Corbinian ist drei Jahre alt. Er jault ein bisschen, nicht viel, aber unan-
genehm, für meine Ohren. Irgend etwas passt ihm nicht. So verstehe
ich dieses Meckern, diese Töne, diese Psychofrequenzen. Aber es liegt
nichts an. Jedenfalls nichts Aktuelles. Wir haben keinen Zoff. Ich bin
(gerade) zufrieden. Er ist es auch. Bis eben. Aber dann hat da diese
Jaulerei begonnen, nicht laut, leise, aber hörbar. »Mir passt was
nicht.«
Soweit, so klar. Ich verstehe: Etwas stört ihn. Und da ich mein
Kind
liebe (das ist die Basis des Geschäfts), will ich ihm helfen. Also:
»Was
ist los, Corbinian?« Ich bin nicht angestrengt bei dieser Frage,
auch nicht
betulich. Ich reagiere ziemlich beiläufig: »Was hast Du?«
Aber nichts kommt. Keine Antwort. Nur weiter diese kleine Jaulerei
(die
große Jaulerei wäre eine Katastrophe, aber das ist es jetzt nicht).
»Was
hast Du denn?« Nichts kommt außer Jaultönchen. Natürlich ver-
steht er
mich, er ist drei Jahre alt, und er ist klug. Er weiß, dass ich ihm
helfen will, aus seinem Ungemach heraus. Und ich denke, dass er auch
weiß, dass ich das kann. Er spricht mich ja an. Und ich bin guten
Willens
und will ihm gern helfen. Aber: ich bekomme nicht die
Information, die
ich brauche, um ihm zu helfen. »Soll ich dies oder das
tun?« Ich mache
Vorschläge, ziele auf das, was ich als sein Ungemach
vermute, aber das
trifft es nicht. Oder es trifft es zwar, aber er
reagiert darauf nicht so, dass
ich damit weiterkomme. Mit seiner Ruhe,
die gerade dahin geht.
Klar weiß ich, dass man solche unergründlichen Klein-Jaulereien den Kin-
dern auch lassen kann. Sie haben alles Recht auf diese Töne, ich muss
da nichts richten. Ich kann das als eine »Ausleitung« sehen, einen
Psycho-
eiter,der raus will und eben so rauskommt. Das geht ja auch
wieder vorbei.
(Wennes nicht zur Jaulorgie wird, aber das ist ein
anderes Thema.) Es geht
ja auch wieder, und ich muss da jetzt keinen auf
Verständnis, Therapie und
Co machen. Ich könnte es ihm auch lassen und
meine Dinge tun. Er wird
schon klarer werden, wenn es ihm wichtig ist.
Sonst bleibt er eben so un-
scharf, wie das gerade kommt. Und aus.
Aber ich bin doch anders drauf. Sein Ungemach kann ich jetzt, heute,
gerade
nicht einfach stehen lassen. Ich will antworten, mich kümmern,
helfen. Hel-
fersyndrom? Quatsch, zu hoch gegriffen. Es ist einfacher: Ich
bin der Vater,
dort ist mein Kind. Und das hat ein Beschwer. Und da
kümmer ich mich.
Also zum dritten Mal: »Was willst Du? Sag mir, was Du
brauchst.« Doch
da kommt weiter nichts.
Egal wie das konkret weitergeht (da gibt es so viele Wege wie es Väter
und
Mütter gibt): Ich bekomme jetzt etwas anders in den Blick, etwas
Grund-
sätzliches, das mir Corbinian wachruft. Es fällt mir nicht sofort
auf, sondern
erst abends, wenn er im Bett ist, und ich über diese
»belanglose« Alltags-
szene ins Nachsinnen komme.
»Ich will etwas nicht. Ich will das eigentlich nicht. Nein. Das passt
mir nicht.
Das muss ich nicht haben. Es soll weggehen. Es stört mich. Es
nervt. Geh,
geh weg.« Energie gerichtet an irgend etwas, an etwas, das
stört. Eine klare
Botschaft: Geh jetzt, aus meinem Leben. Jedenfalls
jetzt. Und das kann alles
und nichts sein. Bei Corbinian könnte das ein
Hund sein, der ihn schnuppern
will (Hundenase und Kindergesicht sind auf
gleicher Augenhöhe); der Bruder,
der ein Buch nicht hergibt; ein Schuh,
der nicht zugeht.
»Ich muss das nicht haben. Eigentlich brauche ich das nicht.« Unzählige
dieser Stördinge geschehen in meinem Leben. Sind geschehen.
Unange-
nehmes, Millionen kleine Übel. Begleitet von Unbehagen. Begleitet
nur
von Unbehagen. Dieses Unbehagen fand keinen Weg nach draußen, in
die
kommunikative Welt, in Sprache, in das kleine oder große Nein. Das
Unbehagen war sprachlos, aber zweifellos da, gespürt, wuchernd. Es war
nicht berechtigt, mehr zu sein als ein Unbehagen.
Es wäre ungezogen,
unpassend, überzogen, unanständig, blamierend,
beschämend, bloßstellend,
peinlich gewesen, dieses Unbehagen zu be-
achten, geschweige denn
mitzuteilen. Das Unbehagliche war hinzuneh-
men. Man kriegt nichts
geschenkt. Das Leben ist kein Zuckerschlecken.
Was meinst Du denn, wer
Du bist? Wenn eine Selbstverständlichkeit
Unbehagen auslöst, ändert das nichts daran, dass das Unbehagliche
eben selbstverständlich ist, hinzunehmen ist. Dass ich damit klarzu-
kommen habe. Wie jeder, dem
Unbehagliches passiert. Da macht man
kein Drama draus, keinen Aufriss. Etwas stört, und mehr ist es ja nicht.
Was sind diese unzähligen Ungemache, die gelebten, aber nicht beach-
teten
und nicht mitgeteilten? Die nicht thematisierten. Die
Selbstver-
ständlichkeiten. Über die so nachzudenken, wie ich es jetzt
tue, nicht
am Horizont auftaucht. Die real existierenden
Unbehaglichkeiten –
aber die kommunikativ tabuisierten. Von denen die
Welt ringsum
nicht mitbekommen kann, wie unbehaglich mir das da gerade
ist.
Oder von der die Welt ringsum schon merkt, dass mir da was nicht
passt, aber niemand einen Weg sieht, wie sich das verringern oder
vermeiden lässt. Ich bin mit meinem Unbehagen allein und die an-
deren
lassen mich damit auch allein sein.
Retrospektive: Ich bin 6 Jahre, doppelt so alt wie Corbinian, ich er-
innere mich: Will ich eigentlich in die Schule? Morgens weg von zu
Hause? Aufstehen, wenn ich noch müde bin? Will ich mit den Nach-
barn in
ihrem Auto zur Schule gefahren werden? Will ich ein Regen-
cape auf dem
Fahrrad ummachen? Will ich zum Flötenunterricht?
Will ich diese
Hausaufgaben machen? Will ich schon nach Hause?
Will ich in die
Badewanne? Sagosuppe löffeln? Fisch essen? Leber-
tran nehmen? Zur Impfe
gehen? Ach, es sind Millionen Dinge. Doch
da kommt von mir kein Jaulen,
kein Signal: »Ich will das eigentlich
nicht«. Es kommt überhaupt kein Bewusstsein in mir darüber auf.
Keine Selbst-Bewusstsein. Kein »Das kann
man mit mir doch nicht
machen«. Kein Protest von der Art, die voller
Gerechtigkeit ist. Es
kommt nur das Hinnehmen des Selbstverständlichen,
nichts sonst.
Der Macht des »Man muss« kann ich nichts mehr
entgegensetzen,
jedes Aufbegehren wäre einfach nur ungehörig.
Man geht zur Schule. Man macht Hausaufgaben. Man kommt pünkt-
lich nach Hause. Man isst Fisch. Man, man, man: es gehört sich eben
so. Und aus.
Und aus. Und aus.
Wenn ich da doch mal opponiert habe, mit schlechtem Gefühl, dann
war ich »ungezogen«. Ich ging auf verbotenen Wegen, und wieder
war es aus.
»Ich will das eigentlich nicht in meinem Leben haben«. Heute: Diesen
Irakkrieg. Diese Atomkraftwerke. Diesen Dieselruß. Diesen Zucker in
den
Lebensmitteln.Dieses Amtsschreiben. Diese Autoreparaturkosten.
Diesen
Kostenvoranschlag Zahnarzt. Diese, diesen, dieses. Denken
kann ich
das schon – nur es ist eben lebenslang ungehörig, kinder-
kramlich, nicht
ernst zu nehmen. Was soll der Quatsch?
Wenn mir was nicht passt, kann
ich es sagen, ordentlich. Aber nur so
ein Gefühl haben, dass da was
nicht stimmt? Nicht in mein Leben passt?
Und so ein Gefühl dann auch
noch als berechtigt, legitim ansehen und
es auch noch offensiv und stolz und selbstbewusst und avantgardistisch
und energisch aufsteigen lassen,
zulassen und als vorbildlich und lebens-
dienlich und friedensstiftend
begrüßen und dann auch noch mitteilen???
Das ist doch affig,
Kleinkindverhalten, Jaulen.
Eben. Und genau das zeigt mir Corbinian. In seiner Größe. Und
Schlicht-
heit: »Mir passt da was nicht«. Es sagt es mit seinen Tönen. Er
sagt einfach,
was ich nie sagen konnte, mich nie zu sagen traute. Nie
wäre ich auf den
Gedanken gekommen, dass ich alles Recht der Welt hätte,
das so zu sehen:
»Ich will das eigentlich nicht«.
Fortsetzung folgt.
das leiden des anderen berührt mich sehr und bleibt dennoch "seins/ihres " ... und dieses mitgefühl lässt mich erleben dass ich trotz aller individuellen einzigartigkeit und getrenntheit zugleich teil des ganzen unermesslichen phänomens L e b e n bin und somit verbunden ... und all-ein-s ... und diese sowohl-als-auch-realität des existentiellen körperlich-emotionalenen alleinseins und der tiefen seelisch-geistigen verbundenheit .. auch mit euch die ihr das lest .. ist für mich m/ein menschliches dilemma ... schaurig-schön ....
Zitat:
"... doch dieser schmerz ist wie der stockschlag des zen-meisters der mich wieder in die achtsamkeit und damit ins selbstbewusstsein des : ich bin liebe und zitat hubi : "... dass ich wie jeder Mensch Liebe bin und dass von mir kein wirkliches Leid ausgehen kann... " zurückschwingen lässt ..."
Zitat-Ende
Hmmm, komische Leute (stockschlagende Zen-Meister) kennst du, christa.
Und dann noch:
Ich würde mich (auf meine Mitmenschen bezogen) nicht als "Liebe" bezeichnen, sondern bestenfalls auf mich bezogen bleiben und meinen: Ich bin Selbstliebe.
LG HaJo51
Zitat:
"Es ist ja nicht so, dass ich solche Beschwernisse nicht
zu würdigen weiß. Und ich kann - kann - auch helfen,
dass sie sich auflösen und die Leidwunden heilen. Nur:
nicht über die Maßen. Nicht so, dass mein Würdegefühl
dabei weniger wird. Ich stehe zu mir, meinen Taten und
Wortenn, und schau mal, ob ich helfen kann. Ob ich die
Sehhilfe für den anderen finde, mit der er mich wieder
lieben kann."
Nun, Hubertus, ich habe inzwischen viele Jahre lang öfter mal deine Büchertexte (und seit ca- 13 Monaten deine Blog-Beiträge regelmäßig) gelesen, um mir damit selbst zu helfen, in mir entstandene Leidgefühle zu verarbeiten.
Aber ... LIEBEN werde ich dich wegen dieser deiner Selbsthilfe-Aktionen (Bücher schreiben und zum Kauf anbieten, Blog-Beiträge zur Kenntnisnahme anbieten) wohl eher nicht.
Weil ... ich "stehe" nicht auf Männer. *augezwinker*
Gruß vom (schon lange stark kurzsichtigen) HaJo51