Montag, 3. Mai 2021

Das klappt doch nie? Trau Dich!


 

  

„Das klappt doch nie!“ Das wurde mir neulich vorgesetzt. „Kann schon sein, dass es nicht klappt“, dachte ich, „kann aber auch nicht sein.“ Und dann fiel mir dieses fulminante „Klappt doch nie!“-Erlebnis vor langer Zeit ein:

*
Ich mache mit der Familie Ferien in England, meine Frau Brigitte, Felix (9), Xenia (7) und ich. Eines Tages fahren wir mit der Fähre weiter zu den Äußeren Hebriden. Wir besuchen den Leuchtturm Butt of Lewis und fahren einige Tage später mit der Fähre wieder zurück nach Schottland, Hafen Ullapool. 

Wir verlassen den Hafen, es soll nun zum Loch Ness gehen. Nach einer halben Stunde: „Mein Stickzeug ist nicht da.“ Xenia hat Stickgarn mit und knüpft damit auf der ganzen Reise bunte Freundschaftsbänder Aber jetzt ist es nicht wie gewohnt neben ihr im Auto.

Während wir weiterfahren, überlegen wir, wo es sein könnte. Schließlich halte ich an und suche die vollgepackte Rückbank ab, aber es ist kein Stickzeug da. „Jetzt überlege mal, wann hast Du es zuletzt gesehen?“ „Auf der Fähre.“ 

Stimmt, ich erinnere mich, Xenia hat es dort benutzt, vor ihr auf dem Tisch. Dann kam es wie immer in eine leere rote Chipsrolle. Ich sehe alles deutlich vor mir. Kurz vor dem Aussteigen stand die rote Rolle neben Xenia auf der Bank, auf der wir gesessen hatten. 

„Hast Du vergessen, sie von der Bank mitzunehmen?“ Es kommt keine Antwort, der Kummer ist zu groß. 

Na ja, weg ist weg. Aber ich kann das nicht! Da muss mehr gehen! Ich habe beim Aussteigen den Reinigungsdienst gesehen, die Frauen packten alles Liegengebliebene von Tischen und Bänken in große blaue Müllsäcke. Sie mussten die Chipsrolle für das gehalten haben, was offensichtlich war: Müll, auf der Bank zurückgelassen. Eingepackt und weg. 

Eine verwegene Idee meldet sich in mir: Wenn ich die Müllsäcke untersuche? Ja, im Film, aber nicht in der Realität. „Wir könnten zurückfahren und ich untersuche die Müllsäcke“ sage ich trotzdem. „In einem müsste Dein Strickzeug sein.“ Aber so eine Trostbemerkung ist doch unfair. Unfair? 

„So ein Quatsch.“ Die Stimmung im Auto ist entsprechend deutlich. „Außerdem sind wir schon viel zu weit weg.“ In mir nimmt es Schwung. „Ich könnte es doch versuchen.“ Aber „Das klappt doch nie“ breitet sich weiter aus. 

Ich will Xenia nicht hängen lassen. Wenigsten einen Versuch machen! Ich sehe mich irgendwo am Hafen die Säcke aufschlitzen. 

Brigitte kennt mich: Wenn ich mir so etwas Absurdes einmal in den Kopf setze, dann... Sie gibt mir freie Hand, Loch Ness würde uns nicht weglaufen. Nessie grunzt freundlich. Felix und Xenia sagen gar nichts mehr, es ist alles zu unwahr. 

Ich drehe das Auto mit Schwung um und fahre zurück. Die Atmosphäre ist erst angespannt, dann heiter. So viel Nonsens für ein Stickzeug. Soviel Liebe für ein Kind. 

Am Hafen traue ich mich nicht, über den Zaun zu den blauen Säcken zu klettern. Wen fragen, ob das geht? „Das klappt doch nie“ lauert. Am Ticketschalter: „Wir waren grade auf der Fähre. Meine Tochter hat ihr Stickzeug vergessen, es müsste in einem der Müllsäcke in einer roten Chipsrolle sein. Ob ich vielleicht...?“ Der Ticketman sagt nur: „Hafenmeister.“ 

Puh, hohe, sehr hohe Hürde. Den Hafenmeister für so eine Bagatelle angehen? Der hat weiß Gott anderes zu tun. Es ist aber keine Bagatelle! Es ist eine Herzenssache! Auch diesen Versuch will ich machen, auch wenn ich mich schwer blamieren sollte. „Wartet am Auto.“ 

Büro des Hafenmeisters, Anklopfen, reingehen. „Meine Tochter...“ Der Hafenmeister legt seine beiden Telefonhörer aus der Hand und hört zu, sehr konzentriert. „Ich habe auch eine Tochter in dem Alter.“ Gespräch von Vater zu Vater. „Wir haben die Müllsäcke aber gar nicht hier ausgeladen, sie werden diesmal auf der anderen Seite, in Lewis entsorgt. Die Fähre ist schon zurückgefahren.“ 

Aus der Traum! Aber: „Ich rufe den Kapitän an, die Crew kümmert sich darum. Wie sah die Rolle genau aus?“ Mir kommen fast die Tränen. „Warten Sie vor dem Büro, es kann dauern.“ 

Alle vier warten wir auf der Bank vor dem Büro. Gespannt, angespannt. Ob das was wird? Wie unrealistisch ist dass denn eigentlich alles? Das Fünkchen Hoffnung wird stärker – die Enttäuschung wird um so größer sein... Schließlich öffnet sich die Tür, der Hafenmeister steckt den Kopf raus, sieht uns: „We get it!“ 

Wir sind sprachlos. „Die Fähre kommt morgen um elf Uhr zurück, seines Sie dann am Kai, der Kapitän bringt Ihrer Tochter das Stickzeug mit.“ Wir sind immer noch sprachlos. 

Dann suchen wir uns einen Campingplatz, haben eine schönen Abend am Meer und kriechen voll Vorfreude ins Zelt. Am nächsten Vormittag sind wir um elf am Kai. Die Fähre läuft ein, die Passagiere verlassen das Schiff. 

Dann kommt die Crew. Zum Schluss auf der großen Außentreppe der Kapitän in seiner blauen Uniform. In seiner rechten Hand hält er – die Rolle! Rot und wunderschön. Es ist einfach nur ergreifend. Schon hat er uns entdeckt und gibt Xenia ihre Rolle, sie drückt sie an sich. So viel Kinderglück. Der Kapitän und ich, wir strahlen uns an. 

Ich sause zum Hafenmeister, Bürotür auf, großer Dank, Händeschütteln. Weiter geht’s fröhlich zum Loch Ness.