst gehört“ steht auf einer meiner Buchrückseiten. So ist es. Und jeder hat eine Krone der Würde. Die Souveränität der Kinder ist in
dieser Krone, ist diese Krone. Souveränität heißt nicht, dass die Kinder jederzeit tun können, was sie wollen. Gilt auch für Erwachsene. Niemand kann fliegen, auch wenn er will. Es gibt immer wieder Hindernisse und Steine im Weg. Und sie kommen oft genug von den Menschen ringsum. Von Kerstin in diesem Fall.

Das Nein des anderen ist nicht zu überhören, und es ist oft auch stärker als unser Ja. Tut oft genug weh. Doch es kann auch nachvollziehbar und überzeugend daherkommen, leicht einzulösen. „Ich helf auch, dass es wegkommt“. Der Stein des anderen im eigenen Weg lässt sich immer wieder auch akzeptieren. Die Kraft, die so ein Szenario zu einem leichten Spiel fließen lässt bis hin zu einer gewissen Heiterkeit, kommt von der Würde. Aus der Souveränität. Sie darf nur nicht verschimpft werden. Dann wird es schwer, sehr schwer. Dann geht es nicht mehr um den Stein, sondern um die Krone. Dann sind wir verhext und spüren, wie sie vom Kopf gewischt wird. Und das kommt nicht gut. Gar nicht gut.

Melanie richtet sich auf. „Nicht in diesem Ton.“ Sie ist nicht beim Stein, bei Kerstins „Hör damit sofort auf“. Sie ist bei ihrer Würde, der Attacke gegen ihre Krone, und sie richtet ihre Kraft auf diese dunkle Macht. „Der Weg zum Frieden kann nur der Friede selber sein.“ Ein hoher Anspruch. Aber es kann ja gelingen. Melanie schickt ihrer Mutter liebevoll ihre Friedensbotschaft. Deutlich und nachdrücklich, ja, aber ohne Gegenschimpfe: „Nicht in diesem Ton“. Das ist sanft und mächtig, kommt von innen, klar und einladend. Und diese Botschaft aus dem Würdekosmos erreicht Kerstin, Kerstins Würde, Kerstins Kinderwürde. Von Gleich zu Gleich stehen sie sich gegenüber, Tochter und Mutter, eingefangen in eine anrührende Magie. In ihren Kronen sprühen Würdefunken. Liebe ist. Mehr geht nicht, und mehr ist auch nicht nötig.

Bleiben wir kurz in der Erwachsenenwelt. Wenn der andere Dinge tut, die uns nicht recht sind. Kleinere Dinge im Leben vor Ort, größere Dinge in der Welt draußen. Wir könnten den Blick für seine Krone behalten, uns nicht nehmen lassen. Egal, was der andere anstellt. Das ist in unseren Tagen mit ISIS und Co nicht zu schaffen? Wenn wir den Terror im Wohnzimmer (Pudding auf dem Teppich) und in der Welt (Syrien) stoppen – da gibt es die Einladung der Amication. Das Stoppen, das  An-, Auf- und Niederhalten, das lässt sich auch machen, ohne die Würdekrone zu zerschlagen. „Nicht in diesem Ton.“ „Ich bin Dein Nein und stehe doch nicht über Dir. Ich bin Dein Nein, weil Du einen Weg gehst, den ich nicht mitgehen will.“ Dieser Ton ist anders, ein guter Ton, und diesen Ton bringt Melanie in Erinnerung. Schoko? Vanille? Wir werden sehen!