Samstag, 30. September 2017

Amication leben, Vera

































Vor etwa zwei Jahren hörte ich von der Amication. Hier traf ich auf
Menschen, von denen ich mich angenommen und verstanden
fühlte, die mich nicht beredeten mit Aussagen wie: »Du hast doch
alles, gesunde Kinder und materielle Absicherung, was willst Du
denn?« Ich musste nichts erklären und bekam auch nichts erklärt.
Mit der Zeit traute ich mich immer mehr an mich selbst heran, an
meine Gedanken und meine Gefühle. Oft zu meinem eigenen
Erschrecken stellte ich fest, dass ich etwas ganz anderes sagte oder
tat, als ich wirklich meinte. So nach und nach merkte ich, wie ich
mich vor mir und den anderen versteckt habe. Vieles habe ich so
getan, wie es meiner Meinung nach von mir erwartet wurde.

Wenn ich so zurückdenke, habe ich mir nie richtig Ruhe gegönnt.
Mich einfach hinsetzen, abschalten. Die Zeit verstreichen lassen,
ohne etwas vorzuweisen, das gab es nicht. Da kamen so Sprüche
in mir hoch wie »Müßiggang ist aller Laster Anfang« und »Lass
Dich nicht hängen«. Es zählt nur, wer arbeitet, wer etwas für an-
dere sichtbar leistet.

Viele Jahre habe ich gemacht, geschafft über meine Kräfte hinaus
und habe nicht gemerkt, wie ich gegen mich selbst gearbeitet habe.
Alle äußeren Gelegenheiten habe ich dafür verantwortlich gemacht,
dass ich mich selbst jage. Mein Körper hat mit Krankheit reagiert,
aber dafür gab es ja Medizin. So langsam spüre ich meinen Körper
wieder, merke, was in mir vorgeht, und reagiere darauf. Mit der Zeit
kann ich mich immer besser einschätzen, ich leme mich kennen.
Heute muß ich nicht mehr weiterlaufen, um zu gewinnen, wenn ich
nicht mehr laufen kann. Ich bleibe stehen, und es ist gut so. Stück-
chen für Stückchen kann ich mich so nehmen, wie ich bin.

So wie ich mich auf mich selbst einlassen kann, so kann ich mich
auch inzwischen auf meine beiden Kinder einlassen. lmmer wieder
habe ich ihnen meine Maßstäbe und Erwartungen aufgedrückt und
habe Wege gesucht, das einzelne Kind dahin zu bringen, wohin ich
es haben wollte. Es ist nicht bewusst geschehen - ich habe es nur gut
gemeint.

Ein Beispiel zeigt, wie sehr ich mich dann an dem, was die Kinder
taten, orientierte. Meine damals fast fünfjährige Tochter fing an,
irgendwelche kleinen Gegenstände wegzunehmen. Zunächst ver-
suchte ich sie mit Zureden, dann mit Strafen, ja sogar mit Erpressung
davon abzubringen. Erst viel später, als alle meine Überredungskün-
ste fehlschlugen, fing ich an, die Sache zu hinterfragen. Warum
hatte es meine Tochter nötig, kleine Dinge zu entwenden? Der
Gedanke »Ich muss das verhindern, was soll sonst daraus werden?«,
also meine eigene Angst, verschwand ganz. Bald war mir klar, dass
das ein Kampfmittel war. Hier konnte sie mich treffen. Aber warum
musste sie mich bekämpfen? Selbst Druck und Strafe konnten sie
nicht daran hindem, überall etwas mitzunehmen. Es geschah nur
immer heimlicher, und sie fing an, zusätzlich noch zu leugnen.
Nun war ich genau da hineingerutscht, wo ich nicht hinein wollte.

Verbote, Strafe, Druck, alles das wollte ich nicht. Bei mir spürte ich
Hilflosigkeit und Traurigkeit. Davon konnte ich meiner Tochter
erzählen. Immer stärker spürte ich, was das, was sie tat, bei mir
auslöste. Nun war ich unfähig, sie dafür zu bestrafen oder auch nur
Strafe anzudrohen. Ich habe von mir erzählt und geweint, ohne sie
dafür verantwortlich zu machen. Es waren meine Gefühle.
Bei mir verlor die Sache dann mehr und mehr an Bedeutung,
irgendwann fiel mir auf, dass meine Tochter nichts mehr mitnahm,
Es hat sich alles wie von selbst erledigt.

Freitag, 29. September 2017

Der fährt ohne Helm!























"Mein Sohn will beim Fahrradahren keinen Helm aufsetzen.
Nach endlosem Gezerre fährt er jetzt ohne. Was soll ich machen?"

Eine Frage auf dem Vortrag heute. Mir geht sofort durch den
Kopf: Klare Kante zeigen, ohne Helm kein Rad, und Punkt. Wo
ist da das Problem?

Strafen, Belohnungen: Es hat alles nichts genutzt. Sie lässt ihn
jetzt ohne Helm fahren. Mit unguten Gefühlen. "Da ist er für
sich selbst verantwortlich."

Na ja, das ist er wirklich, wie jeder Mensch. Aber sie ist in
Not, hat Angst, dass etwas passieren könnte, was mit Helm
eben nicht passieren würde.

Sie will ihm das Radfahren nicht verbieten. Alle seine Kumpels
fahren ohne Helm. Helm ist bei diesen Zehnjährigen uncool.
Sie ist nicht glücklich mit ihrem Kind.

Wie gehen wir mit der Sorge um den anderen um? So etwas
nagt und soll verschwinden. Aber was kann helfen?

Ich habe ihr gesagt, dass sie sich keine Vorwürfe machen muss,
wenn etwas passiert. "Sie haben sich bemüht. Mehr geht grad
nicht. Wir können nicht alles erreichen, was wir wollen. Auch
nicht im Umgang mit den Kindern." Neu für sie ist, sich selbst
dabei ohne Vorwurf, schlechtes Gewissen, Schuldgefühl zu sehen,
sehen zu können, sehen zu dürfen.

"Aber ich könnte ihm das Radfahren verbieten. Dann passiert
doch auch nichts."

Klar, könnte sie. Theoretisch. Diese Mutter aber nicht, sonst
würde sie es ja getan haben. Sie wünscht sich etwas, was es
nicht gibt: Ihren Sohn mit Fahrradhelm.

Wir haben immer wieder unrealistische Wünsche an den anderen,
die uns drängen und aus unserer Not kommen. Und wenn sie
nicht erfüllt werden, geht es uns nicht gut. Was kann man tun?
Den Partner kann man verlassen, die Kinder nicht. Es ist wie
ein Schmerz, der sich nicht vermeiden lässt. Wenn das Messer
ausrutscht und mir in den Finger fährt. Es tut höllisch weh,
aber. Aber ich mache mir keinen Vorwurf. Ich verlasse mich
nicht, lasse mich nicht im Stich. Ich bin nicht schuld. Ich
habe mich bemüht, aber es hat nicht geklappt. Das Messer
ist nicht meinen Weg gegangen.

Sie hat dieses Kind, und es tut ihr weh, wenn er ohne Helm
radfährt. Der Messerschmerz klingt dann ab. Der Helmschmerz
klingt dann ab? Ja, wenn sie ihn nicht immer wieder aufs neue
erlebt, bei jeder Radrunde. Wenn sie es schafft, ihr helmloses
Kind als ihre Realität wahrzunehmen. Wenn.

"Er ist so jemand, helmlos glücklich" sage ich. "Sie haben
dieses Kind und kein anderes." Ich erzähle ihr ihre Wirklich-
keit. Sie verkämpft sich, bleibt im Unfrieden, will etwas,
was es nicht gibt. Das sage ich ihr. Sagt ihr das etwas? Bin
ich übergriffig, belehrend, unachtsam? Ich merke, dass sie
anfängt, entspannter über diese Helmerei nachzusinnen. Sie
macht andere Bemerkungen als eben. Sie sieht das Szenario
von einer anderen Perspektive. "Danke", sagt sie.


Donnerstag, 28. September 2017

Unendliches Glück
























Ich sitze oft fest, wenn ich darangehe, meine Wünsche zu verwirklichen. Ich
gebe dann auf, mir das Glück zu verschaffen, das ich aber doch herbeiwünsche.
Irgendwo im Gestrüpp der ablehnenden Energien, der Kritik, Betroffenheit und
der unangenehmen Verstrickungen bleibe ich hängen. Und ich verzichte lieber,
als mir noch mehr Ärger und Unangenehmes aufzuladen.

Als Kinder wurden wir auf einer ganz bestimmten Stufe von Glückserfahrung
festgehalten. Es gab für uns so viel Glück, gute Gefühle, Wohlbefinden, Freude
 wie die konkreten Erwachsenen unserer Kindheit zulassen konnten. Dies hat
seine Gründe in den Persönlichkeitsstrukturen dieser Erwachsenen, ihrer Lebens-
erfahrung, ihren Ängsten, ihrem Glücksstandard. Ihr Unvermögen, unser Glück
einfach geschehen zu lassen, ohne sich verstrickt, verantwortlich und geängstigt
zu fühlen, bedeutete für uns das Abstecken eines schließlich unumstößlichen
Rahmens. Und nur innerhalb dieses Rahmens wurde für uns Glück erlebbar.

Ich meine sogar, dass nicht nur der Rahmen ihrer persönlichkeitsbedingten Glücks-
schranke unsere Realität wurde, sondern dass unsere Vorstellung davon, wie glück-
lich wir eigentlich überhaupt sein können, dort fest hängt. Ich vermute, dass ich –
und wir alle – tausendmal glücklicher sein könnten, als wir uns das je ausmalen
können: so glücklich, so in Übereinstimmung mit uns selbst, wie wir es in den
neun Monaten vor unserer Geburt waren.

Wie fühlt sich das an? Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht mehr. Aber tief in mir
bin ich sicher, dass es noch in mir lebt, dieses Gefühl unendlichen Glücks. Und
selbstverständlich kommt es uns allen zu, ein Leben auf dieser Basis zu führen,
eine Kultur auf dieser Basis zu schaffen, das Paradies hier und jetzt zu erleben.

Dienstag, 26. September 2017

Schule: Achtsamkeit und Manipulation























Vorwort zum Erscheinen der Serbischen Ausgabe meines Buches "Schule mit
menschlichem Antlitz"


Seit dem Erscheinen von „Schule mit menschlichem Antlitz“ im Jahr 2001 sind viele Jahre vergangen. Hat sich seitdem etwas verändert?

Die Lehrer sind engagiert und sie geben sich viel Mühe. Sie wollen die Kindern „mitnehmen“, wie das so heißt. Also statt zu dirigieren suchen sie den Konsens mit den Kindern. Viele Kinder sind heute für diese konsensorientierte Ansprache offen und machen das, was die Lehrer von ihnen wollen. Aber es gibt in jeder Klasse auch eine Minderheit - mal kleiner, mal größer -, die von den Lehrern nicht erreicht wird. Diese Kinder verweigern sich introvertiert oder reagieren aggressiv. Diese „schwierigen“ Kinder sind für die Lehrer, die heutzutage ja im Konsens unterrichten wollen, sehr anstrengend, und da gibt es auch keine gute Lösung und Burnout ist häufig die Folge ( etwa 30 Prozent der Lehrer).

Viele Eltern sind heute mit dem öffentlichen Schulsystem unzufrieden, sie wollen mehr Achtsamkeit und individuelle Förderung ihrer Kinder. Es gibt einen Boom an Privatschulen. Diese
haben unterschiedliche Konzepte. Allen ist gemeinsam, dass sie die Kinder auf den rechten Weg bringen wollen – sanft, aber sehr zielorientiert.

Gibt es also mehr Luft zum Atmen für die Kinder? Ja, die gibt es. Aber diese Luft ist ein krankes Gemisch aus Achtsamkeit (gut!) und subtiler Manipulation (schlecht!). Über ihr Lernen selbst bestimmen können die Kinder auch heute nicht, ihr Menschenrecht auf Gedankenfreiheit können sie auch heute nicht wahrnehmen. (Es gibt seltene Ausnahmen, z.B. „Demokratische Schulen“, ca. 20 in Deutschland.)

Es hat sich also nichts am Fundament der Schule geändert. Das pädagogische Lehrersein steht nach wie vor im Gegensatz zum persönlichen Menschsein. Ich habe über die Jahre viele Lehrer und Studenten kennengelernt, die an diesem Gegensatz leiden und unermüdlich versucht haben, ihn zu überwinden. Aber die Schulrealität fordert von den Lehrern, als Bildungsfunktionär die Kinder zu bilden und zu formen. Der pädagogische Missionsauftrag ist ungebrochen – und er überfordert weiterhin Lehrer und Schüler.

Mein Buch hat vielen Lehrern und Eltern Mut gemacht, zu ihrer Humanität zu stehen und sich kraftvoll und zufrieden vom System der Zwangsschule psychisch zu emanzipieren. Viele Lehrer haben die Schule auch konkret verlassen – mit dem Bewußtsein, ihre humane Potenz so zu bewahren. Viele Eltern haben sich davon befreit, als Handlanger der Schule in Unfrieden mit ihren Kindern zu geraten. Und so unterstützt mein Buch damals wie heute die Erwachsenen, die das subtile fundamentale Unrecht der Schule wahrnehmen und sich ihm entgegenstellen, ein jeder auf seine Weise. Ich wünsche mir, dass es auch den Lehrern und Eltern in Serbien Mut macht, sich vom Griff der Schule auf ihre Seele zu befreien und den Frieden zu ihren Kindern zu bewahren. Dies ist der erste Schritt auf dem Weg zu einer Schule mit menschlichem Antlitz.

Hubertus von Schoenebeck
2017

Sonntag, 24. September 2017

Wahlrecht für Kinder VI: Weitere Argumente























Fortsetzung vom 23.9. (Schluss)


Ungute Gefühle, die durch die Forderung nach dem Wahlrecht für Kinder ausgelöst werden, lassen sich kaum argumentativ ausräumen. Es ist sinnvoller, sie als emotionale Realität anzuerkennen. Es kommt auch nicht darauf an, Einwände und Bedenken kleinzureden und wegzudiskutieren, sondern sie aus der eigenen Position heraus zu beantworten. Welche Überlegungen stützen das Wahlrecht für Kinder? Weitere Beispiele:

6.  Die Wahlreden werden verständlich. Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland 15 Millionen Menschen unter 18 Jahren. Selbst wenn nur 20% zur Wahl gehen sollten, sind das noch 3 Millionen Stimmen. Daran kommt kein Politiker vorbei. Er muss so reden, dass er auch von diesen Wählern gut verstanden wird. Es gibt kein Problem aus Politik und Gesellschaft, das man nicht auch Kindern verständlich machen kann. Die Ausrede von der Kompliziertheit der Sachverhalte überzeugt nicht länger, die Konkurrenz hat nämlich den Politiker, der die Dinge auch den Kindern erklären kann. Das gilt nicht nur für Wahlreden, sondern allgemein für die Kommunikation zwischen Gewählten und Wählern, und das tut der gesamten politischen Kultur gut.

7.  Die Wahlprogramme werden zugunsten der Kinder umgeschrieben. Alles, was dem Interesse der Kinder dient und einen Stimmengewinn durch die Kinder verspricht, wird nun ernsthaft thematisiert und diskutiert und in die Programme der Parteien aufgenommen. Zum Beispiel Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Ortschaften, giftfreies Spielzeug, körpergerechte Schulmöbel, arbeitsfreie Wochenenden der Eltern, Umgestaltung des Schulwesens, funktionierender Lärmschutz, kinderfreundlicher Haus- und Wohnungsbau bis hin zu Treppengeländern für Kinder, kindgerechte Gestaltung öffentlicher Räume, phantasievolle Spielplätze, flächendeckende Jugendzentren, adäquate Einstiegsmöglich­keiten in Bus und Bahn auch für Kinder. Viele Dinge, für die engagierte Eltern im Interesse ihrer Kinder bislang erfolglos auf die Straße gehen, werden plötzlich realisiert, als hätte es nie etwas anderes gegeben. Durch das politische Gewicht der Kinder wird sich etliches ändern – sicher nicht zu unser aller Nachteil.

8.  Es gibt mehr Respekt und Toleranz Kindern gegenüber. Wahrscheinlich unterscheiden sich Kinder in ihrem Wahlverhalten kaum von dem der Erwachsenen. So wie die Frauen insgesamt kaum anders wählen als die Männer. Vielleicht sind Kinder aber auch bestimmten Trends und bestimmten Personen eher zugewandt als Erwachsene und wählen Parteien und Politiker, von denen kaum jemand sonderlich begeistert ist. Doch wie auch immer: Am grundlegenden Recht auf politische Selbstbestimmung des jungen Menschen hat niemand herumzudeuten, es kommt ihnen zu wie jedem anderen Menschen. Auch wenn Kinder das wählen, was einem gerade nicht passt: Es gilt und es muss als Realität zur Kenntnis genommen werden. Erwachsene  lernen durch das Wahlrecht für Kinder, auch die von ihren Auffassungen abweichende Meinung der Kinder zu respektieren und zu tolerieren.

9.  Erwachsene werden zu einer gänzlich neuartigen Einstellung und Beziehung zu Kindern gelangen. Die Politiker werden bemerken, dass die Pädagogik die Kinder unrealistisch sieht. Sie werden erkennen, dass Kinder bereits vollwertige Menschen sind und nicht erst dazu gemacht werden müssen. Die gesamte Forschung wird neu konzipiert, denn wer die Realität des Kindes tatsächlich erfasst, hat das erfolgreichere Wahlprogramm und gewinnt die Wahl. Nicht mehr pädagogische Lehren werden die Beziehungen zu Kindern bestimmen, sondern die Kinder selbst werden die Erwachsenen lehren, wie sie die Kinder richtig ansprechen können und wie Kinder ihre Beziehungen mit den Erwachsenen gestalten wollen. Wer dem nicht folgt, verliert seinen gesellschaftlichen Einfluss – denn die Konkurrenz, die sich auf diese Realität einstellt, gewinnt die Wahl.

    Die neuen Machtverhältnisse sehen die Kinder als Machtpartner, gleichberechtigt neben den anderen Gruppen der Gesellschaft. Die politische Emanzipation bewirkt unaufhaltsam die Gleichwertigkeit auch in den menschlichen Beziehungen. Es wird sich herausstellen, dass nicht Erziehung, sondern Beziehung angemessen ist, wie stets, wenn Menschen auf einer gleichen Stufen miteinander leben. Die Erwachsenen erleben in Kindern Menschen, die sie nicht missionieren müssen, sondern die ihnen tatsächlich gleich sind und auf die sie sich stützen können, gesellschaftlich wie privat.

10.  Die Gesellschaft braucht die Kinder als politische Macht. Kinder werden immer als Hoffnung, als Zukunft gesehen. In der Literatur. Im Kindergarten. In der Schule. In Festvorträgen. Jetzt wird diese Hoffnung gesellschaftliche Realität. Die Alltagspolitik – das Ringen darum, wie alle zusammen leben – wird erweitert und korrigiert. Es ist eine große Chance der Menschheit, die Kinder an der Gestaltung der Welt wirksam zu beteiligen. Und es ist vielleicht die letzte Chance. Angesichts der atomaren Gefahr und der drohenden Vernichtung der Lebensgrundlagen wird alles in die Waagschale des Lebens geworfen. Die Kinder werden Wege weisen, die zu gehen niemand bislang gewagt hat. Sie wählen die Partei, die kompromisslos den Hunger in der Welt beseitigt. Das als einziges Beispiel. Sie sehen die Welt aus der unverbrauchten Perspektive derer, die noch Jahrzehnte leben wollen – gesund und in Frieden. Und dies wird reale Politik.



Samstag, 23. September 2017

Wahlrecht für Kinder V: Die Argumente
























Fortsetzung vom 22.9.


Ungute Gefühle, die durch die Forderung nach dem Wahlrecht für Kinder ausgelöst werden, lassen sich kaum argumentativ ausräumen. Es ist sinnvoller, sie als emotionale Realität anzuerkennen. Es kommt auch nicht darauf an, Einwände und Bedenken kleinzureden und wegzudiskutieren, sondern sie aus der eigenen Position heraus zu beantworten. Welche Überlegungen stützen das Wahlrecht für Kinder? 10 Beispiele:

1.  Kinder werden auf neue Weise von den Erwachsenen ernst genommen. Politische Entscheidungen werden immer auch mit Blick auf die Wähler getroffen. Wie reagieren die Wähler, die unter 18 Jahre alt sind? Diese Frage ist gänzlich neu, und erst sie führt dazu, Kinder tatsächlich ernst zu nehmen und bei den politischen Entscheidungen überhaupt zu berücksichtigen. Nicht aus Großzügigkeit, sondern aus Notwendigkeit. Die Kinder haben jetzt Macht – gesellschaftliche, politische Macht. Allein ihre Stimmzettel verleihen ihnen dieses Gewicht. Es ist durch nichts zu ersetzen. Großzügigkeit und Freundlichkeit können jederzeit widerrufen werden. Gegen die Macht, die aus den Stimmzetteln kommt, gibt es jedoch kein Mittel.

2.  Es gibt einen psychologischen Durchbruch für die Kinder. Wenn Kinder politisch gleichwertig sind und einige Male an Wahlen teilgenommen haben, wird man ihnen mit einer anderen Achtung begegnen. Im Einkaufszentrum, im Bus, im Schwimmbad erlebt man dann nicht unmündige Kinder, sondern Wahlbürger. Wahlbürger Kind. Von der psychologischen Aufwertung für die Kinder selbst ganz abgesehen. »Ich bin nicht unwichtig – ich bin wichtig. Ich entscheide mit. Meine Stimme zählt.«

3.  Kinder verstehen viel von Politik. Zunächst: Es ist nicht notwendig, etwas von Politik zu
verstehen, wenn es um das Selbstbestimmungsrecht und das Wahlrecht geht. Die Bürger entrissen dem König die Macht nicht deswegen, weil sie nachweisen konnten, dass sie mehr von Politik verstehen als er, sondern weil sie über ihr politisches Schicksal selbst bestimmen wollten. Die Legitimation kommt nicht aus dem besseren Verständnis von Politik oder aus irgendeiner Unterweisung in gesellschaftliche Zusammenhänge, sondern aus der demokratischen Idee: Dass die Macht nicht für einen oder für wenige reserviert ist, sondern dass alle Anteil an der Macht haben – alle ohne jegliche Einschränkung. Die Forderung, Kinder müssten etwas von Politik verstehen, ehe sie wählen können, und 18 Jahre oder vielleicht 16 Jahre wäre da die äußerste Grenze, ist eine zutiefst undemokratische Position. Diese Forderung trägt diktatorische Züge, das Verlangen nach Herrschaft und Unterordnung ist offensichtlich. Das »Davon verstehst du nichts« ist ein Abwehrargument, um die Macht nicht zu teilen.

    Kinder müssen also nichts von Politik verstehen, um Anteil an der politischen Macht zu haben. Dennoch aber verstehen sie viel von Politik: Humanität, Toleranz, Kreativität, Sensibilität, Fairness u. a. sind wichtige konstruktive Eigenschaften für die Politik. Von diesen gesellschaftlichen Basisfaktoren verstehen Kinder eine Menge, und es ist so, dass Erwachsene über dieses politische Wissen viel von ihnen lernen können. Und von den tagespolitischen Fragen versteht der eine mehr, der andere weniger – so, wie das bei den Erwachsenen auch ist.

4.  Versuche, Kinder zu verführen, laufen ins Leere. Denn die Konkurrenz schläft nicht. Sie deckt solche Versuche auf, und dann revanchieren sich die Kinder mit Wahl der Konkurrenz. Welche Chance hat denn ein politischer Verführer in einer Zeit, die demokratisch geprägt ist und in der destruktive und faschistische Tendenzen enttarnt werden? Die Inhumanität und der Totalitarismus politischer Verführer sind leicht zu durchschauen angesichts realer Machtbeteiligung durch demokratische Wahlen. Demokratie – erlebte, erfahrene Demokratie – ist die beste Waffe gegen jede Diktatur und jeden Verführungsversuch.

    Wenn Kinder aber in einer Diktatur leben – dann nämlich, wenn sie das Wahlrecht nicht haben – , kommt es nur auf den Verführer mit den größten Versprechungen an. Die Sorge vor der Verführbarkeit der Kinder spiegelt die Ängste der Erwachsenen, die in der eigenen Kindheit einer ausweglosen Diktatur ausgesetzt waren: Sie mussten den damaligen Erwachsenen folgen, ohne Recht. Sie lernten folgsam zu sein und allen Sprüchen zu glauben. Die Kinder des demokratischen Zeitalters jedoch kennen ihre Macht. Sie können sich ihre Sensibilität für Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit bewahren, denn sie bestimmen selbst über ihr Schicksal. Kinder, für die Demokratie Realität und ein gewachsener Wert ist, werden sich mit Abscheu von diktatorischen Zumutungen und politischen Verführungen abwenden.

5.  Kinder sind sensibler als Erwachsene für Fairness und Wahrheit. Die Versuche, die Wähler zu hintergehen, zahlen sich bei den Kinderstimmen nicht aus. Politische Tugenden sind in Bezug auf diese Wählergruppe viel effektiver, und Politiker werden insgesamt in eine positive Richtung diszipliniert, wenn Kinder über Wahlstimmen verfügen. Sie quittieren unerbittlicher als Erwachsene Unfairness, Lüge und Gemeinheit mit Abwahl.


Fortsetzung folgt.


Freitag, 22. September 2017

Wahlrecht für Kinder IV: Die Einwände























Fortsetzung vom 21.9.


Der Forderung nach dem Wahlrecht für Kinder und dem Gefühl für das Recht und die Freiheit der Kinder stehen traditionelle Einwände und die  alte Bevormundungshaltung entgegen. Wie äußern sich diese Vorbehalte? 10 Beispiele:

1.  Politik ist nichts für Kinder. Man zieht sie in schmutzige Dinge. Das schadet nur ihrer Entwicklung.
2.  Kinder sollen sich mit ihrem konkreten Umfeld beschäftigen, aber sie sollen sich nicht mit gesellschaftlichen Angelegenheiten befassen. Kinder gehören in den Sandkasten, nicht in die Politik.
3.  Kinder sind mit dem Wahlrecht völlig überfordert. Es ist für Erwachsene schon schwer genug, politische Zusammenhänge zu durchschauen – wie soll das erst Kindern gelingen?
4.  Kinder stellen mit Wahlstimmen nur Unsinn an. Sie sind leicht verführbar und wählen den, der ihnen die größten Versprechungen macht.
5.  Wenn Politiker die Stimmen der Kinder brauchen, werden sie alle denkbaren Tricks anwenden. Kinder werden zum Spielball politischer Interessen, können sich nicht wehren und werden politisch missbraucht.
6.  Kinder geraten unter zusätzlichen Druck. Erwachsene überfrachten sie mit ihren Vorstellungen und können sie einschüchtern und bedrohen, wenn sie nicht das wählen, was die Erwachsenen wollen.
7.  Die Stimmen der Kinder fallen nicht ins Gewicht. Es wird eine Verbesserung vorgespielt, die nicht wirklich gegeben ist.
8.  Einige Erwachsene pflegen ihren Spleen auf Kosten der Kinder und auf Kosten der demokratischen Idee.
9.  Die Situation der Kinder verbessert sich nicht dadurch, dass man ihnen politische Rechte einräumt, sondern nur, wenn man wirksamen Kinderschutz betreibt.
10.  Kinder müssen erst lernen, was Mitbestimmen und Politik bedeuten. Ohne ein Mindestmaß an politischer Bildung ist niemand in der Lage, sinnvoll mit seinem Wahlrecht umzugehen.

»Das ist doch alles lächerlich. Jetzt sollen schon Wickelkinder wählen!« Neben ernsthaften Einwänden gibt es auch Unverständnis und Diffamierung. Man kann dies als töricht abtun. Aber man kann auch gelassen reagieren und Kritikern ohne Aufregung entgegenhalten, dass sie dem Sinn der Forderung nach dem uneingeschränkten Wahlrecht für Kinder einmal nachspüren und sachliche Fragen stellen können.

Ungute Gefühle, die durch die Forderung nach dem Wahlrecht für Kinder ausgelöst werden, lassen sich kaum argumentativ ausräumen. Es ist sinnvoller, sie als emotionale Realität anzuerkennen. Es kommt auch nicht darauf an, Einwände und Bedenken Kleinzureden und wegzudiskutieren, sondern sie aus der eigenen Position heraus zu beantworten. Welche Überlegungen stützen das Wahlrecht für Kinder? 


Fortsetzung folgt.

Donnerstag, 21. September 2017

Wahlrecht für Kinder III: Die Entwicklung



 

 

 

 

 

 

 

 






Fortsetzung vom 19.9.


Über das eigene Schicksal selbst zu bestimmen – dies ist ein uraltes Menschenrecht. Es gilt für den einzelnen und es gilt für die Gesellschaft. Das politische Selbstbestimmungsrecht einer Gemeinschaft bis hin zum Selbstbestimmungsrecht der Völker wurde in der Geschichte immer wieder gefordert, realisiert, missachtet, zurückerobert. Die Menschheit hat von der Antike bis heute ein wechselvolles Hin und Her von Selbstbestimmung und Unterdrückung erlebt.

Demokratie im alten Griechenland. Republik im Römischen Reich. Am Ende des Mittelalters reichsfreie Städte und Republiken mit Bürgerrechten. 1265 das Parlament in England. 1619 die General Assembly von Virginia. 1787 die Verfassung der Vereinigten Staaten von Nordamerika. 1791 das Zensuswahlrecht für Bürger in der Französischen Revolution. 1848 erstmals das allgemeine Wahlrecht für Männer in der Pariser Revolution. 1887 erstmals das allgemeine Wahlrecht für Frauen im amerikanischen Staat Wyoming. Nach dem Ende des 1. Weltkrieges Demokratien in Europa mit dem allgemeinen Wahlrecht für Männer und Frauen. 1949 und 1990 erneut Demokratie in Deutschland. – Dies ist die positive Tradition.

Dagegen stehen unzählige Monarchien, Aristokratien, Oligarchien, Theokratien, Despotien, Tyranneien und Diktaturen. Auf deutschem Boden wurde die letzte gerade erst beendet, die schrecklichste vor einem halben Jahrhundert.

Das politische Selbstbestimmungsrecht war immer ein Mittel, um die eigenen Vorstellungen von der Gestaltung der Verhältnisse ins Spiel zu bringen. Dabei kämpften die jeweiligen Interessengruppen für sich. Die Adeligen stritten mit dem König um ihre Rechte. In der Französischen Revolution ging es um das politische Recht privilegierter Bürger. In England wurde 1832 der Kreis der Wahlberechtigten auch auf die nicht ganz so Reichen erweitert. Die Arbeiterschaft der Pariser Revolution von 1848 trat erstmals für das Wahlrecht für jeden Mann ein. Doch bei allen unterschiedlichen Interessen – die Idee der politischen Selbstbestimmung aller setzte sich mehr und mehr durch. Als am Ende des 1. Weltkriegs die alten Herrschaftsstrukturen in Europa zusammenbrechen, wird in den neuen Verfassungen der Staaten das Wahlrecht für jeden Bürger festgeschrieben. Und, gänzlich neu, nach und nach auch für jede Bürgerin. So gibt es das Wahlrecht für Frauen in Deutschland 1918, in Österreich und den Niederlanden 1919, in den USA 1920, in Großbritannien 1928, in der Türkei 1934, in Frankreich 1946, in Belgien 1948, in Griechenland 1952 und in der Schweiz 1971 bzw. im Kanton Appenzell Innerrhoden endlich 1990.

Frauen und Politik – bezogen auf alle Frauen, nicht auf einzelne Regentinnen: Das passte nicht zusammen. Erst die Frauenbewegung, die vor 200 Jahren begann, brachte mit Unterstützung der Arbeiterbewegung den Gedanken der politischen Selbstbestimmung von Frauen zur Geltung und machte die Beteiligung aller Frauen an der politischen Macht in den modernen Demokratien möglich.

»Neger« und Selbstbestimmung – auch das war unvorstellbar. Erst durch ein neues Denken konnten die Weißen die Voll- und Gleichwertigkeit der Menschen schwarzer Hautfarbe erkennen. Nach der hieraus folgenden Abschaffung der Sklaverei in den USA im Jahr 1875 erhielten auch sie politische Rechte. Doch diese Rechte wurden erst 1960 mit der Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King so gestützt, dass den schwarzen Bürgern der USA daraus auch politische Macht und Selbstbestimmung erwachsen konnte.

Die Idee der Selbstbestimmung erhielt nach dem 2. Weltkrieg einen weiteren Aufschwung, als das Ende des Kolonialismus begann. Das bedeutet längst nicht überall Demokratie, aber doch den berechtigten Kampf darum, und unsere Sympathien und unsere Solidarität gelten diesen Völkern der Welt.

Wer in der Bundesrepublik Deutschland groß wurde, kennt nichts anderes als das Selbstbestimmungsrecht des Volkes, realisiert in den Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahlen. Die vergangenen Zeitalter sind keine Realität für diese Menschen, vielmehr sind Demokratie, allgemeines Wahlrecht und politische Selbstbestimmung für sie Selbstverständlichkeiten. Dennoch gilt, dass diese Grundrechte eben keine Selbstverständlichkeit sind, wenn man in die Geschichte sieht.


Fortsetzung folgt.

Dienstag, 19. September 2017

Wahlrecht für Kinder II: Die Begründung


 

 

 

 

 

 










Fortsetzung vom 16.9.


Mit dem Wahlrecht wird kein neues Recht gefordert, das die Erwachsenen den Kindern geben. Dieses Recht ist von niemandem zu geben. Es ist unabhängig von anderen längst da, es kommt jedem von Geburt an zu. Aber andere können die Ausübung dieses Rechts behindern. Und genau das geschieht durch das Grundgesetz mit Artikel 38 Absatz 2: »Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat.«

Das Wahlrecht steht als politisches Persönlichkeitsrecht, als Menschenrecht jedem zu. Wann dieses Recht zur Anwendung kommt, wann man zur Wahl geht – darüber entscheidet ein jeder selbst, zu seiner Zeit. Der eine will mit 8 Jahren zur Wahl gehen, der andere mit 30 oder mit 80 Jahren. Sicher gehen nicht alle Achtjährigen zur Wahl und auch nicht alle Dreißigjährigen und nicht alle Achtzigjährigen, aber sie haben das Recht hierzu und könnten, wenn sie wollten, und niemand darf sie daran hindern. Darum geht es. Nur darum.

Auch der Einwand, man solle, wenn überhaupt, das Wahlalter nicht gänzlich aufheben, sondern an ein bestimmtes unteres Mindestalter binden, etwa an das Schuleintrittsalter, verkennt den Kern des Wahlrechts in der Demokratie. Denn die Überlegungen, die zu einem bestimmten Wahlalter führen, sind für alle, die ausgeschlossen bleiben, weiterhin voller Diskriminierung. Vor allem aber wird übersehen, dass es sich beim Wahlrecht um ein absolutes Recht handelt, das jedem von Geburt an zukommt, und dass hiervon zu unterscheiden ist, wann und wie von diesem Recht Gebrauch gemacht werden kann und wird.

Es wird immer die verschiedensten Gründe geben, sein Wahlrecht nicht auszuüben, auch wenn es einem zusteht. Das ist bei Kindern nicht anders als bei Erwachsenen. Es gibt bei Erwachsenen keinerlei Diskriminierung, ein jeder hat das Wahlrecht, wie immer er auch daherkommt und was immer auch dazu führt, dass er es nicht ausüben kann oder nicht  ausüben will. Keinem unkundigen, bewusstlosen, dementen, volltrunkenen oder sonst wie wahlunfähigen Erwachsenen wird das Wahlrecht je abgesprochen. Warum also Kindern?

Warum sollte das Gesetz für junge Menschen anders sein als für erwachsene Menschen? Es ist gerecht, praktikabel und schließt jede Diskriminierung aus, wenn es keine Altersgrenze gibt, wenn das »Wahlalter Null« existiert und es jedem überlassen bleibt, zu welchem Zeitpunkt er von seinem Wahlrecht Gebrauch machen wird.

Wenn Säuglinge und Kleinkinder nicht zur Wahl gehen, ist das kein Grund zur Diffamierung der Forderung, die Wahlalterdiskriminierung abzuschaffen. Die Selbstverständlichkeit, dass Säuglinge und Kleinkinder sich wahrlich nicht mit politischen Dingen beschäftigen, muss nicht in den Perfektionismus münden, die »wirkliche« Altersgrenze für das Wahlrecht zu definieren. Niemandem schadet es, wenn die untere Altersgrenze nicht gezogen wird. Und ist es so schwer zu erkennen, dass es nicht darum geht, mit dem Wahlrecht für Kinder die Wirklichkeit abenteuerlich zu verbiegen, sondern nur darum, jedem ohne Einschränkung die politische Selbstbestimmung offen zu halten, wann immer er von diesem Menschenrecht Gebrauch machen will?


Fortsetzung folgt.

Samstag, 16. September 2017

Wahlrecht für Kinder I: Die Forderung




















Das Wahlrecht ist ein fundamentales Recht. Es ist nicht erforderlich, Kindern zunächst andere Rechte einzuräumen, bevor man ihnen das Wahlrecht zubilligt. Das Wahlrecht für Kinder ist aus dem Stand heraus realisierbar. Wurde in einer Revolution je gefragt, welche Rechte man erst haben muss, bevor man den König stürzt? Die umgekehrte Reihenfolge ist richtig: Wenn das Wahlrecht da ist, d.h. wenn die politische Macht gegeben ist, werden weitere Diskriminierungen fallen.


»Wenn Du jemandem gestattest,
Dir Dein Wahlrecht zu nehmen,
so bist Du kein freier Mensch,
sondern ein Sklave.

Selbst im Namen der höchsten
Ideale der Brüderlichkeit
oder anderer Werte
kann Dir niemand
das Recht nehmen,
zu wählen, zu entscheiden,
etwas zu schaffen.

Das heißt,
frei
diejenigen zu wählen,
die über Dein Schicksal
regieren werden.«



Europarat
Du bist ein Mensch – Botschaft an die Jugend Europas
1978

 ***

Das Grundgesetz ist zu ändern. In Artikel 38 Absatz 2 heißt es: »Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.«

Dieser Artikel soll geändert werden. Es wird definitiv festgestellt: »Wahlberechtigt und wählbar sind Kinder, Jugendliche und Erwachsene; eine Einschränkung des Wahlrechts und der Wählbarkeit aufgrund des Alters gibt es nicht.«

Der Absatz 2 des Artikels 38 könnte auch ersatzlos gestrichen werden. Doch es ist sinnvoll, die Gleichberechtigung des jungen Mitbürgers unübersehbar und unzweideutig in das Grundgesetz einzufügen. An dieser Stelle und an anderen, wo es hingehört.

Demokratie ist nicht begrenzbar. Man kann nicht zu recht demokratische Rechte in Anspruch nehmen – als Mann, als Weißer, als Erwachsener – und sie dann anderen – Frauen, Schwarzen, Kindern – vorenthalten. Das ist der Kerngedanke, wie er in der demokratischen Tradition enthalten ist, und wie er auch im Grundgesetz stehen sollte.

Die Unfähigkeit zum Frieden hat ihre Wurzel auch in der Kindheitserfahrung, gegen die absolute Macht der Erwachsenen kein Recht setzen zu können, in einer Diktatur der Erwachsenen zu leben. Wenn erst mit achtzehn Jahren Demokratie erlebt wird, hat sich die Ohnmachtserfahrung der Rechtlosigkeit längst festgesetzt. Und dass sich Ohnmacht nicht mit Recht, sondern nur mit Gegenunterdrückung aufheben lässt. Die Forderung nach dem Wahlrecht und der Wählbarkeit für Kinder ist Verpflichtung jeder Demokratie der heutigen Zeit.


Fortsetzung folgt.

Donnerstag, 14. September 2017

Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, dass Kinder erzogen werden müssen? II






















Fortsetzung vom 12.9.

Es beginnt mit einem Nachsinnen über das Bild vom Kind.
Woher wissen Erwachsene, was Kinder sind und sie sie mit
ihnen umgehen sollen? Wer kennt sich aus und wen kann
man fragen?

Als die Erwachsenen selbst Kinder waren, haben sie von
ihren Eltern gelernt, was es für ein Bild vom Kind gibt: das
Bild von einem jungen Menschen, der Erziehung braucht,
um ein richtiger Mensch zu werden.

Aber – und hier setzt das Nachsinnen ein – dies ist nur ein
Bild, eine Vorstellung, eine Vermutung, eine Hypothese.
Gewiss, diese Hypothese hat sich bewährt, alles läuft darauf
hinaus, dass Kinder Erziehungsmenschen sind und Erziehung
brauchen, und jeder verhält sich so. Aber Kinder tragen kein
Schild auf der Stirn mit der Aufschrift »Ich brauche Erziehung«.
Erwachsene sehen diese Aufschrift, aber sie ist nicht real da,
sondern nur im gewohnten Blick, in der gewohnten Interpreta-
tion vom Kind.

Und Interpretationen, Bilder vom Menschen, können sich als
überholt erweisen. Zum Beispiel die Sicht, dass jemand mit
schwarzer Haut ein nicht so richtiger und wertvoller Mensch
ist wie jemand mit weißer Haut und dass er sich zum Sklaven
eignet. Oder die Sicht, dass Männer die richtigeren und wert-
volleren Menschen sind, und dass man deswegen den Frauen
das Wahlrecht nicht zubilligen darf. Oder die Sicht, dass nur
der König die Staatsgeschäfte richtig führen kann, nicht das
Volk. Oder, oder, oder. Menschenbilder gibt es viele, doch stets
sind sie Hypothesen, Bilder – niemals jedoch bewiesene Tat-
sachen des Lebens.

Die pädagogische Sichtweise auf das Kind ist auch nichts anderes
als eine solche anthropologische Hypothese.

Sie ist nicht wirklich zu beweisen, aber sehr wohl als Grundlage
für den Umgang mit Kindern geeignet und bewährt.

Bis eine neue anthropologische Hypothese auftritt und das alte
Bild und die vertraute Basis in Frage stellt. Bis jemand kommt,
der die pädagogische Sicht vom Kind nicht mehr akzeptiert und
einen nicht pädagogischen Weg zu den Kindern sucht. Und findet.
Und entsprechend seiner neuen Hypothese zu leben beginnt. Und
nicht scheitert, sondern Erfolg hat. Und genau solche Menschen
gibt es heutzutage.

Diese Menschen kommen aus der konstruktiven Postmoderne, in
der die Gleichwertigkeit aller Phänomene als Grundlage erkannt
wird. Niemals steht etwas wirklich über dem anderen, Weiße nicht
über Schwarzen, Männer nicht über Frauen, Regierende nicht über
Regierten, Menschen nicht über der Natur, Philosophien nicht über
Philosophien, Religionen nicht über Religionen, Kulturen nicht über
Kulturen. Und auch nicht Erwachsene über Kindern.

Wenn das Paradigma der Gleichwertigkeit ernst genommen und zur
Grundlage gemacht wird, dann gibt es den Unterschied von einem
vollwertigen Menschen (dem Erwachsenen) und einem noch nicht
vollwertigen Menschen (dem Kind) nicht mehr – sondern es wird
gesehen, dass beide auf einer gleichen Plattform stehen, der Platt-
form des vollwertigen Menschen. 

Und dann hat eine missionarische Haltung, wie sie jeglicher Erzie-
hung zugrunde liegt, keinen Platz mehr. Dann werden Kinder nicht 
mehr erzogen, dann lebt etwas anderes als Erziehung zwischen 
Erwachsenen und Kindern: personale Beziehungen, wie bei allen 
anderen Menschen auch.




Dienstag, 12. September 2017

Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, dass Kinder erzogen werden müssen? I






















Die Kinder sind da, die Erwachsenen sind da, die Gesellschaft
ist da, voller Werte, Orientierungen, Grenzen, Herausforderun-
gen. Es ist alles bereitet und bereit, wenn ein Kind geboren wird.
Das Abenteuer Leben kann beginnen. Eltern lieben ihre Kinder,
sind Ressource und Trost, Unterstützung und Stützpunkt,  wozu
um alles in der Welt braucht es da noch Erziehung?

Nun, Erziehung ist eben mehr als das Selbstverständliche.
Erziehung ist etwas Besonderes. Erziehung ist die Aufgabe
und der Auftrag, dafür zu sorgen, dass die Kinder gelingen.
Dass sie richtige, vollwertige Menschen werden. Erziehung
ist Sendung, eine kulturelle und zivilisatorische Mission: aus
Kindern Menschen zu machen; sie zu bilden, formen, lenken,
ihnen die richtigen Werte mitzugeben und sie an ein Verhalten
zu gewöhnen, das sie überlebenstüchtig macht.

Erziehung ist unverzichtbar, ohne Erziehung gibt es Chaos und
Unglück. Es braucht heutzutage mehr und vor allem bessere
Erziehung, bessere Methoden, bessere Bücher, bessere Seminare.

Sind daran Zweifel erlaubt?

Jeder weiß, was passiert, wenn zu wenig erzogen wird ... wenn
überhaupt nicht mehr erzogen wird – so etwas ist außerhalb des
Vorstellbaren.

Wer sollte auch ernsthaft auf die Idee kommen, mit der Erziehung
aufzuhören? Dieser Gedanke ist abwegig und ein schlechter Witz.
Gegen diesen Gedanken stehen nicht nur die pädagogische Wissen-
schaft, die zigtausend Erziehungsbücher, das Engagement der un-
zähligen pädagogischen Professionellen, sondern auch die Lebens-
erfahrung und der Blick in die Geschichte.

Aber genau dieser Gedanke soll hier gedacht werden.

Nein, nicht der Gedanke vom Ende der Erziehung, der ins Chaos
führt. Sondern ein anderer Gedanke vom Ende der Erziehung:
ein Gedanke, der einen neuartigen und konstruktiven Weg für
Erwachsene und Kinder öffnet.

Fortsetzung folgt.