Dienstag, 25. Oktober 2016

Echt jetzt?


Anfang der 1970er Jahre wird die Erwachsenen-Kind-Beziehung einer bislang ungekannten Analyse unterzogen. Wissenschaftler und Forscher beziehen einen neuen Ausgangspunkt. Sie fragen nicht mehr in einem pädagogischen und objektiven Sinn "Was ist wirklich gut für das Kind?", sondern sie fragen von einer authentisch-personalen Basis aus: "Was will ich eigentlich in der Kommunikation mit Kindern?" Sie verlassen das Selbstverständnis eines zur Erziehung aufgerufenen Vormunds. Wobei sie nicht in Gefahr geraten, die Kinder nun zu ihrem persönlichen Vorteil auszunutzen. Sie sehen auf die hinter jeder Erziehung real existierenden Menschen, denen sie auf der existentiellen Ebene begegnen wollen: "Wer bin ich - wer bist Du?"

Von dieser Basis her wird ein neuer Weg zum Kind eingeschlagen, der nicht von pädagogischer Sichtweise vorgezeichnet ist, sondern unverstellt und radikal-ehrlich: Von Ich hin zur subjektiven Identität eines jeden jungen Menschen. Diese in der Postmoderne gründende Position geht von der existentiellen Gleichheit der Menschen und ihrer Erkenntnisse aus und verläßt damit Pädagogik und Erziehung mit ihrem im objektiven Denken begründeten Führungs- und Formungsauftrag.

Der Erwachsene hat nun im Umgang mit Kindern ein von Erziehung freies Selbstverständnis. Er wendet sich zwar von der Erziehung ab, nicht aber vom Kind. Er will ja die Kommunikation mit Kindern, jedoch ohne jegliche Erziehung. Er betritt das Land des Kindes mit den vielen Facetten seiner Persönlichkeit, mit Ideen, Vorschlägen, Kritik, Erklärungen, Ermutigungen, Ängsten, Grenzen, Hoffnungen, Mut. Mit all dem, was ihm selbst aus seinen eigenen, subkjektiven Gründen wichtig ist, in die Beziehung zum Kind einzubringen. Er kommt ohne Formungsauftrag, ohne List und ohne pädagogische Mission. Er kommt authentisch, als Person. Er verlagert nicht das Zentrum seiner Konzentration in das Kind, wenn er mit Kindern zusammen ist. Er bleibt bei sich und übernimmt Verantwortung für die Person, die ihm zuallererst anvertraut ist: für sich selbst.

Der postpädagogische Erwachsene sucht seinen Weg zum Kind also vom Ich her. Das existentielle "Wer bin ich?" wird begleitet vom "Wer bist Du?". Methoden und Techniken, Strategien und Didaktiken, Persönlichkeitsschulung und Kommunikationstraining, Vorbereitung und Supervision, Zielbestimmung, Motivation, Evaluation, Analyse ... - all das, was in der pädagogischen Kommunikation mit mühevollem und kräftezehrendem Einsatz realisert wird, kann entfallen. Der Erwachsene erwacht wie aus einer Betäubung, entlastet und befreit. Dies bewirkt, dass er - bei sich selbst angekommen - eine spezifische Einfühlung entfaltet, die nur jenseits von Pädagogik und Erziehung existiert. Mit dieser postpädagogischen Empathie hat er immer wieder die Chance, das Kind wirklich zu verstehen und die Wichtigkeiten und Bedürfnisse des Kindes mit den eigenen Vorstellungen zu einer authentischen Praxis zu verbinden.