In der Weihnachtszeit komme ich nicht dazu, einen neuen Post zu
schreiben. Deswegen stelle ich diesen früheren Post vom 31.12.17 als aktuellen
Beitrag ein.
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Alle unsere Wahrnehmungen von der Welt kommen aus uns selbst, und doch
liegen vor und hinter ihnen unendlich viele Wahrnehmungen anderer. All
derer, die uns wissen ließen, wie dieses und jenes wahrzunehmen sei, und
das wir so oder anders von ihnen übernommen haben. Als Kinder haben wir
von Anfang an unzählige Informationen zur Weltdeutung erhalten, von den
Erwachsenen unserer Zeit. Ihr Wissen um die Welt wurde zur Grundlage
unseres Weltverstehens. Und auch wenn wir später entgegen ihren
Deutungen anderen und neuen Sichtweisen folgen, ist es doch so, dass die
in der Kindheit erfahrende Weltdeutung niemals wirklich verlassen
werden kann.
Wie nehmen wir uns selbst wahr? Wer bin ich? Neben vielen anderen
Aspekten der Identitätsfrage gehe ich einem besonderen Gedanken nach:
Wir lernten und erfuhren als Tatsache des Lebens, als
Selbstverständlichkeit unserer Eltern und Großen, wenn sie über uns
nachdachten und etwas über uns sagten und etwas zu uns sagten, wir
erfuhren als eine selbstverständliche Basisinformation, dass Kinder
anders waren als sie – und dass sie anders waren als wir. Wir und sie –
sie und wir: das waren zwei verschiedene Welten. Und im Hintergrund war
präsent, dass unsere (Kinder)Art zu sein nicht die eigentliche Art zu
sein wäre, wie sie den wirklichen und wahren Menschen, den Großen, ihnen
also, zukommt. Wie sie meinten.
Nun lag es damals aber nicht an, zu bemerken, dass wir eines Tages auch
groß, so wie sie, sein würden. Merkwürdigerweise spielte das einfach
keine Rolle. Merkwürdig deswegen, weil ich heute, selbst groß, denke,
wir Kinder hätten es von ihren Gesichtern ablesen können: ihr werdet
eines Tages auch Große. Das war so aber nicht der Fall. Nein, es war so:
wir hier – sie dort.
Dieses Basiswissen vom eigenen Standort – wir hier, im Unterschied zu
euch dort –, der zugleich der Standort vieler anderer auch war, aber nur
der anderen, die in der gleichen Situation des Lebens waren, also: der
anderen Kinder – dieses Basiswissen und vor allem das Gefühl von diesem
Standort gingen nach und nach verloren, zu der Zeit, als man selbst
erwachsen wurde. Dann galten andere Bezüge, der andere Standort. Und der
Kontakt zum Wissen und Fühlen der damaligen Wahrheit riss ab. Und
seitdem leben wir in unserer Welt, der Welt der Erwachsenen.
Doch zurück zu der Basis der Kindheit, zu dieser Basis, dem Wissen und
dem Gefühl der eigenen Welt, der eigenen Sprache, der eigenen
Interpretation – immer anders als die der Großen, immer gleich wie die
der Gleichaltrigen. Und immer vorgegeben von den Großen: vorgegeben aber
nur insofern, als es das Faktische betrifft, wie dann, wenn etwas
vorgegeben ist, das der eigenen Vereinnahmung bedarf: »Das ist die
Sonne« musste von uns Kindern zurechtgelegt werden, übersetzt werden in
unsere real existierende Welt, transportiert werden in unser Weltbild.
»Das ist ein Auto« ebenfalls. Mit allem ging das so. Und auch mit der
Aussage: »Das bist Du«, was übersetzt hieß: »Das bin (also) ich«.
Wer aber waren wir? Was wurde uns gesagt? Neben vielem auch, ohne Worte –
wir seien Kinder. Nicht Erwachsene. (Das waren ja sie.) Und Kinder, das
weiß jeder Erwachsene, entwickeln sich, sie wachsen, sie werden. Sie
werden. Was werden Kinder? Sie werden Erwachsene. Eines Tages. Wir
erfuhren also: Ihr seid jetzt Kinder – und damit seid ihr Leute, die
werden. Die Erwachsene werden. (Und dann sollten wir außerdem und vor
allem gute Erwachsene werden, keine bösen, missratenen sondern
vorzeigbare, wertvolle, tüchtige, solche, auf die Verlass ist und auf
die man stolz sein kann.)
Der Sog zu werden war wie zuckersüßer Sand
über uns gestreut, wir nahmen ihn auf und wir wurden.
Ich will damit sagen: Wenn wir Kinder um uns haben, sehen wir sie so,
wie wir gesehen wurden: als Wesen, die werden. Und wir sehen sie weniger
oder nicht oder ganz und gar nicht als Wesen, die sind. Und dennoch: Als
wir selbst Kinder waren, war uns präsent, selbstverständlich, Basis:
dass wir sind. Jetzt. Und gleich. Und eben. Wir lebten uns und waren in
der Zeit, mit der Zeit, nicht im Gegensatz zur Zeit, nicht im Streit mit
der Zeit, nicht jenseits oder vor der Zeit, der eigentlichen Zeit. Wir
waren nicht im Werden, sondern im Sein.
Wer ist dieses Kind vor mir? Wer ist dieses Jetztwesen? Das interessiert
mich, das ist meine Frage, meine Aufmerksamkeit, meine Intuition, meine
Art. Ich habe mich gelöst von der Werden-Perspektive. Ich habe diese
Perspektive nicht gänzlich verlassen, aber sie kommt mir nicht zur
Unzeit dazwischen, sie hat mich nicht im Griff. Ich habe sie bei Bedarf,
ich wende sie an, nicht sie mich. Wer ist also dieses Kind vor mir
jetzt?
Ein NochEinBrotKind. KeinHausaufgabenMacheKind. Ein BruderKämpfeKind.
EinJammerUndGeschreiKind. Ein MitTierenBehutsamUmgeheKind. Ein MüdeKind.
Ein JetztEinschlafeKind. Ein DuHastHierNichtsVerlorenKind. Ein
IchBinSchonFertigKind. Ein DannSpielIchEbenGarNichtMehrKind. Ein
LaßMichInRuheKind. Ein IchHelfeDirKind. Kein SchnallDichAnKind. Ein
TreppengeländerRutscheKind. Ein HonigSchmierKind. Kein ZähnePutzKind.
Kein MitDemHundRausgehKind. Ein MeinZahnIstWegKind. Ein
IchHabeSchlechtGeträumtKind. Kein HändeWaschKind. Kein
FährtVernünftigMitDemRadKind. Ein MirIstKaltKind. Ein WieSpätIstEsKind.
Ein WannSindWirDaKind. Ein SagIchNichtKind. Ein HabIchAberWohlKind. Ein
KlavierspielenÜbeKind. Ein KarateTrainingKind. Ein
BlumenstraussPflückeKind. Ein DiskoBesucheKind. Ein NichtraucherKind.
Ein IchGehZumReitenKind. Kein IchHabDenSchlüsselVergessenKind. Ein
IchHabeMeinZimmerAufgeräumtKind. Ein DaranHabeIchNichtGedachtKind. Ein
DasHabeIchDirMitgebrachtKind. Kein FrühstücksbrotAufesseKind. Ein
DasWarIchNichtKind. Ein SpielstDuMitMirKind. Ein KicherKind. Ein
IchFreuMichAufKind.
Die Kinder sind Sein-Wesen, nicht Werde-Wesen. Ich sehe sie so und ich
begegne ihnen dort: Im Sein, schön oder schrecklich, entspannt oder
anstrengend, plus oder minus, egal: im Sein, nicht im Werden. Sie sind
im Sein, dort treffe ich sie, dort treffen wir uns. Und: nur dort. Und
auch wenn es um Künftiges geht: von dort aus wird die Zukunft gesehen.
Anmerkung: Das ist nicht die Hier-und-Jetzt-Position, Leben im Hier und
Jetzt, Carpe Diem, Sorge Dich nicht – lebe. Das ist es alles nicht. So
etwas ist die nostalgische und immer vergebliche Position von
Erwachsenen, die ganz genau wissen, dass sie eben nicht nur in der
Gegenwart leben können, sondern die um Entwicklung und Zukunft wissen,
die sich wünschen, wünschen, das anders geschehen zu lassen.
Hier-und-Jetzt ist eine blasse Fotokopie des bunten und lebendigen
Originals, das die Kinder leben.
Wer hat damals erlebt, dass die Großen uns in unserem Sein besuchten,
fanden, Kontakt aufnahmen, um mit uns ein Stück in unserem Sein zu
wandern, mit uns in unserem Sein zu leben? Nicht ausnahmsweise, an Sonn-
und Feiertagen, sondern montags, an Werktagen? Immer? Als Basis ihrer
Wahrnehmung von uns? Und wie ist das heute mit den groß gewordenen
Kindern, mit uns Kindern von damals? Wie sehen wir uns selbst? Leben wir
heute mit uns im Sein oder im Werden? »Ja – ich bin so« oder: »Ich
sollte eigentlich so sein, wie ich sein sollte«.
Mit anderen Worten: Sich selbst lieben hat Erinnerungen und Wurzeln. In
der Erfahrung, dass wir Sein-Wesen waren, wenn auch alle Erwachsenenwelt
uns für Werde-Wesen hielt. Wir waren der Mittelpunkt unserer Welt, tief
verwurzelt im Sinn, der so oder anders war, aber er war, in dieser
unserer Realität existierend, kein Später, kein Werden. (Bis auf die
Ausnahmen, drei Tage vor Weihnachten.) Ich liebe mich so wie ich bin –
nicht: so wie ich sein werde. »Lass Dich in Ruhe, lass Dich einfach in
Ruhe, Du bist schon ein richtiger Mensch« antworte ich auf die Frage
»Wie macht man es, sich zu lieben?«
Und das Werden wird ja nicht übersehen oder verbannt. Es hat nur keine
Macht mehr über mich. Es hat seine Bedeutung, und ist Realität, auch,
selbstverständlich (wir werden sterben), und es ist wichtig, aber es
herrscht nicht mehr, es geschieht: zu seiner Zeit. Ich bin nicht ohne
Perspektiven. Aber die Basis ist Innehalten und Merken: Ich bin. In der
Beziehung zu mir selbst und zu den anderen. Auch und gerade und sowieso
zu den Kindern.
PS:
Aber keine neue Forderung! Wer Kinder nur oder vor allem oder oft oder
zu oft oder leider unter der Werden-Perspektive sieht: das ist dann so.
Und Punkt. Nichts daran ist falsch oder irgendwie verkehrt. Nur dass es
da auch diese andere Möglichkeit gibt, man kann sie hervorkramen, sich
erinnern, es gibt eine Einladung. Eine Einladung zum Mitsein im Sosein.