Montag, 31. Mai 2021

"Der spielt."



Ich bin zu Besuch bei meiner Tochter Xenia. Das Abendessen ist vorbei, Geschirr und Besteck sind in die Spüle geräumt. Mein Enkel Johann (2 ½ ) nimmt sein Kinderstühlchen und rückt es vor der Spüle zurecht. Er stellt sich darauf und kann jetzt dort oben wirtschaften. Sein Vater Ulf stellt ihm das Wasser an. Ich sitze am Küchentisch, vier Erwachsene und Johanns Bruder Yann (5). Wir unterhalten uns, nur nebenbei sehe ich Johann vor mir an der Spüle. 

Dann geht ein Wahrnehmungs-Fenster auf, und ich sehe das Kind intensiv, bin konzentriert und schwinge ein: Johann nimmt den Lappen, wäscht hier etwas ab, stellt dort etwas um, Johann singt vor sich hin. Mir geht das Herz auf: dieser junge Mensch ist so ganz bei sich, in seiner Welt. Souverän, ohne Wenn und Aber: Johann wäscht ab. 

Als ihm eine Tasse mit lautem Bums ins Becken fällt – da sehen alle kurz auf und sind dann wieder in ihrer Gersprächswelt – nicht in Johanns Welt. Da bin ich aber grade angekommen, und ich bin verblüfft, dass Xenia und Ulf ihn mit dem Wasser so rumhantieren lassen, die mögliche Überschwemmung lässt grüßen. Außerdem könnte die Tasse ja auch auf den Boden gefallen sein. Stress und Scherben am Abend. 

Ich komme in unsere Erwachsenen-Gesprächswelt zurück „Xenia, weiß Du eigentlich, was Johann grade macht?“ Ich will sie behutsam auf das zu erwartende Ärgernis vorbereiten. Xenia nur kurz und völlig selbstverständlich: „Der spielt." Da bin ich sprachlos und zum zweiten Mal heute Abend fasziniert: Ich dachte, die Mutter ist dankbar für meinen Hinweis, steht jetzt auf und kümmert sich um mögliche Scherben und Pfützen. Aber nein! 

Sie hat ihr Kind nicht ausgeblendet, während wir reden. Sie weiß genau, wo er ist, was er macht und wie er unterwegs ist: „Der spielt.“ Aha – der spielt! Ja, klar doch, irgendwie völlig klar doch. Wasserpfützen, Scherben? Ganz verkehrte Welt! „Der spielt."

 

Montag, 24. Mai 2021

Gleichwertigkeit - ein schwieriges Ding

 


Die Gleichwertigkeit ist ein schwieriges Ding. Arzt und Mörder sind gleichwertig. Beide sind Ebenbilder Gottes, sie gehen nur grundverschiedene Wege. Aber ihr Wert und ihre Würde sind von gleichem Rang. Das ist ein weit gefasstes Bild und schließt niemanden aus.

Auch nicht die, von denen wir gelernt haben, dass sie wenig wert sind, dass sie böse sind, wie man sagt. Die Würdekrone aber haben alle. Doch soll man dann alles durchgehen lassen?

Kain. Er erschlägt seinen Bruder Abel. Besuchen wir die beiden! Mit der Zeitreise. Wir landen mit unserer Rakete hinten auf dem Acker, Kain holt grade mit dem Stein aus. „Halt“, rufe ich, „warte mal!“ „Was willst Du? Wer seid Ihr denn?“

Ich rede auf ihn ein, ich sage ihm, dass es keine Bösewichte gibt und dass er es auch nicht ist, auch nicht, wenn er seinen Bruder erschlägt. Aber ob das denn unbedingt sein muss, und dass seine Opfergabe … und so weiter. Ich versuche ihn davon abzuhalten, seinen Bruder zu töten.

„Verschwinde jetzt,“ sagt er schließlich, „ich will meinen Bruder umbringen, so steht es in der Bibel.“ „Bei allem Respekt, Kain, Du weißt, dass ich Dich nicht für einen Bösewicht halte, aber das wirst Du nicht tun!“ Und auf mein Kommando stürzen wir uns auf ihn und entwinden ihm den Stein.

Ich will damit sagen, dass ich mir – bei allem Respekt auf der psychischen Ebene – sein Handeln nicht bieten lasse.

Was allen „Bösewichten“ gegenüber gilt. Und wenn ich eine Chance habe, kann da keiner von denen tun, was er will, sei es nun ein Bombenleger, Feuerteufel, Amokfahrer, Säurespritzer, Mädchenhändler, Kindesmissbraucher, Drogenboss, Tierquäler oder ein sonstiger Fürst der Finsternis. Das Durchsetzen in der äußeren Welt ist ein klares Oben-Unten.

Die Handlungsebene muss aber nicht von einer psychischen Oben-Unten-Position umgeben sein. Dort, in der inneren Welt, ist bei allem Durchsetzen in der äußeren Welt Gleichwertigkeit. 

Uneingeschränkt gilt für jeden: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Es besteht der Unterschied von „böser“ Tat, die es zu verhindern gilt, und Täter, der immer ein Ebenbild Gottes ist. 

Mein Handy klingelt. „Hallo?“ Ein berüchtigter Kindsmörder ist dran. „Sie behaupten doch, ein Mörder habe gleichen Wert wie ein Arzt?“ „Ja, hat er!“ „Das ist doch Unsinn, das glauben Sie doch selbst nicht. Ich bin ein Mörder und viel weniger wert als ein Arzt. Und um Ihnen Ihren Unsinn zu beweisen: schauen Sie mal aus dem Fenster, ich bin hier hinten im Gebüsch.“ 

Ich sehe ihn, er winkt. „Und ich habe Ihre Tochter, die bringe ich jetzt um. Da werden Sie schon merken, was für ein Bösewicht und Ekel ich bin. Nehmen Sie Ihr Fernglas, da können Sie zusehen.“ Solche Anrufe kenne ich. 

Ich habe aber kein Fernglas parat, sondern ein Gewehr mit Zielfernrohr. Blitzschnell nehme ich es hoch, ziele auf sein Messer und drücke ab. Da er sich beim Zustechen bewegt hat, treffe ich nicht das Messer sondern seine Brust, meine Tochter ist unversehrt. Ich stürze aus der Wohnung und renne die 100 Meter zu ihm hin. „Du elendes Schwein, Du stichst keine Kinder mehr ab!“ Ich trete ihn vor Wut. 

Nein, es ist ganz anders: Ich renne zu ihm hin, das Blut spritzt, er liegt auf dem Boden, ich nehme ihn in den Arm, er sieht mich mit brechenden Augen an: „Ich bin ein Schwein“, sagt er leise. „Nein“, sage ich und streichle ihm über den Kopf, „Du bist ein Ebenbild Gottes wie ich. Du gehst nur einen Weg, den ich nicht mitgehen kann.“







Montag, 17. Mai 2021

Selbstliebe und erziehen


 

Vor einiger Zeit gab ich der Böhme-Zeitung in Soltau ein Interview über "Selbstliebe und erziehen":

  

Die Annahme, dass Kinder erst zu „richtigen“ Menschen erzogen werden müssten, ist sicherlich falsch, wenn damit „vollwertig“ oder „gleichwertig“ gemeint ist. Dennoch bedürfen Kinder in unterschiedlichen Lebensphasen doch immer wieder elterliche Unterstützung und auch Anleitung. Was soll daran falsch sein?

Nichts. Besser: kommt drauf an. Auf den Ton nämlich, der beim Unterstützen und Anleiten dabei ist. Von oben herab? Weil ich recht habe? Weil Du noch ein Kind bist? Ja, wir stehen oben, haben recht und ein Kind ist ein Kind. Aber bei aller Offensichtlichkeit: da kann ein unguter Ton dabei sein, der von oben herab kommt, mit Rechthaberei und „Du bist nur ein Kind“. Das muss nicht sein. Und es sollte nicht sein. 

 

Die allermeisten Eltern handeln instinktiv so, wie es ihrer Überzeugung nach das Beste für das Kind ist. Wenn sie jetzt hören, dass das zu viel ist – erzeugt das nicht vor allem ein schlechtes Gewissen und verunsichert die Eltern nur noch mehr in einer Welt zwischen Perfektionismus und Überlastung? 

Menschen gibt es seit Millionen Jahren, und immer haben Eltern instinktiv so gehandelt, wie sie es als gut für ihre Kinder eingeschätzt haben. Das ist der richtige Weg und nicht „zu viel“. Ich bestärke Eltern darin, sich auf ihr Gefühl zu verlassen. Das ganze heutzutage ausgetüftelte Erziehungsdenken stört: das ist zu viel, wird leicht zur Last und verunsichert. Ja, man kann auch mal einen Erziehungsratgeber lesen oder einen Vortrag zu Erziehungsfragen besuchen. Aber nötig ist das nicht. 

 

Sie schlagen vor, die Selbstliebe wieder zum Ausgangspunkt des Umgangs mit den Kindern zu machen. Ist das nicht leichter gesagt als getan? Setzt diese Selbstliebe ein radikales Umdenken voraus? Und wie müsste das aussehen? Ist Selbstliebe vor allem eine Frage der inneren Einstellung? 

Mein Vorschlag ist keine Hausaufgabe. Niemand muss die Selbstliebe zum Ausgangspunkt des Umgangs mit Kindern machen. So etwas hört sich doch nur anstrengend an. Ich bin da anders unterwegs, nämlich so: Jeder kann es sich gestatten, erlauben, sich hineinfallen lassen in ein freundliches Ich-mag-mich. So was braucht kein Umdenken und keine besondere Einstellung. Und um so besser, wenn einem das im Zusammensein mit den Kindern passiert.

 

Selbstliebe scheint heute vielen Menschen schwer zu fallen, sie ist alles andere als selbstverständlich. Selbstzweifel scheinen – gerade Eltern – zu dominieren. Wie kann man Selbstliebe lernen? 

Menschen tragen die Selbstliebe von Geburt an in sich. Wir haben nur in der Kindheit gelernt, uns nicht als liebenswerte Ebenbilder Gottes zu sehen sondern als fehlerhafte Wesen, die man erziehen muss. Weg damit! Es ist aber auch kein Drama, wenn man an sich zweifelt. Das gehört in der Erziehungskultur, in der wir groß geworden sind, eben dazu. Und: „Selbstliebe lernen“ - so geht das nicht. Sie ist ja da, und es kann einem irgendwie (?) widerfahren oder geschenkt werden, dass sie wieder aufblüht. Jeder ist da eingeladen, sich auf seine Sebstliebewiese plumpsen zu lassen, so wie wir das als Kinder konnten. Vielleicht gehört einfach ein bisschen Mut dazu, sich zu trauen. Sich zu vertrauen. Sich in Ruhe zu lassen. An sich zu glauben. 

 

Auch wenn es Eltern gelingt, sich selbst zu lieben, löst das noch nicht alle familiären Probleme. Auch selbstliebende Eltern werden weiter mit ihrem Kind und miteinander Konflikte austragen müssen, auch miteinander streiten. Wo ist da der entscheidende Unterschied? 

Noch einmal: Es muss Eltern nicht gelingen, sich selbst zu lieben. Das ist doch alles viel zu gewollt. Nichts muss. Nur: Wenn man sich mag, was ja vorkommen kann, dann lassen sich die Alltagsprobleme gelassener angehen. Konflikte wird es immer geben. Ich sag hü, das Kind sagt hott. Und dann gebe ich gelassen nach oder ich setze mich ohne Zimperlichkeit durch: „Es gibt nicht noch ein Eis!“ Das haben die Kinder natürlich nicht so gerne, es entstehen Ärger und Leid. So ist es, und das lässt sich auch nicht vermeiden. Und: Ich mag mich, wenn ich mich durchsetze! Weil mir das wichtig ist, weil es meinen Werten und meinen Vorstellungen vom Besten des Kindes entspricht. 

Zum Unterschied: Ich muss den Kindern dann ihren Unwillen, Ärger oder Leid nicht wegpusten und madig machen durch ein „Sieh das ein“ und „Es ist doch nur zu Deinem Besten“. Nach jedem Regen scheint die Sonne ganz von allein. Wir müssen es uns nicht übel nehmen, wenn wir Steine im Weg der Kinder sind. Das gehört einfach dazu. Die Quadratur des Kreises, sich durchzusetzen und dabei noch ein Lachen hervorzulocken, muss sich niemand antun. 

 

Bedeutet Selbstliebe, dass ich auf Erziehung verzichten kann? Wie soll ich mein Kind dann begleiten? 

Auf Erziehung verzichten? Man kann darauf verzichten, sich im Umgang mit Kindern missionarisch, besserwisserisch, mit ungutem Sieh-das-ein-Ton über die Kinder emporzuschwingen. Ich habe den Begriff „Erziehung“ nicht so gerne, weil er diese Oben-Unten-Position normalerweise als Grundrauschen enthält. Aber lassen wir das, erziehen wir die Kinder einfach ohne diese traditionelle und pädagogische Erwachsenen-Macke. Erziehen wir instinktiv oder belesen oder beides. Verunsichert oder gefestigt oder beides. Wie es kommt. Selbstliebe hin oder her. Wie gesagt, seit Millionen von Jahren... Das wird schon!



Montag, 10. Mai 2021

Was ist gut für die kindliche Entwicklung?

 



Eine Passage aus meinen Vorträgen:

Was ist gut für die kindliche Entwicklung? Das wissen die Experten. Das wissen die Experten? Vorsicht! 

Zunächst das Jahr 1900. Es gibt eine Konferenz zur weiblichen Entwicklung. Die (männlichen) Experten tragen vor, diskutieren, machen Vorschläge, erarbeiten eine Resolution. Die Männer sind in ihrem Element. 

Plötzlich Unruhe, Lärm, Getöse. Die Frauen haben mitbekommen, was da passiert. Sie sind empört. „Ihr wisst, was für unsere Entwicklung gut ist?“ Die Anmaßung der Männer macht sie wütend. Sie treten die Türen ein, legen Feuer. „Wir wissen selbst, was für uns und unsere Entwicklung gut ist.“ 

Hundert Jahre später gibt eine Konferenz zur kindlichen Entwicklung. Die (erwachsenen) Experten tragen vor, diskutieren, machen Vorschläge, erarbeiten eine Resolution. Die Erwachsenen sind in ihrem Element. 

Unruhe, Lärm und Getöse kommen diesmal von innen. Ich nehme an der Konferenz teil und bin an der Reihe, meine Sicht darzustellen. Ich sage zur Verblüffung und Verwirrung der versammelten Gelehrten: „Ich bin nicht befugt, mir über die Entwicklung anderer Menschen derartige Gedanken zu machen.“ 

„Gedanken, die Kinder zu Objekten meines Nachdenkens machen und mich über sie stellen. So etwas verletzt und depersonalisiert, auch wenn es in bester Absicht geschieht. Es ist unwürdig und herabsetzend. Es entkernt ihre Menschenwürde. Wenn wir expertenhaft über Kinder nachdenken, ist das genau so chauvinistisch wie damals, als die Männer über die weiblichen Entwicklung nachdachten. So etwas ist adultistisch. Ich verlasse diese Konferenz.“ Und die Kinder treten die Türen ein und legen Feuer... 

Ich fahre von der Konferenz nach Hause. Ich überlege, welch kleines Geschenk ich meiner Frau mitbringen könnte. Stopp an der Tankstelle. Mon Chérie oder Rose? Ich bin unschlüssig. „Was suchen Sie?“, fragt der Kassierer. „Ich weiß nicht, ob ich meiner Frau Mon Chérie oder eine Rose mitbringen soll.“ „Ja“, sagt er, „schwere Entscheidung.“ Ich nicke. „Bringen Sie ihr doch das mit, was gut für ihre Entwicklung ist.“ (Die Zuhörer lachen, es ist absurd.)

Aber keine Sorge, das Gespräch gibt es nicht. Ich schenke ihr das, von dem ich meine, dass es ihr die meiste Freude macht. 

Am nächsten Tag bin ich zum Einkaufen unterwegs. Mein Neffe hat Geburtstag. Ich stehe unschlüssig vor dem Schaufenster des Spielwarengeschäfts. „Worüber denkst Du nach?“ Mein Freund ist mitgekommen. „Teddy oder Lego“, sage ich. „Ich kann mich nicht entscheiden.“ „Wie alt wird er denn?“ „Drei“, sage ich. „Das kann doch nicht so schwer sein,“ sagt er. „Was ist denn gut für seine Entwicklung in dem Alter?“ Gute Frage! Was sagen Pädagogik, Entwicklungspsychologie und Hirnforschung? 

Mein Neffe steht plötzlich neben uns. Er ist empört. „Wie denkt Ihr denn über mich? Ihr wisst, was gut für meine Entwicklung ist? So was steht in den Büchern? Darüber gibt es Konferenzen? Das läuft an den Universitäten? Habt Ihr sie noch alle? Ich bin doch kein Objekt Eurer geistigen Begierde! Ich bin ein Mensch mit Würde und habe eine Würdekrone! Lasst den Unsinn. Und schenkt mir das, von dem Ihr meint, dass es mir Freude macht.“ 

Ich mache mir schon Gedanken darüber, was für andere Menschen und für meine Kinder und ihre Entwicklung gut ist. Aber der ganze Blick ist dabei – anders. Ich nehme keine objektivierende und expertenhafte Haltung ein, sondern bin subjektiv unterwegs, von Person zu Person. Und ich möchte auch nicht, dass da – wann auch immer – „Experten“ mich beäugen und „objektiv“ über mich befinden. Niemand will das, auch kein Kind. 

Aber ist „Unterstützen statt erziehen“ denn nicht gut für Kinder? Wer kann das wirklich wissen! Es ist ein Weg zu den Kindern. Es ist mein Weg zu den Kindern.

 

Montag, 3. Mai 2021

Das klappt doch nie? Trau Dich!


 

  

„Das klappt doch nie!“ Das wurde mir neulich vorgesetzt. „Kann schon sein, dass es nicht klappt“, dachte ich, „kann aber auch nicht sein.“ Und dann fiel mir dieses fulminante „Klappt doch nie!“-Erlebnis vor langer Zeit ein:

*
Ich mache mit der Familie Ferien in England, meine Frau Brigitte, Felix (9), Xenia (7) und ich. Eines Tages fahren wir mit der Fähre weiter zu den Äußeren Hebriden. Wir besuchen den Leuchtturm Butt of Lewis und fahren einige Tage später mit der Fähre wieder zurück nach Schottland, Hafen Ullapool. 

Wir verlassen den Hafen, es soll nun zum Loch Ness gehen. Nach einer halben Stunde: „Mein Stickzeug ist nicht da.“ Xenia hat Stickgarn mit und knüpft damit auf der ganzen Reise bunte Freundschaftsbänder Aber jetzt ist es nicht wie gewohnt neben ihr im Auto.

Während wir weiterfahren, überlegen wir, wo es sein könnte. Schließlich halte ich an und suche die vollgepackte Rückbank ab, aber es ist kein Stickzeug da. „Jetzt überlege mal, wann hast Du es zuletzt gesehen?“ „Auf der Fähre.“ 

Stimmt, ich erinnere mich, Xenia hat es dort benutzt, vor ihr auf dem Tisch. Dann kam es wie immer in eine leere rote Chipsrolle. Ich sehe alles deutlich vor mir. Kurz vor dem Aussteigen stand die rote Rolle neben Xenia auf der Bank, auf der wir gesessen hatten. 

„Hast Du vergessen, sie von der Bank mitzunehmen?“ Es kommt keine Antwort, der Kummer ist zu groß. 

Na ja, weg ist weg. Aber ich kann das nicht! Da muss mehr gehen! Ich habe beim Aussteigen den Reinigungsdienst gesehen, die Frauen packten alles Liegengebliebene von Tischen und Bänken in große blaue Müllsäcke. Sie mussten die Chipsrolle für das gehalten haben, was offensichtlich war: Müll, auf der Bank zurückgelassen. Eingepackt und weg. 

Eine verwegene Idee meldet sich in mir: Wenn ich die Müllsäcke untersuche? Ja, im Film, aber nicht in der Realität. „Wir könnten zurückfahren und ich untersuche die Müllsäcke“ sage ich trotzdem. „In einem müsste Dein Strickzeug sein.“ Aber so eine Trostbemerkung ist doch unfair. Unfair? 

„So ein Quatsch.“ Die Stimmung im Auto ist entsprechend deutlich. „Außerdem sind wir schon viel zu weit weg.“ In mir nimmt es Schwung. „Ich könnte es doch versuchen.“ Aber „Das klappt doch nie“ breitet sich weiter aus. 

Ich will Xenia nicht hängen lassen. Wenigsten einen Versuch machen! Ich sehe mich irgendwo am Hafen die Säcke aufschlitzen. 

Brigitte kennt mich: Wenn ich mir so etwas Absurdes einmal in den Kopf setze, dann... Sie gibt mir freie Hand, Loch Ness würde uns nicht weglaufen. Nessie grunzt freundlich. Felix und Xenia sagen gar nichts mehr, es ist alles zu unwahr. 

Ich drehe das Auto mit Schwung um und fahre zurück. Die Atmosphäre ist erst angespannt, dann heiter. So viel Nonsens für ein Stickzeug. Soviel Liebe für ein Kind. 

Am Hafen traue ich mich nicht, über den Zaun zu den blauen Säcken zu klettern. Wen fragen, ob das geht? „Das klappt doch nie“ lauert. Am Ticketschalter: „Wir waren grade auf der Fähre. Meine Tochter hat ihr Stickzeug vergessen, es müsste in einem der Müllsäcke in einer roten Chipsrolle sein. Ob ich vielleicht...?“ Der Ticketman sagt nur: „Hafenmeister.“ 

Puh, hohe, sehr hohe Hürde. Den Hafenmeister für so eine Bagatelle angehen? Der hat weiß Gott anderes zu tun. Es ist aber keine Bagatelle! Es ist eine Herzenssache! Auch diesen Versuch will ich machen, auch wenn ich mich schwer blamieren sollte. „Wartet am Auto.“ 

Büro des Hafenmeisters, Anklopfen, reingehen. „Meine Tochter...“ Der Hafenmeister legt seine beiden Telefonhörer aus der Hand und hört zu, sehr konzentriert. „Ich habe auch eine Tochter in dem Alter.“ Gespräch von Vater zu Vater. „Wir haben die Müllsäcke aber gar nicht hier ausgeladen, sie werden diesmal auf der anderen Seite, in Lewis entsorgt. Die Fähre ist schon zurückgefahren.“ 

Aus der Traum! Aber: „Ich rufe den Kapitän an, die Crew kümmert sich darum. Wie sah die Rolle genau aus?“ Mir kommen fast die Tränen. „Warten Sie vor dem Büro, es kann dauern.“ 

Alle vier warten wir auf der Bank vor dem Büro. Gespannt, angespannt. Ob das was wird? Wie unrealistisch ist dass denn eigentlich alles? Das Fünkchen Hoffnung wird stärker – die Enttäuschung wird um so größer sein... Schließlich öffnet sich die Tür, der Hafenmeister steckt den Kopf raus, sieht uns: „We get it!“ 

Wir sind sprachlos. „Die Fähre kommt morgen um elf Uhr zurück, seines Sie dann am Kai, der Kapitän bringt Ihrer Tochter das Stickzeug mit.“ Wir sind immer noch sprachlos. 

Dann suchen wir uns einen Campingplatz, haben eine schönen Abend am Meer und kriechen voll Vorfreude ins Zelt. Am nächsten Vormittag sind wir um elf am Kai. Die Fähre läuft ein, die Passagiere verlassen das Schiff. 

Dann kommt die Crew. Zum Schluss auf der großen Außentreppe der Kapitän in seiner blauen Uniform. In seiner rechten Hand hält er – die Rolle! Rot und wunderschön. Es ist einfach nur ergreifend. Schon hat er uns entdeckt und gibt Xenia ihre Rolle, sie drückt sie an sich. So viel Kinderglück. Der Kapitän und ich, wir strahlen uns an. 

Ich sause zum Hafenmeister, Bürotür auf, großer Dank, Händeschütteln. Weiter geht’s fröhlich zum Loch Ness.