Donnerstag, 14. September 2017

Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, dass Kinder erzogen werden müssen? II






















Fortsetzung vom 12.9.

Es beginnt mit einem Nachsinnen über das Bild vom Kind.
Woher wissen Erwachsene, was Kinder sind und sie sie mit
ihnen umgehen sollen? Wer kennt sich aus und wen kann
man fragen?

Als die Erwachsenen selbst Kinder waren, haben sie von
ihren Eltern gelernt, was es für ein Bild vom Kind gibt: das
Bild von einem jungen Menschen, der Erziehung braucht,
um ein richtiger Mensch zu werden.

Aber – und hier setzt das Nachsinnen ein – dies ist nur ein
Bild, eine Vorstellung, eine Vermutung, eine Hypothese.
Gewiss, diese Hypothese hat sich bewährt, alles läuft darauf
hinaus, dass Kinder Erziehungsmenschen sind und Erziehung
brauchen, und jeder verhält sich so. Aber Kinder tragen kein
Schild auf der Stirn mit der Aufschrift »Ich brauche Erziehung«.
Erwachsene sehen diese Aufschrift, aber sie ist nicht real da,
sondern nur im gewohnten Blick, in der gewohnten Interpreta-
tion vom Kind.

Und Interpretationen, Bilder vom Menschen, können sich als
überholt erweisen. Zum Beispiel die Sicht, dass jemand mit
schwarzer Haut ein nicht so richtiger und wertvoller Mensch
ist wie jemand mit weißer Haut und dass er sich zum Sklaven
eignet. Oder die Sicht, dass Männer die richtigeren und wert-
volleren Menschen sind, und dass man deswegen den Frauen
das Wahlrecht nicht zubilligen darf. Oder die Sicht, dass nur
der König die Staatsgeschäfte richtig führen kann, nicht das
Volk. Oder, oder, oder. Menschenbilder gibt es viele, doch stets
sind sie Hypothesen, Bilder – niemals jedoch bewiesene Tat-
sachen des Lebens.

Die pädagogische Sichtweise auf das Kind ist auch nichts anderes
als eine solche anthropologische Hypothese.

Sie ist nicht wirklich zu beweisen, aber sehr wohl als Grundlage
für den Umgang mit Kindern geeignet und bewährt.

Bis eine neue anthropologische Hypothese auftritt und das alte
Bild und die vertraute Basis in Frage stellt. Bis jemand kommt,
der die pädagogische Sicht vom Kind nicht mehr akzeptiert und
einen nicht pädagogischen Weg zu den Kindern sucht. Und findet.
Und entsprechend seiner neuen Hypothese zu leben beginnt. Und
nicht scheitert, sondern Erfolg hat. Und genau solche Menschen
gibt es heutzutage.

Diese Menschen kommen aus der konstruktiven Postmoderne, in
der die Gleichwertigkeit aller Phänomene als Grundlage erkannt
wird. Niemals steht etwas wirklich über dem anderen, Weiße nicht
über Schwarzen, Männer nicht über Frauen, Regierende nicht über
Regierten, Menschen nicht über der Natur, Philosophien nicht über
Philosophien, Religionen nicht über Religionen, Kulturen nicht über
Kulturen. Und auch nicht Erwachsene über Kindern.

Wenn das Paradigma der Gleichwertigkeit ernst genommen und zur
Grundlage gemacht wird, dann gibt es den Unterschied von einem
vollwertigen Menschen (dem Erwachsenen) und einem noch nicht
vollwertigen Menschen (dem Kind) nicht mehr – sondern es wird
gesehen, dass beide auf einer gleichen Plattform stehen, der Platt-
form des vollwertigen Menschen. 

Und dann hat eine missionarische Haltung, wie sie jeglicher Erzie-
hung zugrunde liegt, keinen Platz mehr. Dann werden Kinder nicht 
mehr erzogen, dann lebt etwas anderes als Erziehung zwischen 
Erwachsenen und Kindern: personale Beziehungen, wie bei allen 
anderen Menschen auch.