Montag, 25. April 2022

Andi weint



Ich räume meine Bilderkiste auf, finde ein Foto von einer Siebenjährigen, aus der Zeit meiner Kinderforschung. Ich lese meine Aufzeichnungen (von vor fast 50 Jahren) durch und erinnere mich genau:

Andi (7) weint. Wir sind in einem Zeltlager, ich bin zu Besuch. Ich kenne sie erst ein paar Stunden. Die anderen sind gerade nicht da. Ich knie mich vor sie hin, sie steht drei Schritte weg. Sie hält die Arme vors Gesicht, sieht ab und zu her und weint. Ich bin ganz konzentriert und mache mich auf. Ich höre ihr zu und ich habe Raum in mir für ihre Tränen.

Ich sage mit meinen Augen: „Hallo Andi, ich höre Dir zu und habe Platz für Deine Tränen. Du kannst mir Dein Leid erzählen.“ Sie kommt langsam auf mich zu, bleibt stehen, sieht her und weint weiter. „Du kannst kommen und Dich in den Arm nehmen lassen. Du kannst aber auch dort bleiben und mich zuhören lassen“, sage ich ihr mit meinen Augen und mit meinen Gefühlen aus dem Bauch.

Ich beginne, mich weiter zu ihr fallen zu lassen, sie beginnt, weiter auf mich zuzugehen. Plötzlich kommt ihre Gruppenleiterin – Glas zerbricht, eine Kreissäge kreischt, Singvögel fallen zu Boden. „Wer wird denn weinen“, sie nimmt Andis Hand und zieht sie ins Zelt. Ich bleibe voll Schmerz zurück, bin ohne Vorwurf. Voll Schmerz über diesen Erwachsenen.


*

Wir sind es gewohnt, große emotionale Geschehnisse bei den anderen nicht mit Ruhe ansehen zu können. Wenn der andere sehr heftig reagiert, eilen wir herbei, um ihn zu beruhigen, etwa wenn er weint. Oder wir beginnen ihn zu trösten oder von den Dingen zu reden, die Tränen eigentlich nicht nötig sein lassen.

In Wirklichkeit geschieht dann, dass wir uns selbst beschwichtigen und trösten. Dieses Beschwichtigungs- und Trostverhalten haben wir der Erwachsenenwelt abgesehen, als wir Kinder waren. Wenn wir als junge Menschen weinten, stürzten die anderen herbei und nahmen sich unseres Schmerzes an. Was aber bedeutet: Sie nahmen uns die Oberhoheit über unseren Schmerz. Anscheinend konnten sie nicht ertragen, dass unsere Tränen flossen, und sie mussten etwas dagegen unternehmen.

Unsere Tränen gehörten nicht uns. Sie waren etwas Beängstigendes für die anderen. Und wenn wir verzweifelt waren, wurde alles mögliche in Szene gesetzt, damit wir wieder froh wurden. Unsere Verzweiflung wurde nicht als Realität akzeptiert, sondern sie wurde wie ein Schmutzfleck weggeputzt.

Wir wussten um den Wert der Tränen und Verzweiflung von damals. Sie waren offene Tore zu uns, Rufe, uns selbst, so wie wir wirklich waren, zu erkennen. Sie waren keine Aufforderung, herbeizustürzen und von unserer Wirklichkeit, die sich energievoll Bahn brach, abzulenken. Doch im Ablenken waren unsere Erwachsenen geübt, denn sie kannten dies ja aus ihrer eigenen Kindheit: dass ihre Erwachsenen lamentierten, aggressiv reagierten, daherkamen mit gutgemeintem „armes Kind“, listigen Beruhigungsmanövern, „ist doch nicht so schlimm“.

Es ging darum, ihre Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Unsere Tränen waren letzte Versuche, in das Chaos der Erwachsenenwelt die Wahrheit und Weisheit unserer Ordnung zu tragen, die von der Einmaligkeit und Würde der Person kündet.


*

Wenn jemand – sei es ein junger oder erwachsener Mensch – in meiner Gegenwart weint, bin ich nicht aufgeschreckt in hilfloser Dramatik. Ich kann mit Ruhe, Konzentration, Wärme, ohne Worte, still und energievoll einfach da sein. „Ich bin da. Ich stehe auf Deiner Seite. Ich mag mich – selbst. Ich mag auch Dich. Ich habe Kraft, Dir zuzuhören. Deine Tränen verletzen und beunruhigen mich nicht. Ich kann sie Dir lassen. Nichts muss zerstört werden. Ich höre Dich aus der Tiefe in mir. Ich bin Dir nah.“

Meine Reaktion auf die großen Emotionen der anderen sind geöffnete Tore auch bei mir, ich kann mir selbst begegnen. Die Nähe des Weinenden zu sich und die Nähe des Zuhörenden zu sich sind für uns beide hilfreich: Wir spüren, dass wir jetzt einander sehr nah sind, dass unser jeweiliges Selbst viel intensiver in Erscheinung tritt als sonst. Und von dieser intensiven Basis aus sehen wir in unsere Herzen.




 

Montag, 18. April 2022

Amication: Veras Weg

 


Vor etwa zwei Jahren hörte ich von der Amication. Hier traf ich auf Menschen, von denen ich mich angenommen und verstanden fühlte, die mich nicht beredeten mit Aussagen wie: »Du hast doch alles, gesunde Kinder und materielle Absicherung, was willst Du denn?« Ich musste nichts erklären und bekam auch nichts erklärt. Mit der Zeit traute ich mich immer mehr an mich selbst heran, an meine Gedanken und meine Gefühle. Oft zu meinem eigenen Erschrecken stellte ich fest, dass ich etwas ganz anderes sagte oder tat, als ich wirklich meinte. So nach und nach merkte ich, wie ich mich vor mir und den anderen versteckt habe. Vieles habe ich so getan, wie es meiner Meinung nach von mir erwartet wurde. 

Wenn ich so zurückdenke, habe ich mir nie richtig Ruhe gegönnt. Mich einfach hinsetzen, abschalten. Die Zeit verstreichen lassen, ohne etwas vorzuweisen, das gab es nicht. Da kamen so Sprüche in mir hoch wie »Müßiggang ist aller Laster Anfang« und »Lass Dich nicht hängen«. Es zählt nur, wer arbeitet, wer etwas für andere sichtbar leistet. 

Viele Jahre habe ich gemacht, geschafft über meine Kräfte hinaus und habe nicht gemerkt, wie ich gegen mich selbst gearbeitet habe. Alle äußeren Gelegenheiten habe ich dafür verantwortlich gemacht, dass ich mich selbst jage. Mein Körper hat mit Krankheit reagiert, aber dafür gab es ja Medizin. So langsam spüre ich meinen Körper wieder, merke, was in mir vorgeht, und reagiere darauf. Mit der Zeit kann ich mich immer besser einschätzen, ich lerne mich kennen. Heute muß ich nicht mehr weiterlaufen, um zu gewinnen, wenn ich nicht mehr laufen kann. Ich bleibe stehen, und es ist gut so. Stückchen für Stückchen kann ich mich so nehmen, wie ich bin. 

So wie ich mich auf mich selbst einlassen kann, so kann ich mich auch inzwischen auf meine beiden Kinder einlassen. Immer wieder habe ich ihnen meine Maßstäbe und Erwartungen aufgedrückt und habe Wege gesucht, das einzelne Kind dahin zu bringen, wohin ich es haben wollte. Es ist nicht bewusst geschehen - ich habe es nur gut gemeint. 

Ein Beispiel zeigt, wie sehr ich mich dann an dem, was die Kinder taten, orientierte. Meine damals fast fünfjährige Tochter fing an, irgendwelche kleinen Gegenstände wegzunehmen. Zunächst versuchte ich sie mit Zureden, dann mit Strafen, ja sogar mit Erpressung davon abzubringen. Erst viel später, als alle meine Überredungskünste fehlschlugen, fing ich an, die Sache zu hinterfragen. Warum hatte es meine Tochter nötig, kleine Dinge zu entwenden?

Der Gedanke »Ich muss das verhindern, was soll sonst daraus werden?«, also meine eigene Angst, verschwand ganz. Bald war mir klar, dass das ein Kampfmittel war. Hier konnte sie mich treffen. Aber warum musste sie mich bekämpfen? Selbst Druck und Strafe konnten sie nicht daran hindern, überall etwas mitzunehmen. Es geschah nur immer heimlicher, und sie fing an, zusätzlich noch zu leugnen. Nun war ich genau da hineingerutscht, wo ich nicht hinein wollte. 

Verbote, Strafe, Druck, alles das wollte ich nicht. Bei mir spürte ich Hilflosigkeit und Traurigkeit. Davon konnte ich meiner Tochter erzählen. Immer stärker spürte ich, was das, was sie tat, bei mir auslöste. Nun war ich unfähig, sie dafür zu bestrafen oder auch nur Strafe anzudrohen. Ich habe von mir erzählt und geweint, ohne sie dafür verantwortlich zu machen. Es waren meine Gefühle. Bei mir verlor die Sache dann mehr und mehr an Bedeutung, irgendwann fiel mir auf, dass meine Tochter nichts mehr mitnahm. Es hat sich alles wie von selbst erledigt.


 

Montag, 11. April 2022

Der erste Atemzug

 


Selbstverantwortlich – ab wann? Von Anfang an! Auf dem Vortrag neulich kamen wir auf die Selbstverantwortung der Babys, ja der Neugeborenen zu sprechen. Es ging konkret um den ersten Atemzug. Wer ist dafür verantwortlich, dass er gelingt?

Unmittelbar nach der Geburt muss sich das Neugeborene den lebensnotwendigen Sauerstoff aus der Luft besorgen – durch das Atmen. Die neun Monate vorher nehmen sich die Embryos den Sauerstoff aus dem Blut der Mutter, das durch die Nabelschnur zu ihnen gelangt. 

Traditionellerweise fühlen sich Erwachsene für Kinder verantwortlich, und so sind auch Arzt und Hebamme dafür verantwortlich, dass bei der Geburt die Umstellung von der Sauerstoffaufnahme aus dem Blut hin zur Luftatmung gelingt. Denn sie meinen, dass Babys dies nicht von sich aus können. Sie klemmen deswegen die Nabelschnur ab, machen einen Knoten und schneiden sie durch, kaum dass das Kind da ist. Und veranlassen es so zum ersten Atemzug, zur Luftatmung. 

Weil durch das Abklemmen der Sauerstoff ausbleibt, geraten die Babys in Lebensangst, reißen den Mund auf und stürzen mit dem ersten Atemzug eine Riesenmenge Luft in die noch zusammengefaltete Lunge, die sich plötzlich mit einem großen Ruck entfaltet - wie Feuer fährt es in den kleinen Körper, ein schrecklicher Schmerz! Er entlädt sich in wildem Schrei, dem ersten Schrei...

Doch keinem Baby muss aus Sorge und Verantwortungsgefühl Schmerz und Leid bei der Geburt zugefügt werden. Denn auch hier greift die Selbstverantwortung: Jeder neugeborene Mensch kann diese Umstellung selbst regeln, niemand muss dazu durch Abklemmen und Durchschneiden veranlasst, gar gezwungen werden. Es geht so:

Unmittelbar nach dem Geborensein wird das Baby auf den Bauch und die Brust der Mutter gelegt, nahe an ihrem Herzen. Die Nabelschnur wird jetzt nicht abgeklemmt und durchschnitten, das Kind somit nicht zur Luftatmung veranlasst, gezwungen. Denn auch wenn das Kind schon geboren ist, pulsiert das Blut noch einige Minuten lang durch die Nabelschnur von der Plazenta zum Kind und bringt wie alle Monate vorher mit jedem Herzschlag den benötigten Sauerstoff. 

Langsam, in eigener Regie, mit kleinen Atemzügen, kann sich das Neugeborene parallel zur Blut-Sauerstoffversorgung auf die Luft-Sauerstoffversorgung, die Atmung umstellen. Das Blut in der Nabelschnur wird dabei vom Körper des Kindes nach und nach vollständig aufgenommen, es wird zur behutsamen Entfaltung der Lunge und für den Lungenkreislauf benötigt. Die Nabelschnur wird schließlich leer und milchglasig und wird erst dann verknotet und durchtrennt. 

Bereits vorgeburtlich werden die Menschen zur Selbstverantwortung ausgebildet. Mit Hormonen, biochemischen Möglichkeiten und vielen anderen vom kindlichen Organismus selbst gesteuerten Prozessen regeln die Embryos ihren Nahrungs- und Sauerstoffbedarf, ihren Schlaf, ihre gesamte Entwicklung. Immer wieder entscheiden sie selbst, unendlich viele große und kleine Dinge in ihrem beginnenden Leben. 

Wann soll zum Beispiel die erste Bewegung erfolgen, mit dem Finger, der Hand, dem Arm, dem Bein, dem Kopf, dem Rumpf, dem Körper ... Und schließlich sind sie es, die ihre Geburt einleiten, nicht die Mutter oder gar der Arzt mit der Spritze: Nach etwa neun Monaten der Entwicklung spürt jedes Ungeborene selbst, wann der rechte Zeitpunkt gekommen ist, und der Embyo gibt den entscheidenden Hormonausstoß in den Körper der Mutter, um damit die Wehentätigkeit auszulösen. 

Alle Kinder kommen als hochwertig ausgebildete und trainierte Selbstverantworter auf die Welt, mit Selbstverantwortung ausgerüstet für ein gazes langes Leben. Sie rufen den Erwachsenen zu Beginn  zu: „Ich bin für mich selbst verantwortlich! Das ist jeder Mensch, vom Anfang bis zum Tod! Ich habe es gut gelernt, für mich verantwortlich zu sein, es gehört zu meinem Wesen, zum menschlichen Wesen! Erkennt und achtet es!“



Montag, 4. April 2022

Nicht bemühen ...



Wenn wir etwas erreichen wollen, müssen wir etwas dafür tun. So etwas will im rechten Verhältnis sein: Geben und Nehmen, Bemühen und Erhalten. Das ist eins von vielen Grundmustern des Lebens. Wie soll auch geschehen, was ich will, wenn ich mich nicht dafür einsetze und etwas dafür tue? 

Heute will ich nachts in den Wald zum Meditieren. Was ich dafür tun muss: nun, ich mache mich auf den Weg, schaffe den Weg, komme an. Den Weg zurücklegen ist der Einsatz, um in den Wald zu kommen. Hab ich ja auch gut erledigt. Ich bin angekommen und beginne mit dem Nachsinnen.

„Du musst Dich nicht bemühen.“ Sanft und langsam, ein Hauch. Wortlos noch, kein Satz. Aber es formt sich. Ich erkenne dann mit Worten, was sich mir mitteilt. Es ist der Wald, die Nacht, der Zauber der Stille, das Wesen der Ruhe. Was auch immer es ist: es ist nicht zu überhören. Und es spricht mich an. Und ich lasse mich ansprechen und höre zu.

Es ist eine sehr gewisse, machtvolle und ruhige Botschaft. Sie will nicht gehört werden: sie ist da und kann gehört werden. Sie ist fest verankert in der Energie der Konstruktivität. Sie ist Vertrauen. Alles steht mir zu, alles wird mir zufließen, alles wird mich tragen. Es ist etwas Freundlich-Schelmisches dabei, etwas Verschmitztes. Weil es so selbstverständlich ist und weil es so schwer zu merken ist. 

Wenn ich mich bemühe, entferne ich mich. Ich bin dann nicht dort, wo ich sein will, sondern ich bin im Dorthin-Eilen. In der Mühe eben. Es ist so ungewohnt: Alles fließt mir zu? Das stimmt doch gar nicht. Ich will so vieles erreichen und bemühe mich unentwegt. „Musst Du nicht tun. Lass Dich in Ruhe. Du liebst Dich doch. Dann tu es einfach. In allem und jedem. Vertrau dieser Kraft. Mehr ist nicht zu tun.“ 

Es ist eine seltsame Botschaft heute Nacht. Gegen alle Logik und Lebenserfahrung. Erkennbar paradox. Wirklich? Ich habe auf einmal Zugang zu dieser Widersprüchlichkeit, sehe ihre Harmonie und fühle mich wohl und willkommen in dieser Zauberei. In dieser Realität der Liebe. Ja, ich habe vom WU WEI von Lao Tse gehört. Ist es das? Ist im Bemühen zu viel Misstrauen, ganz grundsätzlicher Art? 

„Du musst Dich nicht bemühen“ kommt aus tiefer Liebe zu mir selbst, aus dem Vertrauen in das Leben und den Sinn. Dem ich nachgeben kann, hier im Dunkel der Nacht, in der Konzentration der Stille und dem Atem des Waldes. Es ist ein Raum, der ja auch da ist, und in den ich gehen kann, wenn ich das will. Ich entscheide, wie immer, welchen Weg. 

„Es erfüllt sich. Es wird schon. Es kommt so, wie es richtig ist. Es geht gar nicht anders. Dein Bemühen hält das Fließen nur auf. Lass es geschehen.“ Alles sehr fremd. Alles sehr vertraut. Eine Gewissheit jenseits der Erklärung. Alltagstauglich? Auf dem Rückweg lasse ich dieses Befragen. Ich lasse es einfach gelten und zu mir gehören. Ich habe verstanden: Ich muss mich auch nicht bemühen, das alles zu verstehen. Wahrheit kommt auf vielen Pfaden.