Montag, 28. September 2020

Schoko und Vanille

 


 

Alltag mit Kindern, Wohnzimmer. „Was machst Du denn da? Wie sieht's denn hier aus? Das glaub ich nicht!“ Kerstin sieht entgeistert zu ihrer Dreijährigen und ist sprachlos. Bis auf das, was gerade ausbrach.

Melanie, mit sich und ihrem Spiel in Harmonie, kniet auf dem Teppich, steht auf. Langsam, sie nimmt die Magie ihrer Königsaura mit nach oben, sie steht und sieht ihre Mutter voll an. Die rechte Hand erhoben, Handfläche nach vorn. Und sanft, klar, majestätisch: „Nicht in diesem Ton.“ Stille. „Mama, nicht in diesem Ton.“

Melanie spricht von innen. „Du könntest doch auch mal sehen, was ich hier geschafft habe.“ Hand und Arm machen einen Bogen. „Das ist der Teppich. Und das ist der Pudding. Und das ist die Autobahn. Zwei Spuren. Langsamspur, Überholspur, Ausfahrt, Einfahrt. Und da ist die Tankstelle.“ Melanie steht königlich da. Kerstin ist gebannt.

Melanie bleibt online: „Okay, ich seh ja, dass Dich das nervt. Schon gut. Ich helf auch, dass es wegkommt. Ich hol den Eimer und den Lappen.“ Melanie macht ein etwas besorgtes Gesicht, Kerstin rührt sich noch immer nicht. „Mama, ich mach's auch nicht nochmal.“ Kleines Nachdenken. „Jedenfalls nicht mit Schoko. Vanille muss ich noch mal sehen.“

*
 

Parallelwelt, zeitgleich: „Nicht in diesem Ton.“ Stille. „Mama, nicht in diesem Ton“. Melanie erklärt ruhig, freundlich und geduldig: „Ich weiß ja, dass Du nicht anders kannst. Und ich habe das drei Jahre mitgemacht. Aber jetzt ist es mal gut. Ja, wir leben in einer Schimpfkultur. In der Menschen herabgesetzt werden. Kinder sowieso.

Aber Du könntest ja auch mal sehen, was ich hier geschafft habe. Und was auf meinem Kopf ist: eine Krone. Meine Krone. Würde. Ich bin ein Mensch, mit Würde. Und ich möchte diese Töne nicht mehr. Kannst Du das lassen, einfach weglassen, hinter Dir lassen, ins Museum bringen? Du bist doch selbst mit diesem Tönen groß geworden. War doch auch für Dich nicht schön. Okay, Du lässt sie weg? Das kannst Du.“

Kerstin schießen Tränen in die Augen. Sie fühlt es wieder, diese Herabsetzungswucht ihrer eigenen Kinderzeit. Aus erstarrter Tiefe bricht es auf. „Auch ich wurde so angefaucht.“ Schmerz überwältigt sie. Sie weint heftig. Sie nimmt Melanie in den Arm, kurz.

Sie muss ihren Tsunami loswerden. Stürzt zum Handy, ruft Irene, ihre beste Freundin an. „Weiß Du, was mir gerade passiert ist?“ Sie erzählt. Und Irene versteht. Auch sie weint. Und telefoniert ins Land. Es gibt eine Telefonlawine. Rund um die Welt. Am nächsten Morgen gibt es keine Schimpfe mehr.









 

Montag, 21. September 2020

Charlottes Wege im Paradies




Spaziergang mit Freunden, mit Stephan und Friederike. Ich gehe mit ihrer Tochter Charlotte (2) voraus. Charlotte fällt hin und hat sich die Haut aufgeschürft. Sie blutet ein wenig und sie weint.

Was kann ich jemandem Gutes tun, der leidet? Soll ich Charlotte auf den Arm nehmen? Soll ich es wegreden? „Ist doch nicht so schlimm“ oder „Zeig mal“ oder „Das hätte aber auch schlimmer ausgehen können“ oder „Tut es sehr weh?“ Begrüße ich den Schmerz des Kinds mit der gebotenen Höflichkeit? Lehne ich ihn ab? Sehe ich nur Komplikationen? Ist die Ruhe des Spaziergangs dahin? Wie geht es mir? Bin ich verärgert? Bin ich hilflos? „Auch das noch“ oder „Wieso denn?“ oder „Ausgerechnet jetzt“.

Reagiere ich gelassen? Sollte ich gelassen reagieren? Ist Gelassenheit nicht zu kalt und unpersönlich? Kann ich persönlich und gelassen sein? Wenn ich erschrecke, macht ihr das noch mehr Angst. Wenn ich Trostformeln sage wieHeile heile Gänschen“ – was tue ich damit? Ist so etwas ein guter Zauber für kleine Kinder? Was will ich erreichen? Soll Charlotte wieder lachen? Soll sie den Schmerz verlieren, vergessen? Was habe ich gegen Schmerz? Was ist eigentlich überhaupt gegen Schmerz zu sagen? Aber wie kann man nur so etwas fragen! Doch gehört Schmerz nicht zum Leben dazu?

Also: Charlotte fällt hin und es tut ihr weh. Ich bin dabei. Ich helfe ihr auf. Ich tupfe das Blut ab. Ich sehe sie an. Ich nehme sie auf den Arm. Worte? Wozu? Welche Worte?

Wie kann ich jemandem beistehen, der in Not ist? Andersherum: Wie will ich, dass mir beigestanden wird, wenn ich in Not bin? Ich falle hin, die Haut ist aufgeschürft, ich blute. Du bist dabei. Du hilfst mir auf und gibst mit ein Taschentuch, um das Blut abzutupfen. Was wünsche ich, dass Du sagst? Was solltest Du tun, damit es mich tröstet?

Was wollen wir für Hilfe, was wollen wir für Trost? Was will ich, was willst Du? Wer sind wir, wenn wir Trost brauchen? Sollte man das wissen? Will ich wissen, wer ich bin, wenn ich Trost und Hilfe brauche? Ich habe Not und Schmerz, und Du bist dabei. Und ich wünsche mir jetzt von Dir...  Es hängt davon ab, wer Du bist, wer Du in meinem Leben bist. Wie unsere Beziehung ist. Wem ich mich anvertrauen kann, zeigen kann, in mein Herz sehen lassen kann, in meine Not und in meinen Schmerz. Wen hätte ich gern dabei, wenn ich gleich hinfallen werde? Wen wünsche ich um mich herum? In guten wie in schlechten Zeiten?

Charlotte fällt hin, ich bin dabei. Hat sie mich ausgesucht? Man muss nehmen, was da ist, und jetzt bin ich da. Und es wird etwas geschehen, mit uns. Sie erlebt ihren Schmerz in meiner Gegenwart, ich erlebe ihren Schmerz in meiner Gegenwart. Meine Antwort kommt aus mir und meiner Beziehung zu ihr, aus unserer beider Realität.

Also: Charlotte fällt hin und ich bin dabei. Sie ist zwei Jahre alt, wir kennen uns ein wenig, ich habe mich über diesen jungen Menschen vor mir eine halbe Stunde lang gefreut, auf unserem Spaziergang. Ich habe ihre Souveränität und Lebendigkeit, ihre Selbstverständlichkeit und ihre Sanftheit wahrgenommen und aufgenommen. Ich habe ihr ohne Worte gesagt, dass mir ihre Gegenwart gut tut. Und ich habe von ihr ohne Worte gehört, dass es für sie okay ist, wenn ich auf dem Spaziergang mit dabei bin. Ich bin dabei, und ich bin einbezogen.

Und so antworte ich auf ihren Schmerz: „Willst du noch einen Keks?“ Und ich sage mit dem Herzen: „Das Leben geht weiter, auch mit blutender Haut. Wo waren wir eben? Wir haben Kekse auf dem Spaziergang gegessen. Ein Keks ist eine feine Sache. Er schmeckt. Schmerz schmeckt nicht. Aber kommt vor. Wenn man hinfällt. Es tut dann weh. Wer hat das gerne? Man kann ihm nicht ausweichen, aber natürlich geht er auch wieder.“ Und ich nehme sie auf den Arm, trage sie ein Stück, frage „Okay?“ Sie nickt. Ich setze sie ab und gebe sie dem bunten Leben zurück.

Und ich? Ich rede mit dem nächsten Stein, über den sie stolpern könnte und mit der nächsten Distel, die sie stechen könnte, um sie ein wenig abzulenken, diese Hindernisse auf Charlottes Wegen im Paradies.



Montag, 14. September 2020

Schauen - Geschenk des Lebens






Ich bin mit Yann (4) auf dem Spielplatz. Vor uns spielen vier Kinder (8-10) ein Ballspiel: Sie schlagen sich den Ball über eine fest installierte Tischtennisplatte zu und laufen dabei um die Platte herum. Viel Dynamik, viel Emotion, mit Gewinnen und Verlieren. Yann schaut und schaut. Eine halbe Stunde lang. Dann locke ich mit „Nach Hause?“ und unseren Spielplänen dort. Wir ziehen los.

Schauen und schauen und schauen... Wirklich, ein Geschenk des Lebens! Einfach nur schauen, vergessen der Rest. Klar, kenne ich. Aber es hat schon lang nicht mehr angeklopft. Es fliegt alles so dahin. Oder fließt, wenn es sich ruhiger anlässt. Aber Anhalten, Innehalten, Aus- und Abschalten und Schauen: das ist doch eher selten.

Ich habe es erst nicht wahrgenommen, dass Yann da so verlängerte und verlängerte. Ja klar, er sieht sich das mal an, was die großen Kinder da so machen. Aber es verwandelte sich und veränderte die Dimension. Aus dem Hinsehen wurde das Schauen.

So ein Schauen zieht mich aus der normalen Geschäftigkeit, aus der Normalität eben. Es ist eine Zauberei, eine Verzauberung des Alltäglichen. Ein Mitsein, Mitschwingen. Anhalten der Seele.

Ich habe gewartet, dass Yann das Signal zum Aufbruch gibt. Er saß ja schon im Buggy, startbereit wir beide. Aus meinem Warten wurde ein Hinsehen zum Spiel der Kinder. Erst sah ich sie nur um die Platte laufen und mit dem Ball hantieren, dann verstand ich die Spielregeln. Und verfolgte ihr Spiel und die Varianten, die ihnen einfielen. Ich bekam zu jedem der vier Kinder eine immer deutlichere Wahrnehmung, erlebte ihre Individualität, ihre Stimmen, ihr Aussehen, ihre Aktionen. Aus meinem Warten wurde ein Schauen: das Fenster öffnete sich, ich sah in das Leben.

Wir zottelten dann weiter. An der Straßenbaustelle arbeiteten und lärmten der große Bagger und der kleinen Kipper. Der Bagger rumorte, kratzte den Sand zusammen, packte ihn und übergab ihn dem Kipper. Der fuhr nach sechs Einladungen zum Sandhaufen einige Ellen weiter hinten und kippte ab. Rückwärts weg vom Bagger, umdrehen, vorwärts zum Sandhaufen und zurück. Wir haben zig mal dieses Ritual der beiden erlebt. Schauen eben.

Auf dem Weg nach Hause war ich im Schaumodus. Ich schaute in die Welt und sog alles rechts und links auf. Zum Schauen muss ich nicht stehen bleiben, Schauen geht auch dann, wenn ich mich bewege. Es ist die Bewusstheit, die große Aufmerksamkeit. Die Achtsamkeit.

Überall möglich. Das Schauen wartet. Einen Tag später setze ich mich auf eine Bank in den Feldern, die ich beim Joggen entdeckt habe. Ich sitze dort so für mich hin und schaue. In die Abendwolken. Geschenk des Lebens.

Montag, 7. September 2020

Dank und Willkommen






Im Rückblick auf zwei Monate Sommerzeit habe ich zig große und kleine Begebenheiten vor Augen. Es ist ein feines Gewebe voller Bilder. Dies alles fließt in der Rückschau dahin wie ein großer Strom. Ich kann überall anhalten und mich an dies und das ranzoomen, an alles, was da in meiner gelebten Zeit so kreuchte und fleuchte. Die Vergangenheit ist ein weites Land hinter einem großen Tor, dem Jetzt-Tor.

Gehört das alles mir? Gehört das alles zu mir? Macht mich meine Vergangenheit aus? In wie viel Resonanz bin ich mit meiner Vergangenheit? Wer bestimmt hier die Auswahl und das Maß der Erinnerung? Bin ich das selbst oder gibt es da etwas, das mir die Bilder und Szenen vorlegt? Wie viel Selbstbestimmung habe ich im Umgang mit der Vergangenheit?

Na ja, ich muss mir solche Fragen nicht stellen. Ich kann all das, was geschehen ist, auch einfach geschehen sein lassen, sich in mir ausbreiten oder wegbreiten lassen, mal hier etwas merken, mal dort etwas nicht merken. Einfach fließen lassen, so wie es kommt. "Passt schon" sagen zum Vergangenheitswirbel in mir.

Beim Schreiben eines Posts, also jetzt, suche ich mir aus der riesigen Vielfalt meiner Erlebnisse irgendetwas heraus, über das ich schreiben will. Ich konzentriere mich und habe dann dieses oder jenes im Blick, hole es heran, drehe und wende es, und lass meine Gedanken drumrumlaufen. Und das, was dann da so läuft, tippe ich in die Tastatur und es wird der neue Post.

Die Geschehnisse des heutigen Tages: viel, sehr viel. Wie immer, jeder Tag hat ja seine 24 Stunden, zwei Drittel davon bin ich wach und ströme wach so in der Zeit dahin. Wo will ich anhalten – was spricht mich in der Rückschau an? So an, dass ich es als Einstieg für meine Zeilen nehmen kann? So dass sich daraus ein Thema ergibt, irgendwie mit Amicationsgedanken verspinnbar?

Von den Tausend Heutebildern will ich aber keins für ein Nachsinnen nehmen. Ich sinne ja gern nach und ich sinne gut nach. Aber heute: da lasse ich die Zeitbilder nur kommen und bespinne sie nicht. Aber ich will bei einigen anhalten, sie zeigen, mitteilen, was mir meine Lebenszeit heute so geboten hat:

Die Zweijährige, die von ihrer Mutter an die Hand genommen wurde, als ich langsam mit dem Auto vorbeifuhr.
Der Waldboden voller Blaubeerbüsche, als ich nach Pilzen Ausschau hielt.
Der Briefkasten, zu dem ich mit dem Rad gefahren bin.
Das Knäckebrot, herrlich mit Käse bedeckt, zwischendurch verspeist.
Der kalte Wind am Badesee, der ein "lieber heute nicht" entschieden hat.
Die junge Reiterin im Wald und unser freundlicher kurzer Gruß und unser Lächeln.
Der Schwarzspecht, wie er vor mir herfliegt und am Kiefernstamm landet.
Das Kartoffelfeld, an dem ich auf meiner Radrunde vorbeifahre, erntefertig, Kraut und Blätter sind dahin, es geht um die goldenen Erdfrüchte.
Das neue Familien-Baugebiet in meinem Dorf, das auch an meiner Radrunde liegt: was macht das mit den Menschen, die bisher an dem freien Feld wohnen?
Der Tankdeckel von meinem Auto, als ich tanke: Kleines Teil, das ich immer wieder in der Hand habe.
Das Dynamo von meinem Fahrrad: ausprobiert, ob das Licht geht, ja es geht, vorn und hinten, und wieder abgeschaltet, weil es sich so schöner fährt.
Eine Mücke an der Wand, aber ich bin gut drauf und bringe sie mit Glas und Postkarte aus dem Fenster.

Endlos, diese Bilder des Tages. Sie lassen sich ja nicht vermeiden, wir leben in der Dimension der Zeit. Aber all diese Dinge da draußen vor mir sind ja auch in mir entstanden. Und in Resonanz zu all dem, was sich in mir im Laufe der vielen Jahre meines Lebens verdichtet hat. Dank und Willkommen Euch allen!