Mittwoch, 26. Oktober 2016

Die Würde und Hundertmal


 »Die Würde des Kindes ist unantastbar«. Diesen Satz gibt es nicht. Nicht im Grundgesetz (dort heißt es »Die Würde des Menschen ist unantastbar«) und nicht im Alltag. Was heißt schon »Würde des Kindes«? Und wenn es so etwas wie die Würde des jungen Menschen wirklich geben sollte, was soll dann das mit dem »unantastbar« sein? Das ist doch ganz lebensfremd und unrealistisch. 

»Ich hab Dir doch schon hundertmal gesagt!« Na ja, das geht da rein und da raus. Aber etwas bleibt doch hängen, dieser Unterton nämlich. Diese Selbstverständlichkeit das Hundertmalsagers, dass er das hundertmal sagen --- darf. Ja: darf. Darf er das? So etwas sagen? So mit einem anderen Menschen umgehen? Will ich so etwas haben in meinem Leben? In meinem kleinen Kinderleben? In meinem großen Erwachsenenleben? Es ist völlig klar: Ich will das wirklich nicht! Was fällt dem anderen ein, sich so über mich zu erheben? Sich so über mich zu empören? Mich so blöd dastehen zu lassen? Es ist zum Kotzen. Die Würde ist dahin...

Wenn sie denn dahin ist. Denn die Würde ist eine sehr geheimnisvolle Angelegenheit. Sie wohnt in mir. Sie wohnt in jedem. Egal, wie alt er ist. Sie wohnt in jedem Kind. Sie wohnt in Corbinian, wenn er zum hundertsten Mal nicht mit dem Stuhl vor die Heizung kippeln soll. Sie wohnt in Kilian, wenn er zum hundertsten Mal nicht diese Töne drauf haben soll. Sie wohnt einfach in den Menschen – und eigentlich geht sie auch nicht weg. Sie wird nur gezerrt, geschlagen, gebeutelt, missachtet.

Könnte der Würde ja auch egal sein, wenn sie gehauen wird. »Wer bist Du denn? Was willst Du? Zum hundertsten Mal? Versteh ich nicht. Was ist denn Dein Problem? Kannst Du Kippeln nicht leiden? Ich schon. Macht doch Spaß. Kannst Du meine Supertöne nicht leiden? Ich schon. Sie kommen so gut aus dem Bauch.« Die Würde kann auch alles abschmettern, was da an Sauereien auf sie losgelassen wird. Besser: Könnte.  

Ja, wenn man denn so stark ist. Wenn man denn so gut im Sattel sitzt. Dass die Lanze einen nicht abwirft. Wenn. Wer ist aber so stark? Dass man die Attacken der anderen abgleiten lässt? Und noch verstärkt: Wenn man den Angreifer in seiner Not sieht und ihm noch die zweite Wange anbietet? Sicher ist so etwas denkbar, aber doch nur theoretisch. Nicht im wirklichen Leben. Da ist man einfach angemacht von diesen Wütereien, von diesem Hundertmal.

»Die Würde ist unantastbar« kann man auch so lesen, dass, egal was kommt, alles von der Würde abprallt. Die Würde hat eine bombastische Unantastbarkeitshornhaut, da kommt keiner gegen an. So ist das aber nicht gemeint. Es ist so gemeint, dass die Würde etwas Verletzbares und Verletzliches ist, etwas, das gut beschützt sein will. Wie Kinder eigentlich, kleine zumal. Sind so kleine Hände. Da liegt eine seltsame anrührende bis rührselige Vorstellung vor. Ich muss mich für Deine Würde in die Bresche werfen. Weil Du so schwach bist und die anderen so stark sind. Das schreiben wir gleich mal hoch, ganz hoch, ganz nach oben, ins Grundgesetz. Damit wird die Würde sehr klein geschrieben: weil sie so superschutzbedürftig ist.

Die Würde ist stark. Sie ist Teil von uns. Sie ist Identität. Ich bin. Ich bin meine Würde. Niemand kann sie mir nehmen. Jeder kann sie antasten, bittesehr, aber das macht der Würde nichts. Lang nur zu – das verletzt mich nicht, das prallt an mir ab. Diese Sicherheit spüre ich tief in mir drin. Wirklich. Ich, Hubertus, Schreiber dieser Zeilen. Aber nur dort, wo sie gut versteckt ist, hinter den sieben Bergen, in meinem innersten Land. Das Hundertmal erreicht diesen Kern meines Ich nicht. Vorher, im Bergland davor, da wird  rumgeholzt. Und da zeige ich mich nicht mehr. Da renn ich weg, hinter den letzten Berg. Mein Blick geht nach unten, mein Gesicht ist erstarrt, mein Mund ist verschlossen. »Los, antworte!« der Andere spürt seine Ohmmacht. Er will in den heiligen inneren Bereich. Doch nichts da! Aus und vorbei für Dich. Ab hier wohne ich! Ab hier ist mein Land, meine Harmonie, mein Glück, meine Seligkeit. Da kommst Du niemals hin.

Kinder, die sich in diese geheimen Verstecke zurückziehen. Wir, die wir uns in unsere geheimen Verstecke zurückziehen. Hundertmal kommt da nicht mehr ran. Die Verbindung ist abgerissen. Hundertmal ist draußen vor. Hundertmal ist ein Erwachsener, ein Feind. Er wütet. Er bedrängt mich. Er meckert. Er will meine Hände, meine  Füße, meine Sprache, er will meine Gedanken. Er will auch mein Herz. Und meine Seele. Er will mich. Er ist ein Allesfresser, ein Vielfraß, ein Seelenhai. Er ist einfach ein Monster.  

Wir sind nicht immer Monster für die Kinder. Aber immer wieder. Oft genug. Wozu ist das nötig, gut, wichtig? Wozu wird das gebraucht? Was fährt in uns, »hundertmal« zu sagen und Herr und Frau Hundertmal zu sein? Na ja, so ist das eben. Das hat seinen biografischen soziohistorischen psychoquarkigen Hintergrund, allemal. Wir sind eben so, geworden, und fallen in diesen Hundertmalwahn, dreimal am Tag, süchtig, nach dieser Droge, dieser Kinderfresslust, wild auf ihre Hände, ihre Füße, ihre Sprache, ihre Gedanken, ihr Herz, ihre Seele.  

Meine Güte! Aber was denn sonst? Gibt es einen Alltag mit Kindern ohne Hundertmal? Habe ich noch nicht erlebt. Ich bin selbst oft genug Hundertmal, und alle anderen, die ich kenne auch. Abzüglich der Kinder: die das noch nicht sind. Gehört so etwas zum Menschen? Zum erwachsenen Menschen? Dieses Hundertmal? Kann ich mir nicht vorstellen, dass die Natur oder der liebe Gott das ursprünglich so eingerichtet haben, dass das zum Überleben der Menschen wichtig ist, so eine Herbabsetzungsorgie. Ist nur so gekommen. Vielleicht liegts am Klima nach der Eiszeit, am Lifestyle seit 10.000 Jahren, seit Sesshaftigkeit statt Jagdkultur, seit Zaun (für die gezähmten Haustiere) statt freiem Raum (für alle Lebewesen auf gleicher Augenhöhe). Wer weiß, wo das herkommt. Aber es ist da.

Und ich mag das nicht. Nicht besonders. Überhaupt nicht. Ich möchte das Zauberkraut gegen das Hundertmal haben. Feenkraut – find ich gut! (Hotzenplotz). Und dann sehe ich Corbinian mit seinen 4 Jahren kippeln und halte ihn ganz beiläufig an (nicht fest). Zärtlichkeit im Alltag. Und höre mir Kilians Töne an und denke »nimm ihn auf den Arm«  und dann tu ich es, auch wenn er schon 6 ist und schwer ist. Ich drehe seinen Kopf dabei so, dass mir diese Superfrequenzen nicht voll vors Trommelfall donnern. Eine leichte beiläufige Kopfwegdrehung. Ist schon gut. Er beruhigt sich. Der eine hört mit den Tönen auf, der andere hört mit dem Kippeln auf. Das Leben geht weiter, undramatisch, wenn wir kein Drama daraus machen, einfach so. Hundertmal ist nicht gekommen.

Wo ist Hundertmal? Nicht da. Ist es fort gegangen? Jetzt jedenfalls. Kommt es wieder? Sicher. Aber bis dahin erst mal nicht. Seine Abwesenheit wird nicht bedauert. Sie wird auch nicht gefeiert. Es ist endlich das Normale passiert: Miteinanderumgehen ohne die Würde des anderen anzutasten.

Egal, was die Kinder anstellen, machen, danebenhauen, ekelkotzen, giftspritzen, sonstwas: es ist immer voll Sinn, voll ihres Sinnes, so, wie das gerade in ihnen ist. Immer Ausdruck ihrer Würde. Wie kann man das nur so übersehen?! Fehlt da das Gefühl für die eigene Würde? Für die Wucht und Dringlichkeit und Unhinterfragbarkeit und Berechtigung und Unantastabarkeit der eigenen Würde, um das, genau das beim andern zu sehen, beim Kind zu sehen und gelten zu lassen? Sicher. So wird es schon sein. Wir sind würdetraumatisiert, würdegeschädigt, würdegeschändet, ein Kinderleben lang Hundertmal. Ein Erwachsenenleben lang Hundertmal. Oh Mann, ist schon schlimm, so eine Scheiße.  

Aber: da gibt es ja noch den Geist, den Verstand, das Reflektieren, das Meditieren, das Nachsinnen: Könnte doch auch anders gespielt werden, die Sache mit der Würde. Mit der Würde des Kindes. Mit meiner Würde. Man könnte doch auch die Finger davon lassen. Wäre auch ein Weg. Erkannt – Gebannt. So schnell wird's nicht gehen, aber es ist ja schon mal ein Fortschritt, zu erkennen: »Die Würde des Kindes ist unantastbar.«

Wenn es mir gelingt, in den Streitereien mit den Kindern ihre Würde nicht zu verlieren. Wenn ich meine eigene Würde nicht angegriffen fühle durch ihre Aktionen und Aktiönchen. Wenn ich mir meines Wertes sicher bin. Wenn ich mir ihres Wertes sicher bin. Dann klappt das auch, das mit dem ohne Hundertmal.

Wie werde ich mir meines Wertes und meiner Würde so sicher?  Das macht jeder auf seine Weise. Wenn er es denn macht. Wer nichts mehr in sich spürt an eigener Würde, für den weiß ich nichts. Ehrlich und wirklich. Wer aber etwas merkt, so ein Würde-Würzelchen oder gar einen großen Würde-Baum, dem sage ich: lass uns doch darauf setzen, lass es uns hervorkramen, lass es uns auf die Lebensfahnen schreiben, aus dem Autofenster flattern: Ich bin voll Würde! Jeder ist voll Würde.

Als Kapitän Hook nach langem Kampf von Peter Pan besiegt ist, verliert er zum Schluss ihres Gerangels seine – Haare. Er steht mit Glatze da. Er hatte eine Perücke getragen! Dieser wilde Kerl hat eine Perücke! Lächerlichkeit kommt auf. Aber: Sein Gesicht! Alle halten eine Sekunde den Atem an. Es wird intim, fast superpeinlich. Und dann kommt sein erlösender Satz: »Gebt mir  meine  Würde wieder.« Und Peter gibt ihm die Perücke, die Würde zurück. Und Kapitän Hook, dieser Bösewicht mit Würde wie jeder Mensch, er setzt sie auf, und alles ist wieder im Lot.

Geben wir den Kindern ihre Perücke, ihr Gesicht, ihre Würde, sie dürfen es nicht verlieren – das ist der Zuruf. Die Kunst. Der Zauber. Und dann geht so viel. Dann hören sie zu. Dann hören sie auf zu kippeln und auf zu tönen. Dann tun sie ja, was man von ihnen will, dann bricht der Friede aus. Das ist alles nicht verboten. Das kann man in seinem Leben, in seinem Nachdenken und sogar in seinem Tun auch dabei haben. Im Angebotskoffer. Und manchmal, wenn die Sonne scheint, dann wirklich machen: »Hundertmal – Du bist heute nicht dran. Dafür ist das Wetter zu gut. Geh jetzt.« Und dann geht Hundertmal, und die Würde des Kindes ist unangetastet, sie strahlt und fängt uns ein.