Sonntag, 16. Oktober 2016

Schweineschnauze und Steckdose

Wie können wir ein Gefühl dafür bekommen, dass Kinder sich selbst gehören und keine Erziehung brauchen? Dass sie wie alle anderen Menschen vollwertig sind, nicht erst dazu gemacht werden müssen? Und dass wir in gleichwertigen Beziehungen mit ihnen leben können? Ich schreibe gern in Bildern und lade in emotionale Welten ein. Luca und Paul sind noch kein Jahr alt, sie sitzen auf der Krabbeldecke und unterhalten sich. Ich höre zu und übersetze:

Luca: Deine Mutter hat Dich auch nicht gelassen.
Paul: Nein. Das ärgert mich.
Luca: Mich auch
Paul: Sie lassen uns nicht tun, was wir wollen.
Luca: Stimmt.
Paul: Es ist unmöglich.

L  Deine Mutter hat so eine schaurige Ausstrahlung.
P  Sie hat schöne Ausstrahlungen. Sie liebt mich.
    Aber sie hat auch dieses schreckliche Zeug.
L  Was ist das? Meine Mutter hat das nicht.
P  Sie fühlt sich für mich verantwortlich.
L  Sie fühlt sich für Dich verantwortlich?
P  Sie weiß besser als ich, was für mich gut ist.
L  Das meint meine Mutter auch.
P  Nein, da ist ein Unterschied.
L  Ein Unterschied?
P  Meine Mutter meint das nicht nur aus ihrem Wissen.
L  Sondern?
P  Sie sagt, Erwachsene können wirklich alles besser beurteilen als
    Kinder.
L  Das meint sie doch nicht im Ernst.
P  Doch. Davon ist sie felsenfest überzeugt.
L  Niemals kann ein Mensch etwas besser beurteilen als ein anderer.
    Jeder tut es auf seine Weise, aus seiner eigenen Inneren Welt
    heraus. Da sind alle gleichwertig.
P  Sie glaubt, das gilt nicht bei Erwachsenen und Kindern.
L  Da hält sie ja an völlig überholten Ansichten fest.
P  Leider. Aber es ist die Sicht ihrer Eltern und deren Eltern.
    Das hat lange Traditition.
L  Weiß ich, aber meine Mutter ist da anders. Die Postmoderne kann
    an Deiner Mutter doch nicht spurlos vorübergegangen sein.
P  Schön wär es. Aber sie erkennt nicht, dass wir vollwertige Menschen
    sind. Dass wir uns selbst gehören und selbstverantwortlich sind, von
    Anfang an. Sie setzt auf Erziehung.

L  Hast Du mit ihr noch nicht darüber gesprochen?
P  Tausendmal. Aber sie versteht es nicht.
L  Meine Mutter sagt, dass sie ihre Selbstverantwortung als Kind beinah
    verloren hat. Weil die Erwachsenen das damals nicht gelten lassen
    wollten.
P  Und?
L  Sie hat sich nicht beirren lassen. Sie hat sich versteckt, und keiner
    hat gemerkt, dass sie immer noch an sich glaubte.
P  Wenn ich mit meiner Mutter über diese Dinge rede, wird sie ärgerlich.
    Sie sagt dann, dass ich trotzig und ungezogen bin.
L  Das muss ja alles sehr anstrengend für Dich sein.
P  Ist es auch.

P  Meiner Mutter geht es auch schlecht dabei.
L  Weil Du Dir ihren Überfall auf Deine Innere Welt nicht gefallen
    läßt.
P  Natürlich nicht. Niemals!
L  Und deswegen hast Du Dich losgerissen und bist noch mal auf das
    Ding da los.
P  Klar. Auf die Schweineschnauze.
L  Sie sagte zu Dir "Steckdose". Aber wir haben es doch im Bilderbuch
    gesehen, es sah aus wie die Schnauze von einem Schwein.
P  Also, ich muss meiner Mutter immer klarmachen, dass sie in meiner
    Inneren Welt nichts zu suchen hat mit ihren Ansprüchen. Sie kann
    mich besuchen, o.k. Aber sie hat kein Recht, ihre Erkenntnisbäume
    in mich zu pflanzen.
L  Stimmt.
P  Wenn sie anderer Meinung ist als ich und das Ding da unten an der
    Wand für eine "Steckdose" hält, dann ist das ihre Sicht.
L  Die kann sie Dir sagen, aber es muss klar sein, dass Du eine andere
    haben kannst und nichts einsehen musst.
P  Genau das tut sie nicht.
L  Wir sollten einen Weltkongress einberufen. Alle Menschen in
    unserem Alter würden das Ding da für eine Schweineschnauze
    halten.
L  Wenn sie vorher das Buch gelesen haben.
P  Und unser Kongressergebnis steht gleichrangig neben dem Ergebnis
    des Erwachsenenkongresses. Jeder erkennt seins.
L  Aber Du sollst einsehen, dass es keine Schweineschnauze ist,
    sondern eine "Steckdose". Und dass sie recht hat.
P  Das macht mich kaputt.
L  Und weil sie es nicht schafft, geht es ihr auch schlecht.

P  Deine Mutter hat doch auch "Steckdose" gesagt.
L  Ja. Aber es war ihre Sicht. Meine hat sie gelten lassen.
P  Sie lässt Deine Sicht gelten?
L  Ja.
P  Immer?
L  Immer.
P  Was hältst Du von ihrer Sicht?
L  Eigentlich redet sie keinen Unsinn.
P  Du glaubst ihr?
L  Sie ist vertrauenswürdig.
P  Weil sie Deine Innere Welt achtet.
L  Ja.
P  Ich komme gar nicht mehr auf die Idee, meiner Mutter noch irgendwo
    zu vertrauen.
L  Aber sie hat mich nicht überzeugt. "Steckdose"? Es wird sich schon
    noch klären.
P  Bist du denn freiwillig weggeblieben?
L  Ich habe gemerkt, wie wichtig ihr das war. Ich bekomme so etwas
    immer  mit. Und sie merkt meine Dringlichkeit.
P  Die kann sie auch merken, weil sie in Dir nichts durchsetzen will. Da
    ist sie offen für das, was Dir wichtig ist.
L  Genau. Und ich bekomme ihre Dringlichkeit mit, weil ich mich nicht
    verteidigen muss.
P  Ich kann so etwas nicht merken. Ich muss dauernd aufpassen, dass
    sie nicht schon wieder ihre Pflöcke in mein Land rammt.
L  Ich bekomme also mit, wie wichtig ihr das ist, dass ich von der
    Schweineschnauze wegbleibe. Ich habe mich gefragt, ob mir meins
    wichtiger ist.
P  Und?
L  Sie hatte solche Not, dass ich ganz erstaunt war.
P  Du hast nachgegeben?
L  Nein. Das ist nicht der richtige Ausdruck. Ich lass sie, wenn es ihr
    dermaßen wichtig ist. Warum auch nicht. Ich liebe sie doch.
P  Wie Du das sagst... Aber ich versteh Dich. Du fühlst Dich nicht
    angegriffen. Du hörst hin, wenn sie Probleme hat, und kannst
    großzügig sein.
L  Großzügig? Es ist doch selbstverständlich, dass ich jemandem helfe,
    wenn ich kann. Und wenn ich ihn liebe, um so eher.

Paul: Und was machst Du, wenn Dir etwas genauso wichtig ist?
  

Was Luca dann macht, kommt morgen.