Montag, 31. Januar 2022

Amication und Postmoderne

 


Amication ist in der Postmoderne verwurzelt. Was bedeutet „verwurzelt“? Nun: aus Kommunikation und existentieller Begegnung entstehen Wahrheiten. Wahrheiten, die anders sind als sogenannte sachliche Wahrheiten. Widersprüchlichkeit, Mehrdeutigkeit, Subjektivität leuchten als Wahrheiten auf – Wahrheiten, die ohne den Wahrheitsanspruch der Moderne sind, nämlich objektiv, absolut, eindeutig, wirklich wahr zu sein. Ich stelle hierzu Textstellen von zwei postmodernen Autoren vor.

John Holt (1923-1985) ist als Kinderrechtler aus den USA bekannt. Zygmunt Bauman (1925-2017) ist ein britisch-polnischer Soziologe und renommierter Autor zu postmodernen Themen.

 

John Holt in »Zum Teufel mit der Kindheit«, 1978 (USA 1974) S.16: 

Wie viele andere Menschen auch pflegte ich zu glauben, dass der Mensch durch Argumente, durch Diskussionen – durch das, was manche einen »Dialog« nennen – zur Wahrheit gelangen würde. Dabei handelte es sich um eine Art Kampfgericht (trial by combat): jeder setzte sein Argument sozusagen auf ein Pferd und ließ es in vollem Galopp auf das Argument des anderen los. Wer den anderen vom Pferd stoßen konnte, der hatte gewonnen, und er andere musste zugeben: »Du hast gewonnen, also hast du recht.« 

Doch mit der Zeit und mit zunehmender Erfahrung wurde mir klar, dass Menschen nicht dadurch verändert oder besiegt werden, dass man sie dazu bringt, ihre Ideen als dumm, unlogisch oder zusammenhanglos zu erkennen. Heute habe ich eine Vision – von der Welt, wie sie ist und wie sie sein könnte – die ich jedem mitteile, der sie sich anschauen will. Ich vermag diese Vision nicht in sein Gehirn einzupflanzen; jeder macht sich sein eigenes Modell von der Wirklichkeit. Doch das Licht, das ich auf Erfahrung werfe, hilft vielleicht einigen von ihnen, die Dinge etwas anders zu betrachten und sich selber eine neue Vision aufzubauen. 

 

Zygmunt Bauman in »Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit«, 1995 (England 1991) S.127 f.:

Worauf sich die inhärent polyseme* und kontroverse Idee der Postmoderne am häufigsten bezieht (sei es auch nur stillschweigend), ist zuerst und vor allem ein Akzeptieren der unauslöschlichen Pluralität der Welt; eine Pluralität, die nicht eine Zwischenstation auf dem Weg zur noch nicht erreichten Vollkommenheit ist (Unvollkommenheiten gibt es viele und verschiedene; Vollkommenheit ist per definitionem immer nur eine), eine Station, die früher oder später zurückzubleiben hat – sondern eine konstitutive Qualität der Existenz.

Ebenso bedeutet Postmoderne eine entschlossene Emanzipation von dem charakteristisch modernen Drang, die Ambivalenz zu überwinden und monoseme* Klarheit der Selbigkeit zu fördern. Ja, die Postmoderne dreht die Zeichen der Werte, die für die Moderne zentral sind, um, wie Gleichförmigkeit und Universalismus.

Und sobald erst einmal wahrgenommen worden ist, dass die Vielfalt der Lebensformen unreduzierbar ist und es unwahrscheinlich ist, dass sie konvergieren, werden sie nicht nur widerstrebend akzeptiert, sondern in den Rang eines höchsten positiven Wertes erhoben, der weder in eine Lebensform aufzulösen ist, welche auf Universalität zielt, noch durch eine Form degradiert wird, die nach universaler Herrschaft strebt.

Wo die Absicht zu herrschen fehlt, beleidigt das Vorhandensein wechselseitig einander ausschließender Maßstäbe weder den Wunsch nach logischer Kongruenz noch löst es eine Heilungsaktion aus. Im Idealfall ist in der pluralen und pluralistischen Welt der Postmoderne jede Lebensform prinzipiell erlaubt oder, besser gesagt, es sind keinerlei allgemeine Prinzipien evident (oder unbestritten evident), die irgendeine Lebensform unzulässig machen würden.

Sobald die Differenz aufhört, Druck auszuüben, und nicht als ein Problem konstruiert wird, das nach Handeln und Lösung ruft, wird die friedliche Koexistenz von verschiedenen Lebensformen in einem anderen Sinne als dem eines zeitweiligen Gleichgewichts feindlicher Mächte möglich.

Das Prinzip der Koexistenz könnte (einfach nur: könnte) das Prinzip der Universalisierung ersetzen, während das Toleranzgebot an die Stelle der Konversion und der Subordination treten könnte (nur könnte). Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit war der Schlachtruf der Moderne. Freiheit, Verschiedenheit, Toleranz ist die Waffenstillstandsformel der Postmoderne. Und wenn Toleranz in Solidarität umgewandelt wird, kann sich Waffenstillstand sogar in Frieden verwandeln.

 

* polysem: mehrere Bedeutungen habend / monosem: nur eine Bedeutung habend

 


 

 

Montag, 24. Januar 2022

Selbstliebe wächst mit beiläufiger Freundlichkeit

 



"Ich liebe mich so wie ich bin" - das ist eine große Vorgabe. Gelernt hat jeder in der Kindheit anderes. Man soll erst ein vollwertiger Mensch werden, an sich arbeiten und sich verbessern. Die Idee der Selbstliebe stößt das alles um und eröffnet eine andere Sicht auf sich selbst. Selbstliebe zeigt den Weg zu innerer Harmonie und zum Frieden mit sich.

Doch aus der alten Sichtweise kommt ein verborgener Einwand, gekleidet in Selbstakzeptanz und zugleich voll lähmender Anforderung: Wenn man es denn für möglich, für gestattet, für moralisch, für erstrebenswert hält, sich selbst zu lieben, wie immer man gerade ist – wenn man es nicht für überspannt und lebensfremd hält, dann ist man auf einmal sich selbst gegenüber im Wort, sich nun lieben zu dürfen und zu sollen.

Man soll so viel zum eigenen Wohl! Ein gutes Leben führen, sich gesund ernähren, entspannt und fröhlich sein, die Seele baumeln lassen, wild und gefährlich leben, und jetzt auch noch sich selbst lieben!

Doch die Amication errichtet keine neue Norm, nach der man sich richten sollte. Es wird vielmehr eine Einladung ausgesprochen und eine Freude angeboten: Es gibt die Möglichkeit zur Selbstliebe. "Ich liebe mich so wie ich bin" ist eine Perspektive und enthält keinerlei Verpflichtung. Die Idee der Selbstliebe ist Aufatmen, Trost, Lächeln und Einladung. Amication ist ein "Kann man machen. jeder kann sich lieben, nichts spricht wirklich dagegen".

Die alte Weltsicht hat tausend Dinge, die dagegen sprechen. Doch hier wird das anders gesehen. Amication ist die Information und die Gewissheit: "Ein jeder kann sich lieben, so wie er ist" Man kann! Und Amication ist dann noch ein bisschen mehr, ohne jegliche Pflicht, ein "Mach doch - Komm mit - Du bist willkommen".

Selbstliebe wächst ohne Selbsterziehung, mit beiläufiger Freundlichkeit sich selbst gegenüber. Und auch die pädagogischen Anteile des Ich müssen nicht verändert werden, sondern sind als Teil der eigenen Biographie geachtet. Alles hat seinen Platz in einem jeden Menschen - Vergangenes und Widersprüche ebenso wie Aufbruch und neuer Weg.

Selbstliebe ist ein buntes Mosaik mit vielen Elementen. Selbstliebe beginnt mit dem Vertrauen zu sich, flutet in alle Facetten des Selbst und endet im Unendlichen.

 

Montag, 17. Januar 2022

"Ich will das eigentlich nicht..."

 



Ich krame in meinen Posts und bleibe bei einem hängen. Es ist ein Rückblick in alte Zeiten - aber doch zeitlos gültig.

*

Corbinian ist drei Jahre alt. Er jault ein bisschen, nicht viel, aber unangenehm, für meine Ohren. Irgend etwas passt ihm nicht. So verstehe ich dieses Meckern, diese Töne, diese Psycho­frequenzen. Aber es liegt nichts an. Jedenfalls nichts Aktuelles. Wir haben keinen Zoff. Ich bin (gerade) zufrieden. Er ist es auch. Bis eben. Aber dann hat da diese Jaulerei begonnen, nicht laut, leise, aber hörbar. »Mir passt was nicht.« Soweit, so klar. Ich verstehe: Etwas stört ihn. Und da ich mein Kind liebe (das ist die Basis des Geschäfts), will ich ihm helfen. Also: »Was ist los, Corbinian?« Ich bin nicht angestrengt bei dieser Frage, auch nicht betulich. Ich reagiere ziemlich beiläufig: »Was hast Du?«

Aber nichts kommt. Keine Antwort. Nur weiter diese kleine Jaulerei (die große Jaulerei wäre eine Katastrophe, aber das ist es jetzt nicht). »Was hast Du denn?« Nichts kommt außer Jaultönchen. Natürlich versteht er mich, er ist drei Jahre alt, und er ist klug. Er weiß, dass ich ihm helfen will, aus seinem Ungemach heraus. Und ich denke, dass er auch weiß, dass ich das kann. Er spricht mich ja an. Und ich bin guten Willens und will ihm gern helfen. Aber: ich bekomme nicht die Information, die ich brauche, um ihm zu helfen. »Soll ich dies oder das tun?« Ich mache Vorschläge, ziele auf das, was ich als sein Ungemach vermute, aber das trifft es nicht. Oder es trifft es zwar, aber er reagiert darauf nicht so, dass ich damit weiterkomme. Mit seiner Ruhe, die gerade dahin geht.

Klar weiß ich, dass man solche unergründlichen Klein-Jaulereien den Kindern auch lassen kann. Sie haben alles Recht auf diese Töne, ich muss da nichts richten. Ich kann das als eine »Ausleitung« sehen, einen Psycho-Eiter, der raus will und eben so rauskommt. Es geht ja auch wieder vorbei. Ich muss da jetzt keinen auf Verständnis, Therapie und Co machen. Ich könnte es ihm auch lassen und meine Dinge tun. Er wird schon klarer werden, wenn es ihm wichtig ist. Sonst bleibt er eben so unscharf, wie das gerade kommt. Und aus.

Aber ich bin doch anders drauf. Sein Ungemach kann ich jetzt, heute, gerade nicht einfach stehen lassen. Ich will antworten, mich kümmern, helfen. Es ist einfach: Ich bin der Vater, dort ist mein Kind. Und das hat ein Beschwer. Und da kümmere ich mich. Also zum dritten Mal: »Was willst Du? Sag mir, was Du brauchst.« Doch da kommt weiter nichts. 


Egal wie das konkret weitergeht (da gibt es so viele Wege, wie es Väter und Mütter gibt): Ich bekomme jetzt etwas anderes in den Blick, etwas Grundsätzliches, das mir Corbinian wachruft. Es fällt mir nicht sofort auf, sondern erst abends, wenn er im Bett ist, und ich über diese »belanglose« Alltagsszene ins Nachsinnen komme.

*
»Ich will etwas nicht. Ich will das eigentlich nicht. Nein. Das passt mir nicht. Das muss ich nicht haben. Es soll weggehen. Es stört mich. Es nervt. Geh, geh weg.« Energie gerichtet an irgend etwas, an etwas, das stört. Eine klare Botschaft: Geh jetzt, aus meinem Leben. Jedenfalls jetzt. Und das kann alles und nichts sein. Bei Corbinian könnte das ein Hund sein, der ihn schnuppern will (Hundenase und Kindergesicht sind auf gleicher Augenhöhe); der Bruder, der ein Buch nicht hergibt; ein Schuh, der nicht zugeht. 

»Ich muss das nicht haben. Eigentlich brauche ich das nicht.« Unzählige dieser Stördinge geschehen in meinem Leben. Sind geschehen. Unangenehmes, Millionen kleine Übel. Begleitet von Unbehagen. Begleitet nur von Unbehagen. Dieses Unbehagen fand keinen Weg nach draußen, in die kommunikative Welt, in Sprache, in das kleine oder große Nein. Das Unbehagen war sprachlos, aber zweifellos da, gespürt, wuchernd. Es war nicht berechtigt, mehr zu sein als ein Unbehagen.

Es wäre ungezogen, unpassend, überzogen, unanständig, blamierend, beschämend, bloßstellend, peinlich gewesen, dieses Unbehagen zu beachten, geschweige denn mitzuteilen. Das Unbehagliche war hinzunehmen. Man kriegt nichts geschenkt. Das Leben ist kein Zuckerschlecken. Was meinst Du denn, wer Du bist? Wenn eine Selbstverständlichkeit Unbehagen auslöst, ändert das nichts daran, dass das Unbehagliche eben selbstverständlich ist, hinzunehmen ist. Dass ich damit klarzukommen habe. Wie jeder, dem Unbehagliches passiert. Da macht man kein Drama draus, keinen Aufriss. Etwas stört, und mehr ist es ja nicht.

Was sind diese unzähligen Ungemache, die gelebten, aber nicht beachteten und nicht mitgeteilten? Die nicht thematisierten. Die Selbstverständlichkeiten. Über die so nachzudenken, wie ich es jetzt tue, nicht am Horizont auftaucht. Die real existierenden Unbehaglichkeiten – aber die kommunikativ tabuisierten. Von denen die Welt ringsum nicht mitbekommen kann, wie unbehaglich mir das da gerade ist. Oder von der die Welt ringsum schon merkt, dass mir da was nicht passt, aber niemand einen Weg sieht, wie sich das verringern oder vermeiden lässt. Ich bin mit meinem Unbehagen allein und die anderen lassen mich damit auch allein sein.

Retrospektive: Ich bin 6 Jahre, doppelt so alt wie Corbinian, ich erinnere mich: Will ich eigentlich in die Schule? Morgens weg von zu Hause? Aufstehen, wenn ich noch müde bin? Will ich mit den Nachbarn in ihrem Auto zur Schule gefahren werden? Will ich ein Regencape auf dem Fahrrad umhängen? Will ich zum Flötenunterricht? Will ich diese Hausaufgaben machen? Will ich schon nach Hause? Will ich in die Badewanne? Sagosuppe löffeln? Fisch essen? Lebertran nehmen? Ach, es sind Millionen Dinge. 

Doch da kommt von mir kein Jaulen, kein Signal: »Ich will das eigentlich nicht«. Es kommt überhaupt kein Bewusstsein in mir darüber auf. Keine Selbst-Bewusstsein. Kein »Das kann man mit mir doch nicht machen«. Kein Protest von der Art, die voller Gerechtigkeit ist. Es kommt nur das Hinnehmen des Selbstverständlichen, nichts sonst. Der Macht des »Man muss« kann ich nichts mehr entgegensetzen, jedes Aufbegehren wäre einfach nur ungehörig. 

Man geht zur Schule. Man macht Hausaufgaben. Man kommt pünktlich nach Hause. Man isst Fisch. Man, man, man: es gehört sich eben so. Und aus. Und aus. Und aus. Wenn ich da doch mal opponiert habe, mit schlechtem Gefühl, dann war ich »ungezogen«. Ich ging auf verbotenen Wegen, und wieder war es aus. 

»Ich will das eigentlich nicht in meinem Leben haben«. Heute: Diesen Irakkrieg. Diese Atomkraftwerke. Diesen Dieselruß. Diesen Zucker in den Lebensmitteln. Diese Rechnung Autoreparatur. Dieses Amtsschreiben. Diesen Kostenvoranschlag Zahnarzt. Diese, diesen, dieses. Denken kann ich das schon - nur es ist eben lebenslang ungehörig, kinderkramlich, nicht ernst zu nehmen.

Wenn mir was nicht passt, kann ich es sagen, ordentlich. Aber nur so ein Gefühl haben, dass da was nicht stimmt? Nicht in mein Leben passt? Und so ein Gefühl dann auch noch als berechtigt, legitim ansehen und es auch noch offensiv und stolz und selbstbewusst und avantgardistisch und energisch aufsteigen lassen, zulassen und als vorbildlich und lebensdienlich und friedensstiftend begrüßen und dann auch noch mitteilen??? Das ist doch affig, Kleinkindverhalten, Jaulen.

Eben. Und genau das zeigt mir Corbinian. In seiner Größe. Und Schlichtheit: »Mir passt da was nicht«. Es sagt es mit seinen Tönen. Er sagt einfach, was ich nie sagen konnte, mich nie zu sagen traute. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass ich alles Recht der Welt hätte, das so zu sehen: »Ich will das eigentlich nicht«.

Montag, 10. Januar 2022

Wunder am Nachmittag

 


Ich besuche meinen Sohn Felix, meine Schwiegertochter Katharina und die Enkelkinder Klara (10) und Kolja (8). Es gibt Tee, Kaffee und Kuchen, Kerze auf dem Tisch. Kolja spukt um uns herum, hat seine drei Kuchenstücke aufgegessen, kramt in seinen Spielsachen. Er kommt zurück zu uns Erwachsenen am Tisch. Katharina hat noch ein neues Stück Kuchen auf ihrem Teller. Kolja nimmt seinen Löffel, klettert auf ihren Schoß und will die Kuchenspitze futtern. Was passiert jetzt? Ich bin aufmerksam, konzentriert auf Kind, Mutter, Kuchenspitze.

Wir unterhalten uns ja, das Kind ist nicht dran und nicht gefragt. Es war dran und ist jetzt gut versorgt im Spielmodus nebenan. Wenn Kinder an Bord sind, ziehen sie die Konzentration auf sich, und das passt grade nicht. Aber: es ist anders. Schon die Kletterei auf Katharinas Schoß brachte keine Ablenkung von der Konzentration auf unser Gespräch. Beiläufig lässt Katharina ihn klettern. Und beiläufig sieht sie zur Kuchenspitze, die frisch gelöffelt in Kolja verschwindet. Kolja hat genug Kuchen gegessen, aber diese Spitze musste es noch sein. Zufrieden zieht er von dannen.

Ich bin beeindruckt von der Gelassenheit, mit der Katharina das geschehen lässt. Und von der Gelassenheit von Felix, der daneben sitzt. Sie lassen ihr Kind Kind sein und fertig. Und fertig? Lässt man zu, dass ein Kind die Gespräche der Erwachsenen stört?  "Lass uns jetzt mal in Ruhe" ist Programm. "Runter" auch. "Was soll das? Spinnst du? Verschwinde!" auch. Es gab genug Kuchen, und Kuchen sind nun mal keine ablöffelbaren Spielsachen. 

Ach ja? Diese sahnebehäufte Spitze sieht so lecker aus. Wie sie Kolja anstrahlt und wie er sie anstrahlt: Dann soll, dann muss das so sein wie grade passiert. Katharina und Felix wissen um diese Magie. Es ist einfach schön. Die Kerze leuchtet, und ich bin angerührt von soviel Wunder an diesem Nachmittag. 

Montag, 3. Januar 2022

Das Kind aus Ohio

 










Ich höre nachts auf der Autobahn Radio. Es gibt ein kleines Interview mit einem Zehnjährigen aus Ohio. Er spricht deutsch, die Kinderstimme klingt in mir nach. Dann die Nachrichten: Morgen früh, ab 8 Uhr, beginnt für viele Kinder nach den Weihnachtsferien wieder die Schule. Vorher habe ich eine Sportsendung gehört: Es ging um „Olympische Winterspiele in China – trotz Menschenrechtsverletzungen?“ Die drei Szenarien fügen sich zusammen: Kinderstimme – Schule – Menschenrechte. 

Was erfasst mich heute Nacht? Ich komme zu dem in der Tiefe, in Untergrund wirkenden, dem grundlegenden Unrecht, das mit der Schule und mit der Pflicht, mit dem Zwang zur Teilnahme bei den Kindern angerichtet wird. Schwer zu denken, schwer zu erfassen, schwer vorzustellen, schwer ein Gefühl dafür zu entwickeln. Ich suche zu Hause eine Passage aus meinem Buch „Schule mit menschlichem Antlitz“ hervor, ein mit Worten gemaltes Bild.* 

Vorspann im Buch: „Bei meinen Bildern geht es mir ja darum, die theoretischen Überlegungen zur Schulthematik mit emotionalem Leben zu füllen. Bei diesem Bild kann man sich mitnehmen lassen und mitgehen.“

*

„Vergangenheit, 1880-1999“, Öl auf Holz

New Mexico, im Sommer 1999. Sie machen Ferien in Amerika. Und da Sie sich schon immer für die indianische Kultur interessiert haben, besuchen Sie die Navajos in der Four-Corners-Region und halten sich nun schon drei Wochen bei ihnen auf, in der Reservation am Mount Taylor. Sie haben viel gesehen und unternommen und neue Freunde gewonnen.

Eines Tages fragt Sie Ihr indianischer Freund Tatanga, ob Sie sich nicht einmal das Museum anschauen wollen. „Ihr habt ein Museum? Klar, das interessiert mich!“ Sie sind gespannt und erwarten neue Einblicke in die Lebenswelt der Indianer.

Nach einer Weile Fahrt durch die faszinierende Landschaft kommen Sie zu einem schlichten Holzhaus. Es ist schon älter, wirkt aber gepflegt. Niemand ist da, der Sie und Ihren Freund begrüßt, aber die Tür ist offen, und Sie gehen hinein. Der Raum, den Sie zunächst betreten, sieht wie das Klassenzimmer einer Schule aus. Bänke, Stühle, eine Tafel, einige Bücher. Wahrscheinlich werden hier Vorträge zur Geschichte der Indianer gehalten. Nach einem kurzen Blick in die Runde wollen Sie den Raum verlassen, denn es gibt nichts besonderes zu sehen. 

Aber Tatanga macht keine Anstalten hinauszugehen. Er steht mit ernstem Gesicht in der Nähe der Tafel und sieht aus dem Fenster. „Lass uns hier weggehen, das ist doch nur der Raum für Vorträge. Wo sind die Exponate?“, sagen Sie. Doch Ihr Freund verzieht keine Mine und rührt sich nicht. „Was ist los?“, fragen Sie. „Wir sind im Museum“, sagt er. „Na klar“, antworten Sie, „aber hier ist doch nichts. Zeig mir die richtigen Räume.“ 

Tatanga dreht sich zu Ihnen um und sieht Sie voll an. „Du bist im Museum. Es ist hier, dieses Haus, auch dieser Raum. Unser Museum ist eine Schule.“ „Wieso - eine Schule?“ Sie sind enttäuscht. Was ist an einer Schule interessant? Ihr Gesicht spiegelt Unverständnis. Tatanga lächelt. „Ich weiß, dass Du jetzt enttäuscht bist. Aber dies hier ist wirklich unser Museum. Weißt Du, in diesem Haus wurden die Eltern meiner Großeltern, meine Großeltern und auch noch meine Eltern unterrichtet. Von weißen Missionaren und Lehrern. Sie sollten 'zivilisiert' werden. Mit Eurer Kultur. Mit Eurer Denkweise. Sie mussten Eure Buchstaben lernen. Eure Art, die Welt zu sehen. Ihre kulturelle Identität - ihre Persönlichkeit ...“ Er schweigt, und dann sagt er leise: „Zumindest haben sie es versucht.“

Sie stürzen in einen Strudel voller Gefühle. Ihr abstraktes Wissen vom kulturellen Imperialismus der Weißen wird hier konkret, an diesem Ort: Hier, in diesem Raum fand das alles statt. Die Präsenz dieser Ungeheuerlichkeit nimmt Ihnen den Atem. Empörung, Wut, Hilflosigkeit und tiefe Scham branden auf. Sie fühlen das Leid, das Entsetzen, die Ohnmacht dieser Menschen. Sie hören die Kommandos der Lehrer, das unbeugsame leise und laute Nein der Kinder, die verzweifelten Schreie der Mütter, denen die Kinder von den Soldaten aus den Zelten gerissen werden, und Sie spüren den unendlichen Zorn und die bodenlose Hilflosigkeit der Väter. Sie sehen den Kampf dort und das Niederringen der Seelen hier. 

Die Brutalität und Demoralisierung dieser „Zivilisierung“ springen Sie an. Wie in Trance starren Sie in den Raum, und als Sie endlich zu Tatanga sehen, ist er nicht da. Sie verlassen das Museum, dieses Mahnmal gegen die Unmenschlichkeit, setzen sich unter einen Baum und überlassen sich erschöpft Ihren Gefühlen. Und Sie verstehen. 

Als Sie Welten später aufblicken, sehen Sie die stolzen Indianerkinder von damals vor sich stehen. Sie schauen sich an. Und auf einmal verstehen Sie wirklich: „Das stolze lndianerkind – das bin ja ich!“ Tränen schießen Ihnen in die Augen. „Auch ich wurde in ein solches Haus geschafft. Auch vor mir stand ein Lehrer. Auch ich wurde gebeugt und gebeugt und gebeugt. Subjekt, Prädikat, Objekt. (a + b) x (a + b). Schule. Jeden Tag.“ Und Sie halten sich selbst fest. Ganz fest.



* Schule mit menschlichem Antlitz, 2001, S. 78 ff.