Montag, 27. Januar 2020

Vom Glück







Im aktuellen SPIEGEL* gibt es einen Artikel über Glück. Das macht mich neugierig, und ich habe gelesen. Die Expertin** sagt, dass es drei Grundvoraussetzungen für das persönliche Glück gebe: Erstens ausreichende finanzielle Absicherung, "das Geld muss reichen". Zweitens gute soziale Kontakte, "auf Augenhöhe, mit Familie, mit Freunden". Drittens einen höheren Sinn im Leben sehen, das Gefühl haben, seine Zeit auf Erden nicht sinnlos zu verstolpern.

Da bin ich dabei. Wer weiß, was es sonst noch alles für Momente, Monumente und Momentchen braucht, um glücklich zu sein. Die Frage "Bin ich glücklich?" ist eigentlich eine gute Frage. Aber nur eigentlich - weil man sich so etwas nicht fragt. Man ist es, mehr oder weniger. Oder man ist unglücklich, mehr oder weniger.

Was hat Amication in Sachen Glück zu bieten? Hierzu habe ich am 4. März 2017 kurz etwas gepostet ("Glücksdonner und Glücksstaub"). Macht Amication glücklich? Würd ich nicht ausschließen. Amication hilft, Belastungen/Steine/Hindernisse auf dem Glücksweg zu entfernen. Es sind die Sichtweisen auf sich selbst und auf die Welt, die sich mit Amication leichter angehen lassen. "Ich gehöre mir selbst" ist glücksbringender als "Ich gehöre/bin ausgeliefert diesem und jenem, Anforderungen, Umständen, Personen". "Ich bin für mich selbst verantwortlich" hingegen will gut bedacht sein, schmeckt nicht jedem, ist aber sehr erleichternd. "Schuldgefühl und Schuldvorwurf sind im Museum" ist schon grandios. "Ich bin ein Ebenbild Gottes" - mehr geht nicht.

Im Spiegelartikel heißt es auch, dass man oft erst hinterher merkt, dass man glücklich war. Was heißt, dass sich Glück nicht festhalten lässt. Wenn das so ist - dann ist es eben so. Wie immer geht es um die Frage, wie man mit irgendetwas umgehen soll/will, wie man bewerten und einordnen soll/will. Wenn ich mein Glück nicht merke, ja, das gehört dann eben dazu. Ich ärgere mich nicht, nichts mitgekriegt zu haben. Ich bin eher erstaunt und schwelge im Nachglück. Kurz: Ich habe immer die Möglichkeit, positiv zu reagieren, generell, eine Perspektive, die Amication aufzeigt. Es ist nicht verboten, positiv zu reagieren, bissiglich: es sich schön zu reden. Gilt auch für das Glück, das zerronnen ist. Ich jedenfalls freu mich, dass es da war.

Irgendwie weiß ich für mich, was ich zum Glück brauche. Und da wird jeder seine Vorstellungen haben. Die Dinge vorantreiben, damit das Glück passiert: Ist nicht zielführend, steht im Artikel. Mach ich aber immer wieder, mal mehr, mal weniger. Alles dem Großen Sinn überlassen? Glück fällt vom Himmel, oder passiert gar nicht? Vertrauen darauf, dass das Glück mich nicht übersieht? Na ja. Ich kenn das und ich kann das, wenn es denn anliegt. Aber ich kenn das und ich kann das auch, mich um mein Glück zu kümmern und mich zu bemühen. Was aus dem Ruder laufen kann, was aber auch gelingen kann. Da gibt es nicht richtig und falsch, da entscheide ich so, wie es kommt. In eigener Regie.

Das mit dem Glück ist eh eine völlig relative Angelegenheit. Was dem einen sein Uhl. Nur, dass es da so viele Unglücksmonsterchen und Monster gibt. Die lauern am Lebensweg, und wenn man an sie glaubt, wird es anstrengend. Das Schönreden - die positive Sicht, bevorzugt, nicht sich dem Schönreden ausliefern und sich belügen - ist ein gutes Mittel gegen die Glücksvampiere. "Was für ein Unglück" lässt sich mit Innehalten begegnen, mit dem Wissen um die vielen, die hundert Jahre, die man lebt und die jeden Tag eine Einladung sind. Eine Einladung, dem Grund zu vertrauen, auf dem ich gehe und der den Glücksstaub enthält, den ich zu seiner Zeit aufwirbele.

Unglücklichsein gehört dazu. Wie all die anderen Negativlinge. Ist aber nicht das letzte Wort in diesem Lebensszenario. Dieses Wort habe ich, und ich berappele mich dann, lass es mal gut sein mit dem Grusel und strebe dem Glück entgegen. Meine Entscheidung, meine Verantwortung, meine Macht.

Glück? Geht doch!


*   Der Spiegel Nr. 5/25.1.2020, Seite 112 ff.
** H.Brockmann, a.a.O., S. 115

Montag, 20. Januar 2020

Kinderrechte ins Grundgesetz







Kinderrechte ins Grundgesetz?

Na ja, die Mühen der Ebene...Seit Jahren ist die kleine und große Politik dabei, Kinderrechte ins Grundgesetz zu bringen. Im November letzten Jahres kam aus dem Justizministerium dieser Gesetzentwurf heraus, einzufügen als Absatz 1a in den Grundgesetzartikel 6:

"Jedes Kind hat das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung seiner Grundrechte einschließlich des Rechts auf Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft. Das Wohl des Kindes ist bei allem staatlichen Handeln, das es unmittelbar in seinen Rechten betrifft, angemessen zu berücksichtigen. Jedes Kind hat bei staatlichen Entscheidungen, die seine Rechte unmittelbar betreffen, einen Anspruch auf rechtliches Gehör.“

Dazu gibt es reichlich Befürworter und Kritiker, die den Entwurf unter die Lupe und auseinander nehmen. Sehr bemüht und doch Kleinklein. Mir fehlt der Donnerschlag!

"Mitten in unserer modernen 'Demokratie' leben die Kinder unter einer Tyrannenherrschaft - mit deren bekannten Abwandlungen: von übermäßiger Herrschsucht bis zum scheinbar einsichtigen und zurückhaltenden Despotentum, was untereinander keinen erheblichen Unterschied macht. Kinder haben keinerlei Rechte außer den von oben herab diktierten, die jederzeit widerrufen werden können."

 Und:

"Kinder werden in ihrer Eigenschaft als gesetzlich diskriminierte Gruppe in ihrer Gesamtheit körperlich und seelisch bearbeitet und geformt im Hinblick auf ihre spätere Ausbeutung. Die Kinder sind eine unterdrückte Klasse. Sie bilden innerhalb der niederen oder höheren Klasse (je nach Wirtschaftssystem, rassischen oder kulturellen Bedingungen), in die sie zufällig hineingeboren werden, immer die nächstniedrigere Klasse."

Soweit Christiane Rochefort, französische Kinderrechtlerin im Jahr 1976.* - Das ist doch schon mal eine Aussage.

Ich sehe mir die Bemühungen um mehr Rechte für Kinder seit Beginn meines Engagements für Kinder an, seit über 40 Jahren. Man muss sie nicht überfordern, denke ich, die anderen, die Erwachsenen, all die Menschen, die um mich herum sind. Ihr Blick auf die jungen Menschen ist der gewachsene traditionelle Blick, mit dem sie selbst als Kinder gesehen wurden. Den man aber verlassen kann, den man kritisieren kann, den man definieren kann: als "Adultismus". Ich bin da irgendwie geduldig. Man muss sie ihren Weg zu den Kindern gehen lassen. Und ab und zu etwas einbringen, einwerfen in diesen Prozess der Transformation und Diversifizierung.

Große Wirkung hat das nicht, schon klar. Aber ich habe mich bemüht, wie ich mir das so sage. Im Jahr 1980 habe ich die Rechte der Kinder aus der Sicht der emanzipatorischen Kinderechtsbewegung zusammengestellt und als Deutsches Kindermanifest proklamiert. In einer Präambel und 22 Artikeln. Die Präambel ist die Basis - und sie ist ganz woanders unterwegs als das, was da jetzt ins Grundgesetz aufgenommen werden soll.

Deutsches Kindermanifest, Präambel:
"Die Menschenrechte sind unteilbar. Kinder, Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Jeder Mensch verfügt von Geburt an über die Fähigkeit der Selbstbestimmung. Das Selbstbestimungsrecht des jungen Menschen anzuerkennen und junge Menschen in der Ausübung dieses Rechtes zu unterstützen ist historische Verantwortung und Verpflichtung erwachsener Menschen. Jeder junge  Mensch muss ungeachtet seines Alters die Möglichkeit erhalten, von den Rechten, Privilegien und Verantwortlichkeiten erwachsener Menschen uneingeschränkt Gebrauch machen zu können."**

Das wichtigste Recht, das die Stellung der Kinder in der Gesellschaft revolutionär verändert, ist das politische Mitwirkungsrecht. Im Artikel 7 des Deutschen Kindermanifests heißt es schnörkellos: "Kinder haben das aktive und passive Wahlrecht."

Dazu schrieb ich damals:
"Das Wahlrecht ist ein fundamentales Recht. Es ist nicht erforderlich, Kindern zunächst andere Rechte einzuräumen, bevor man ihnen das Wahrecht zubilligt. Das Wahlrecht für Kinder ist aus dem Stand heraus realisierbar. Wurde in einer Revolution je gefragt, welche Rechte man erst haben muss, bevor man den König stürzt?  Die umgekehrte Reihenfolge ist richtig: Wenn das Wahlrecht da ist, d.h. wenn die politische Macht gegeben ist, werden weitere Diskriminierungen fallen."

Der Grundgesetzartikel 38 Absatz 2 lautet: "Wahlberechtig ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt."

Dieser Artikel ist zu ändern. "Kinder ins Grundgesetz" heißt für mich Grundgesetz Artikel 38 Absatz 2 (neu): "Wahlberechtigt und wählbar sind Kinder, Jugendliche und Erwachsene; eine Einschränkung des Wahlrechts und der Wählbarkeit aufgrund des Alters gibt es nicht".

Was bedeutet das? Aus meiner Schrift: "Das Wahlrecht steht als politisches Persönlichkeitsrecht, als Menschenrecht jedem zu. Wann dieses Recht zur Anwendung kommt, wann man zur Wahl geht - darüber entscheidet jeder selbst, zu seiner Zeit. Der eine will mit 8 Jahren zur Wahl gehen, der andere mit 30 oder mit 80 Jahren. Sicher gehen nicht alle Achtjährigen zur Wahl und auch nicht alle Dreißigjährigen und nicht alle Achtzigjährigen, aber sie haben das Recht hierzu und könnten, wenn sie wollten, und niemand darf sie daran hindern. Darum geht es. Nur darum."

Kinderrechte ins Grundgesetz. Ja - und zwar das Wahlrecht, kurz und bündig.



* Zitiert aus dem Buch: Christiane Rochefort, Kinder, München 1977 (Frankreich 1976), S. 49 f.

** Die zitierten Passagen sind aus meiner Schrift "Kinder in der Demokratie", Münster 2001, S. 9., 11, 25, 31, 38 f. Die Schrift enthält eine ausführliche Darstellung und Begründung der Forderung nach dem uneingeschränkten Wahlrecht für Kinder und ein geduldiges Eingehen auf alle Einwände. Zu beziehen über den Freundschaft mit Kindern - Förderkreis e.V., www.amication.de, Literatur




Montag, 13. Januar 2020

Frohgemut







Heute lief mir beim Micky-Maus-Lesen das Wort "frohgemut" über den Weg, Onkel Dagobert sagte zu sich selbst "Frohgemut ans Werk!". Fand ich eine gute Einstellung.

Was sagt der Duden im Internet zu frohgemut? Er sagt, Synonyme: "aufgeräumt, fidel, freudig, fröhlich, glücklich, gut gelaunt, heiter, lebenslustig, lustig, obenauf, selig, sonnig, stillvergnügt, strahlend, überglücklich, unbekümmert, unbeschwert, vergnügt." - Mächtig, mächtig!

Wir haben es ja in der Hand/Seele/Herzen, wie wir durch den Tag gehen. "Frohgemut" ist eine von vielen Möglichkeiten. Und wenn ich es mir recht überlege, gefällt mir das gut, sehr gut. Und ich bin eigentlich immer so unterwegs, mit den gelegentlichen unausweichlichen Wolken und Gewittern.

Kinder? Die sind so: frohgemut. Bis auf die Ausnahmen. Aber mal als Grundlage gesehen. Um die nichtfröhlichen, traurigen, verstörten, verletzten Kinder kümmere ich mich, wenn es anliegt. Aber im allgemeinen, in meiner realen Welt (nicht im Erdbebenland und Kriegsland und Guselland) erlebe ich die Kinder als unbekümmert und fröhlich.

Doch vor Ort: Es ist so viel Bekümmernis in der Erwachsenenwelt ringsum. Alle haben hier und da etwas und dies und das zu ertragen, sind belastet, überanstrengt, angefasst, irgendwie einfach nicht frohgemut. Das ist keine gute Stimmung! Und eigentlich nichts, wo ich gern unterwegs bin. Nur: es gibt ja keine anderen Erwachsenen als die, die ich wahrnehme. Und deren Grundstimmung.

In den einzelnen Begegnungen ist das dann gerne anderes. Da sind sie, wenn wir miteinandner reden, eigentlich gut drauf. Na ja, denke ich, ich rufe mit meinem Frohgemüt ja auch diese fröhliche Sonnenseite von ihnen ab. Da kommen sie mir nicht mit Belastung. Aber wirklich frohgemut? Sind sie nicht. Bis auf meine Lieblingsmenschen, und davon gibt es dann auch wieder einige. Also kein Grund zur Panik.

Sie tun mir schon leid, und so einen Zauberstaub Frohgemut würde ich doch ganz gern über sie alle ausschütten. "Das wird schon", "Das kriegen wir hin" - diese Sprüche sind edel. Warum so nieder, down, trübgemut? Na ja, darum eben. Was heißt: All der ganze Schlamassel - Klima, Kriege, Flüchtlinge, Neonazis, Mißbrauchsopfer, Insektensterben, Trump, Putin, Erdogan, Ebola, Nullzins, Kapitalismus sowieso, Tausend. Ist schon klar. Aber!

Aber das muss mich ja nicht im Griff haben! Ich lass mir doch von sowas nicht die Stimmung verderben! Ich jedenfalls nicht. Lass ich die ganzen vollgruseligen Ungeheuerlichkeiten in mein Lebensgefühl einbrechen? Ich hebe die flache Hand und halte sie diesem schwarzen Pestgerangel entgegen: "Schon gut, ich überseh euch ja nicht, aber jetzt und hier habt ihr nichts zu suchen. Abgang!" Lässig und entschlossern schiebe ich das alles weg und wende mich - frohgemut - dem Tag zu. Und der Nacht. Und wenn ich hundert Jahre alt werde, sind das immerhin 365x100, also mehr als 36tausend Tage und Nächte. Da mische ich aber so was von den Grundton mit: Frohgemut eben. So soll es sein, such ich mir aus, halt ich mich dran, lieb ich und leb ich.

Amication sagt, dass jeder für sich selbst verantwortlich ist. Das beziehe ich auch auf das Handhaben der Grundstimmung, mit der ich unterweges bin. Wer will ich sein? Wie will ich sein! Wo will ich sein, unterwegs sein? In welchem Großraum? Ich denke schon, dass ich darauf Einfluss habe und Einfluß nehmen kann, dass ich nicht nur den Stimmen und Stimmungen ausgesetzt bin, sondern mich sehr wohl selbst stimmen kann. Und wenn es ein Geschenk ist, nehm ich es dankbar an.

Nicht immer klappt das. Da kann durchaus Dunkles über mich hereinbrechen, und das hat es ja auch immer wieder mal gegeben. Aber wenn ich mich dann berappelt habe, lass ich ihn eben einfach wieder zu, diesen Frohen Mut, lass ich mich wieder frohgemut sein. Hinfallen kommt vor - aufstehen und wieder frohgemut sein auch.

Es gibt ein Wanderlied, in dem finde ich mein Frohgemut wieder. "Es, es, es und es..." Die Zeile mit ihrer Melodie, die es mir angetan hat: "Und wende mich, Gott weiß wohin. Ich will mein Glück probieren...". Und dann marschier ich los.



Montag, 6. Januar 2020

Kinder - Wesen, die sind







In der Weihnachtszeit komme ich nicht dazu, einen neuen Post zu schreiben. Deswegen stelle ich diesen früheren Post vom 31.12.17 als aktuellen Beitrag ein.

*

Alle unsere Wahrnehmungen von der Welt kommen aus uns selbst, und doch liegen vor und hinter ihnen unendlich viele Wahrnehmungen anderer. All derer, die uns wissen ließen, wie dieses und jenes wahrzunehmen sei, und das wir so oder anders von ihnen übernommen haben. Als Kinder haben wir von Anfang an unzählige Informationen zur Weltdeutung erhalten, von den Erwachsenen unserer Zeit. Ihr Wissen um die Welt wurde zur Grundlage unseres Weltverstehens. Und auch wenn wir später entgegen ihren Deutungen anderen und neuen Sichtweisen folgen, ist es doch so, dass die in der Kindheit erfahrende Weltdeutung niemals wirklich verlassen werden kann.

Wie nehmen wir uns selbst wahr? Wer bin ich? Neben vielen anderen Aspekten der Identitätsfrage gehe ich einem besonderen Gedanken nach: Wir lernten und erfuhren als Tatsache des Lebens, als Selbstverständlichkeit unserer Eltern und Großen, wenn sie über uns nachdachten und etwas über uns sagten und etwas zu uns sagten, wir erfuhren als eine selbstverständliche Basisinformation, dass Kinder anders waren als sie – und dass sie anders waren als wir. Wir und sie – sie und wir: das waren zwei verschiedene Welten. Und im Hintergrund war präsent, dass unsere (Kinder)Art zu sein nicht die eigentliche Art zu sein wäre, wie sie den wirklichen und wahren Menschen, den Großen, ihnen also, zukommt. Wie sie meinten.

Nun lag es damals aber nicht an, zu bemerken, dass wir eines Tages auch groß, so wie sie, sein würden. Merkwürdigerweise spielte das einfach keine Rolle. Merkwürdig deswegen, weil ich heute, selbst groß, denke, wir Kinder hätten es von ihren Gesichtern ablesen können: ihr werdet eines Tages auch Große. Das war so aber nicht der Fall. Nein, es war so: wir hier – sie dort.

Dieses Basiswissen vom eigenen Standort – wir hier, im Unterschied zu euch dort –, der zugleich der Standort vieler anderer auch war, aber nur der anderen, die in der gleichen Situation des Lebens waren, also: der anderen Kinder – dieses Basiswissen und vor allem das Gefühl von diesem Standort gingen nach und nach verloren, zu der Zeit, als man selbst erwachsen wurde. Dann galten andere Bezüge, der andere Standort. Und der Kontakt zum Wissen und Fühlen der damaligen Wahrheit riss ab. Und seitdem leben wir in unserer Welt, der Welt der Erwachsenen.

Doch zurück zu der Basis der Kindheit, zu dieser Basis, dem Wissen und dem Gefühl der eigenen Welt, der eigenen Sprache, der eigenen Interpretation – immer anders als die der Großen, immer gleich wie die der Gleichaltrigen. Und immer vorgegeben von den Großen: vorgegeben aber nur insofern, als es das Faktische betrifft, wie dann, wenn etwas vorgegeben ist, das der eigenen Vereinnahmung bedarf: »Das ist die Sonne« musste von uns Kindern zurechtgelegt werden, übersetzt werden in unsere real existierende Welt, transportiert werden in unser Weltbild. »Das ist ein Auto« ebenfalls. Mit allem ging das so. Und auch mit der Aussage: »Das bist Du«, was übersetzt hieß: »Das bin (also) ich«.

Wer aber waren wir? Was wurde uns gesagt? Neben vielem auch, ohne Worte – wir seien Kinder. Nicht Erwachsene. (Das waren ja sie.) Und Kinder, das weiß jeder Erwachsene, entwickeln sich, sie wachsen, sie werden. Sie werden. Was werden Kinder? Sie werden Erwachsene. Eines Tages. Wir erfuhren also: Ihr seid jetzt Kinder – und damit seid ihr Leute, die werden. Die Erwachsene werden. (Und dann sollten wir außerdem und vor allem gute Erwachsene werden, keine bösen, missratenen sondern vorzeigbare, wertvolle, tüchtige, solche, auf die Verlass ist und auf die man stolz sein kann.)
Der Sog zu werden war wie zuckersüßer Sand über uns gestreut, wir nahmen ihn auf und wir wurden.

Ich will damit sagen: Wenn wir Kinder um uns haben, sehen wir sie so, wie wir gesehen wurden: als Wesen, die werden. Und wir sehen sie weniger oder nicht oder ganz und gar nicht als Wesen, die sind. Und dennoch: Als wir selbst Kinder waren, war uns präsent, selbstverständlich, Basis: dass wir sind. Jetzt. Und gleich. Und eben. Wir lebten uns und waren in der Zeit, mit der Zeit, nicht im Gegensatz zur Zeit, nicht im Streit mit der Zeit, nicht jenseits oder vor der Zeit, der eigentlichen Zeit. Wir waren nicht im Werden, sondern im Sein.

Wer ist dieses Kind vor mir? Wer ist dieses Jetztwesen? Das interessiert mich, das ist meine Frage, meine Aufmerksamkeit, meine Intuition, meine Art. Ich habe mich gelöst von der Werden-Perspektive. Ich habe diese Perspektive nicht gänzlich verlassen, aber sie kommt mir nicht zur Unzeit dazwischen, sie hat mich nicht im Griff. Ich habe sie bei Bedarf, ich wende sie an, nicht sie mich. Wer ist also dieses Kind vor mir jetzt?

Ein NochEinBrotKind. KeinHausaufgabenMacheKind. Ein BruderKämpfeKind. EinJammerUndGeschreiKind. Ein MitTierenBehutsamUmgeheKind. Ein MüdeKind. Ein JetztEinschlafeKind. Ein DuHastHierNichtsVerlorenKind. Ein IchBinSchonFertigKind. Ein DannSpielIchEbenGarNichtMehrKind. Ein LaßMichInRuheKind. Ein IchHelfeDirKind. Kein SchnallDichAnKind. Ein TreppengeländerRutscheKind. Ein HonigSchmierKind. Kein ZähnePutzKind. Kein MitDemHundRausgehKind. Ein MeinZahnIstWegKind. Ein IchHabeSchlechtGeträumtKind. Kein HändeWaschKind. Kein FährtVernünftigMitDemRadKind. Ein MirIstKaltKind. Ein WieSpätIstEsKind. Ein WannSindWirDaKind. Ein SagIchNichtKind. Ein HabIchAberWohlKind. Ein KlavierspielenÜbeKind. Ein KarateTrainingKind. Ein BlumenstraussPflückeKind. Ein DiskoBesucheKind. Ein NichtraucherKind. Ein IchGehZumReitenKind. Kein IchHabDenSchlüsselVergessenKind. Ein IchHabeMeinZimmerAufgeräumtKind. Ein DaranHabeIchNichtGedachtKind. Ein DasHabeIchDirMitgebrachtKind. Kein FrühstücksbrotAufesseKind. Ein DasWarIchNichtKind. Ein SpielstDuMitMirKind. Ein KicherKind. Ein IchFreuMichAufKind.

Die Kinder sind Sein-Wesen, nicht Werde-Wesen. Ich sehe sie so und ich begegne ihnen dort: Im Sein, schön oder schrecklich, entspannt oder anstrengend, plus oder minus, egal: im Sein, nicht im Werden. Sie sind im Sein, dort treffe ich sie, dort treffen wir uns. Und: nur dort. Und auch wenn es um Künftiges geht: von dort aus wird die Zukunft gesehen. Anmerkung: Das ist nicht die Hier-und-Jetzt-Position, Leben im Hier und Jetzt, Carpe Diem, Sorge Dich nicht – lebe. Das ist es alles nicht. So etwas ist die nostalgische und immer vergebliche Position von Erwachsenen, die ganz genau wissen, dass sie eben nicht nur in der Gegenwart leben können, sondern die um Entwicklung und Zukunft wissen, die sich wünschen, wünschen, das anders geschehen zu lassen. Hier-und-Jetzt ist eine blasse Fotokopie des bunten und lebendigen Originals, das die Kinder leben.

Wer hat damals erlebt, dass die Großen uns in unserem Sein besuchten, fanden, Kontakt aufnahmen, um mit uns ein Stück in unserem Sein zu wandern, mit uns in unserem Sein zu leben? Nicht ausnahmsweise, an Sonn- und Feiertagen, sondern montags, an Werktagen? Immer? Als Basis ihrer Wahrnehmung von uns? Und wie ist das heute mit den groß gewordenen Kindern, mit uns Kindern von damals? Wie sehen wir uns selbst? Leben wir heute mit uns im Sein oder im Werden? »Ja – ich bin so« oder: »Ich sollte eigentlich so sein, wie ich sein sollte«.

Mit anderen Worten: Sich selbst lieben hat Erinnerungen und Wurzeln. In der Erfahrung, dass wir Sein-Wesen waren, wenn auch alle Erwachsenenwelt uns für Werde-Wesen hielt. Wir waren der Mittelpunkt unserer Welt, tief verwurzelt im Sinn, der so oder anders war, aber er war, in dieser unserer Realität existierend, kein Später, kein Werden. (Bis auf die Ausnahmen, drei Tage vor Weihnachten.) Ich liebe mich so wie ich bin – nicht: so wie ich sein werde. »Lass Dich in Ruhe, lass Dich einfach in Ruhe, Du bist schon ein richtiger Mensch« antworte ich auf die Frage »Wie macht man es, sich zu lieben?«

Und das Werden wird ja nicht übersehen oder verbannt. Es hat nur keine Macht mehr über mich. Es hat seine Bedeutung, und ist Realität, auch, selbstverständlich (wir werden sterben), und es ist wichtig, aber es herrscht nicht mehr, es geschieht: zu seiner Zeit. Ich bin nicht ohne Perspektiven. Aber die Basis ist Innehalten und Merken: Ich bin. In der Beziehung zu mir selbst und zu den anderen. Auch und gerade und sowieso zu den Kindern.

PS:
Aber keine neue Forderung! Wer Kinder nur oder vor allem oder oft oder zu oft oder leider unter der Werden-Perspektive sieht: das ist dann so. Und Punkt. Nichts daran ist falsch oder irgendwie verkehrt. Nur dass es da auch diese andere Möglichkeit gibt, man kann sie hervorkramen, sich erinnern, es gibt eine Einladung. Eine Einladung zum Mitsein im Sosein.