Montag, 13. Mai 2024

Der Schnüffelfuchs

 


Das Selbst-Verantwortungs-Training ist eine amicative Gruppendynamik, die in Gruppensitzungen durchgeführt wird. Das Selbst-Verantwortungs-Training ist auf meiner Website „amication.de“ ausführlich und im Detail beschrieben. Hierbei kommt die Figur des „Garanten“ vor. Der Garant ist ein Teilnehmer, dem die Garanten-Funktion vom Veranstalter des Trainings übertragen wird. Seine Position und seine Aufgaben sind nicht leicht zu verstehen. Darüber hatte ich neulich ein längeres und nachdenkliches Gespräch. Um eine bestimmte Funktion des Garanten besser verständlich zu machen, kam ich auf den „Schnüffelfuchs“.

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Der Schnüffelfuchs

Das Selbst-Verantwortungs-Training hat ausdrücklich keinen Fachmann, Therapeuten, Leiter,Trainer, Facilitator vorgesehen oder installiert. Es gibt nur Teilnehmer auf gleicher Augenhöhe. Die Verantwortung für das Erleben beim Selbst-Verantwortungs-Training liegt voll und ganz – zu 100 Prozent – bei jedem einzelnen Teilnehmer selbst. Diese ungeschmälerte eigene Verantwortung für das Erleben ist das Herzstück der amicativen Gruppenarbeit, die Selbst-Verantwortungs-Training heißt.

Wenn alle Teilnehmer gleichwertigen Status haben: Wozu braucht es da noch einen „Garanten“?

Nun: Der Garant hat mehrere Funktionen (siehe Konzept). Er hat auch eine spezielle Aufgabe: Da ist er ... ein Schnüffelfuchs.

Dem Schnüffelfuchs fällt auf, wenn es beim Gruppengeschehen stark, sehr stark, zu stark nicht mehr amicativ riecht. Sondern zu sehr nach Oben-Unten, nach Moralisieren, nach objektiv daherkommendem Rechthaben, nach Missionieren, nach Pädagogik. Seine feine amicative Nase signalisiert es ihm. Das kann er eine Weile aushalten und dann sagt er nichts. Aber es kann ihm auch zu viel werden, subjektiv. Dann gibt er Laut und bellt. Dann verbellt er den nicht-amicativen Geruch und Geist im Gruppenraum:

„Ich rieche, erkenne, stelle fest, merke, dass hier kein ausreichender Platz mehr für den amicativen Geist ist. Die Luft ist jetzt zu voll von pädagogischem Geist und Geruch. Was bedeutet, dass hier kein amicatives Zusammentreffen mehr stattfindet. Das stelle ich mit meiner geschulten amicativen Nase fest.“

Das ist keine objektive Feststellung. Es ist eine persönliche, subjektive Wahrnehmung. Die aus seiner Erfahrung und Verwurzelung in der amicativen Welt kommt. Und genau so soll es sein.

Der Schnüffelfuchs sagt das nun nicht mit eigenen Worten, sondern mit dem dafür vorher festgelegten Formelsatz:

Ich spreche als Garant. Die amicative Übung ist beendet.“

Damit löst er nicht die Zusammenkunft auf. Er sagt damit nur: Dies hier ist keine amicative Zusammenkunft mehr.

Auch nach dieser Feststellung kann sich jeder Teilnehmer weiterhin als amicativ einstufen und erleben. Der Schnüffelfuchs spricht niemandem seine Selbsteinschätzung ab. Er stellt nur fest, dass die Zusammenkunft (Gruppe) jetzt keine amicative Zusammenkunft mehr ist. Das bedeutet: Es findet kein Selbst-Verantwortung-Training mehr statt. Sondern? Eine wie auch immer geartete Zusammenkunft, nur eben keine amicative.

Ob das wirklich so stimmt? Ob er „richtig“ gerochen hat? Das wird gar nicht erwogen. Es wird mit dem Schnüffelfuchs lediglich jemand installiert, der dieses Gebell vorzunehmen hat – wenn er das denn so subjektiv wahrnimmt und wenn er bellen will. Wenn dieser Fuchs also bellt, dann ist die Übung keine amicative Übung mehr. Egal, wie andere Teilnehmer das finden. Punktum!

Der Garant – der Schnüffelfuchs – wurde von mir unter anderem (der Garant hat noch andere Aufgaben) erdacht und installiert, um den Teilnehmenden diese Sicherheit zu geben: Jederzeit zu wissen, dass, ob und wie lange sie auf einer amicativen Veranstaltung sind – und wann sie das nicht mehr sind. Nach der Feststellung des Garanten, dass die Übung als amicative Übung beendet ist, können die Teilnehmenden bleiben oder nach Hause fahren – aber sie wissen Bescheid.

Kann man den pädagogischen Geist, den der Schnüffelfuchs festgestellt und verbellt hat, wieder vertreiben? Kann das Selbst-Verantwotungs-Training wieder aufgenommen werden? Das Konzept lässt das offen.

Wie könnte es weitergehen? Man kann eine Unterbrechung verabreden und alle beraten. Vielleicht soll nach einer Pause das amicative Üben wieder beginnen. Versuchen, ob das geht, mal sehen, was der Schnüffelfuchs dann riecht. Dann könnte das ganze Theater von vorn anfangen. Oder der Fuchs hält die Schnauze, und es ist mithin wieder ausreichend amicativer Geist im Raum. Vom Schnüffelfuchs so eingestuft. Er allein hat die Autorität. Ein „Es ist aber nicht amicativ“ oder "Es ist aber doch amicativ" von anderen Teilnehmenden ist irrelevant.

Vielleicht ist derjenige, der den pädagogischen Geruch verbreitet hat, ja auch abgereist. Oder er hat amicatives Kraut gefuttert oder sitzt einfach nur still dabei. Wie auch immer – das Leben ist bunt und vielfältig!

 

Montag, 6. Mai 2024

Schoolwatch, Teil 3: Der Brief

 


Schoolwatch

3. Teil einer dreiteiligen Serie.*

 

Teil 3: Der Brief

Doch meistens werden die Eltern von Schoolwatch das Kind nicht kennen. Und so ist es auch in diesem Fall. Niemand weiß, wie ein Telefonat von fremden Eltern bei Jana (und ihren Eltern) ankommen wird. Dasselbe würde für einen Besuch gelten, der anstelle eines Anrufs auch immer in Erwägung gezogen wird.

Doch neben der Möglichkeit, Jana anzurufen oder sie zu besuchen, gibt es ja den Schoolwatch-Brief. Es wird ein Gruß verschickt, ein paar Zeilen, die deutlich machen, dass Jana nicht allein steht und dass es Menschen gibt, die zu ihr halten und die aussprechen, dass das, was passiert ist, Unrecht war. 

Ein Anruf oder ein Besuch kommen nur dann in Betracht, wenn das Kind und seine Eltern der Schoolwatch-Gruppe bekannt sind. Dies ist schon Einmischung in persönliche Angelegenheiten genug. Mit einem Brief aber von den unbekannten Eltern der Initiative stellt sich die Frage nach der Einmischung eindringlich: Wie wird der Brief ankommen?

Was sind die Risiken und Chancen? Wusste Jana überhaupt etwas von dem Anruf ihrer Freundin bei Schoolwatch? Und wenn sie es wusste, war sie damit einverstanden? Wird Jana den Brief als Anmaßung und Bloßstellung zurückweisen und sich obendrein noch vorgeführt vorkommen? Oder erlebt Jana den Brief als Überraschung, die ihr hilft? Hat sie ihn erwartet, herbeigewünscht, und freut sie sich über dieses Symbol von Zuwendung und Trost?

Die Eltern der Initiative haben eine entschiedene, spezifische Grundposition: Sie sehen die Gleichwertigkeit des Erwachsenen und des Kindes. Sie wissen darum, dass personale Begegnungen auf einer gleichwertigen Basis stets die Chance des Gelingens und das Risiko des Scheiterns enthalten. Sie haben keine pädagogische Absicht bei ihrer Aktion. Sie bieten ihre Hilfe und ihren Trost an, weil sie nicht tatenlos zusehen können, wenn vor ihren Augen Leid geschieht.

Und sie wissen darum, dass ihre Intervention sowohl das Leid verringern als auch vergrößern kann. Sie haben sich diesem Dilemma gestellt und sich nach reiflichem Überlegen dafür entschieden, auf jeden Fall einen Versuch zu machen: Auf den gedemütigten Menschen zuzugehen. Hierzu fühlen sie sich um ihrer selbst willen verpflichtet, und es entspricht ihrer Vorstellung von Mitmenschlichkeit.

Der Schoolwatch-Brief wird also von Frau Burger geschrieben und verschickt:

    Liebe Jana,
    wir haben gehört, dass Dich Herr Meier ausgelacht
    hat. Wir finden das nicht richtig. Jeder kann mal eine
    Antwort nicht wissen, auch in Mathe. Es tut uns leid,
    was Dir da passiert ist. Ruf uns an, wenn Du willst.
    Wir stehen auf Deiner Seite.
    Herzliche Grüße!
    Reinhilde Burger von Schoolwatch

Wenn Jana den Schoolwatch-Brief ablehnt, wird ihr Leid vergrößert. Wenn sie jedoch einschwingt, kann sich ihre Belastung verringern. Bei diesem ersten Brief im Jahr 2000 waren sich alle Eltern der Initiative dieses Risikos bewusst. Würde ihr Brief helfen? Nun, Jana hatte sich gefreut, den Brief ihrer Freundin gezeigt und Frau Burger am nächsten Tag angerufen.

Die erste Intervention von Schoolwatch im September 2000 war ein Erfolg – und zigtausende solcher gelungenen Einmischungen sind seitdem geschehen. Die Briefe, Anrufe und Besuche von Schoolwatch sind eine feste Komponente im Schulleben geworden, von den Kindern heiß herbeigewünscht und immer voller Trost und heilender Wirkung.

Die Anfangsschwierigkeiten sind heute längst überwunden, Schoolwatch ist renommiert und hat sich zu einer wirksamen Kraft gegen das Schulleıd entwickelt. Und auch immer mehr Lehrer akzeptieren Schoolwatch – das Konzept von Schoolwatch, den Lehrern die Wahrheit der Kinder ohne Herabsetzung und Anschuldigung nahezubringen, ist aufgegangen.


* Aus meinem Buch „Schule mit menschlichem Antlitz“, Münster 2001, S. 53ff.