Samstag, 23. September 2017

Wahlrecht für Kinder V: Die Argumente
























Fortsetzung vom 22.9.


Ungute Gefühle, die durch die Forderung nach dem Wahlrecht für Kinder ausgelöst werden, lassen sich kaum argumentativ ausräumen. Es ist sinnvoller, sie als emotionale Realität anzuerkennen. Es kommt auch nicht darauf an, Einwände und Bedenken kleinzureden und wegzudiskutieren, sondern sie aus der eigenen Position heraus zu beantworten. Welche Überlegungen stützen das Wahlrecht für Kinder? 10 Beispiele:

1.  Kinder werden auf neue Weise von den Erwachsenen ernst genommen. Politische Entscheidungen werden immer auch mit Blick auf die Wähler getroffen. Wie reagieren die Wähler, die unter 18 Jahre alt sind? Diese Frage ist gänzlich neu, und erst sie führt dazu, Kinder tatsächlich ernst zu nehmen und bei den politischen Entscheidungen überhaupt zu berücksichtigen. Nicht aus Großzügigkeit, sondern aus Notwendigkeit. Die Kinder haben jetzt Macht – gesellschaftliche, politische Macht. Allein ihre Stimmzettel verleihen ihnen dieses Gewicht. Es ist durch nichts zu ersetzen. Großzügigkeit und Freundlichkeit können jederzeit widerrufen werden. Gegen die Macht, die aus den Stimmzetteln kommt, gibt es jedoch kein Mittel.

2.  Es gibt einen psychologischen Durchbruch für die Kinder. Wenn Kinder politisch gleichwertig sind und einige Male an Wahlen teilgenommen haben, wird man ihnen mit einer anderen Achtung begegnen. Im Einkaufszentrum, im Bus, im Schwimmbad erlebt man dann nicht unmündige Kinder, sondern Wahlbürger. Wahlbürger Kind. Von der psychologischen Aufwertung für die Kinder selbst ganz abgesehen. »Ich bin nicht unwichtig – ich bin wichtig. Ich entscheide mit. Meine Stimme zählt.«

3.  Kinder verstehen viel von Politik. Zunächst: Es ist nicht notwendig, etwas von Politik zu
verstehen, wenn es um das Selbstbestimmungsrecht und das Wahlrecht geht. Die Bürger entrissen dem König die Macht nicht deswegen, weil sie nachweisen konnten, dass sie mehr von Politik verstehen als er, sondern weil sie über ihr politisches Schicksal selbst bestimmen wollten. Die Legitimation kommt nicht aus dem besseren Verständnis von Politik oder aus irgendeiner Unterweisung in gesellschaftliche Zusammenhänge, sondern aus der demokratischen Idee: Dass die Macht nicht für einen oder für wenige reserviert ist, sondern dass alle Anteil an der Macht haben – alle ohne jegliche Einschränkung. Die Forderung, Kinder müssten etwas von Politik verstehen, ehe sie wählen können, und 18 Jahre oder vielleicht 16 Jahre wäre da die äußerste Grenze, ist eine zutiefst undemokratische Position. Diese Forderung trägt diktatorische Züge, das Verlangen nach Herrschaft und Unterordnung ist offensichtlich. Das »Davon verstehst du nichts« ist ein Abwehrargument, um die Macht nicht zu teilen.

    Kinder müssen also nichts von Politik verstehen, um Anteil an der politischen Macht zu haben. Dennoch aber verstehen sie viel von Politik: Humanität, Toleranz, Kreativität, Sensibilität, Fairness u. a. sind wichtige konstruktive Eigenschaften für die Politik. Von diesen gesellschaftlichen Basisfaktoren verstehen Kinder eine Menge, und es ist so, dass Erwachsene über dieses politische Wissen viel von ihnen lernen können. Und von den tagespolitischen Fragen versteht der eine mehr, der andere weniger – so, wie das bei den Erwachsenen auch ist.

4.  Versuche, Kinder zu verführen, laufen ins Leere. Denn die Konkurrenz schläft nicht. Sie deckt solche Versuche auf, und dann revanchieren sich die Kinder mit Wahl der Konkurrenz. Welche Chance hat denn ein politischer Verführer in einer Zeit, die demokratisch geprägt ist und in der destruktive und faschistische Tendenzen enttarnt werden? Die Inhumanität und der Totalitarismus politischer Verführer sind leicht zu durchschauen angesichts realer Machtbeteiligung durch demokratische Wahlen. Demokratie – erlebte, erfahrene Demokratie – ist die beste Waffe gegen jede Diktatur und jeden Verführungsversuch.

    Wenn Kinder aber in einer Diktatur leben – dann nämlich, wenn sie das Wahlrecht nicht haben – , kommt es nur auf den Verführer mit den größten Versprechungen an. Die Sorge vor der Verführbarkeit der Kinder spiegelt die Ängste der Erwachsenen, die in der eigenen Kindheit einer ausweglosen Diktatur ausgesetzt waren: Sie mussten den damaligen Erwachsenen folgen, ohne Recht. Sie lernten folgsam zu sein und allen Sprüchen zu glauben. Die Kinder des demokratischen Zeitalters jedoch kennen ihre Macht. Sie können sich ihre Sensibilität für Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit bewahren, denn sie bestimmen selbst über ihr Schicksal. Kinder, für die Demokratie Realität und ein gewachsener Wert ist, werden sich mit Abscheu von diktatorischen Zumutungen und politischen Verführungen abwenden.

5.  Kinder sind sensibler als Erwachsene für Fairness und Wahrheit. Die Versuche, die Wähler zu hintergehen, zahlen sich bei den Kinderstimmen nicht aus. Politische Tugenden sind in Bezug auf diese Wählergruppe viel effektiver, und Politiker werden insgesamt in eine positive Richtung diszipliniert, wenn Kinder über Wahlstimmen verfügen. Sie quittieren unerbittlicher als Erwachsene Unfairness, Lüge und Gemeinheit mit Abwahl.


Fortsetzung folgt.