Vor etwa zwei Jahren hörte ich von der Amication. Hier traf ich auf
Menschen, von denen ich mich angenommen und verstanden
fühlte, die mich nicht beredeten mit Aussagen wie: »Du hast doch
alles, gesunde Kinder und materielle Absicherung, was willst Du
denn?« Ich musste nichts erklären und bekam auch nichts erklärt.
Mit der Zeit traute ich mich immer mehr an mich selbst heran, an
meine Gedanken und meine Gefühle. Oft zu meinem eigenen
Erschrecken stellte ich fest, dass ich etwas ganz anderes sagte oder
tat, als ich wirklich meinte. So nach und nach merkte ich, wie ich
mich vor mir und den anderen versteckt habe. Vieles habe ich so
getan, wie es meiner Meinung nach von mir erwartet wurde.
Wenn ich so zurückdenke, habe ich mir nie richtig Ruhe gegönnt.
Mich einfach hinsetzen, abschalten. Die Zeit verstreichen lassen,
ohne etwas vorzuweisen, das gab es nicht. Da kamen so Sprüche
in mir hoch wie »Müßiggang ist aller Laster Anfang« und »Lass
Dich nicht hängen«. Es zählt nur, wer arbeitet, wer etwas für an-
dere sichtbar leistet.
Viele Jahre habe ich gemacht, geschafft über meine Kräfte hinaus
und habe nicht gemerkt, wie ich gegen mich selbst gearbeitet habe.
Alle äußeren Gelegenheiten habe ich dafür verantwortlich gemacht,
dass ich mich selbst jage. Mein Körper hat mit Krankheit reagiert,
aber dafür gab es ja Medizin. So langsam spüre ich meinen Körper
wieder, merke, was in mir vorgeht, und reagiere darauf. Mit der Zeit
kann ich mich immer besser einschätzen, ich leme mich kennen.
Heute muß ich nicht mehr weiterlaufen, um zu gewinnen, wenn ich
nicht mehr laufen kann. Ich bleibe stehen, und es ist gut so. Stück-
chen für Stückchen kann ich mich so nehmen, wie ich bin.
So wie ich mich auf mich selbst einlassen kann, so kann ich mich
auch inzwischen auf meine beiden Kinder einlassen. lmmer wieder
habe ich ihnen meine Maßstäbe und Erwartungen aufgedrückt und
habe Wege gesucht, das einzelne Kind dahin zu bringen, wohin ich
es haben wollte. Es ist nicht bewusst geschehen - ich habe es nur gut
gemeint.
Ein Beispiel zeigt, wie sehr ich mich dann an dem, was die Kinder
taten, orientierte. Meine damals fast fünfjährige Tochter fing an,
irgendwelche kleinen Gegenstände wegzunehmen. Zunächst ver-
suchte ich sie mit Zureden, dann mit Strafen, ja sogar mit Erpressung
davon abzubringen. Erst viel später, als alle meine Überredungskün-
ste fehlschlugen, fing ich an, die Sache zu hinterfragen. Warum
hatte es meine Tochter nötig, kleine Dinge zu entwenden? Der
Gedanke »Ich muss das verhindern, was soll sonst daraus werden?«,
also meine eigene Angst, verschwand ganz. Bald war mir klar, dass
das ein Kampfmittel war. Hier konnte sie mich treffen. Aber warum
musste sie mich bekämpfen? Selbst Druck und Strafe konnten sie
nicht daran hindem, überall etwas mitzunehmen. Es geschah nur
immer heimlicher, und sie fing an, zusätzlich noch zu leugnen.
Nun war ich genau da hineingerutscht, wo ich nicht hinein wollte.
Verbote, Strafe, Druck, alles das wollte ich nicht. Bei mir spürte ich
Hilflosigkeit und Traurigkeit. Davon konnte ich meiner Tochter
erzählen. Immer stärker spürte ich, was das, was sie tat, bei mir
auslöste. Nun war ich unfähig, sie dafür zu bestrafen oder auch nur
Strafe anzudrohen. Ich habe von mir erzählt und geweint, ohne sie
dafür verantwortlich zu machen. Es waren meine Gefühle.
Bei mir verlor die Sache dann mehr und mehr an Bedeutung,
irgendwann fiel mir auf, dass meine Tochter nichts mehr mitnahm,
Es hat sich alles wie von selbst erledigt.