Montag, 27. Mai 2024

Selbst-Verantwortungs-Training: Moralisierungsfrei sein

 

 

In den beiden letzten Posts habe ich über das Selbst-Verantwortungs-Training geschrieben. Das Selbst-Verantwortungs-Training ist eine amicative Gruppendynamik, die in Gruppensitzungen durchgeführt wird, es ist auf meiner Website „amication.de“ ausführlich und im Detail beschrieben. Es ging in den beiden Posts um die Figur des "Garanten". Heute stelle ich ein charakteristisches Element dieser amicativen Gruppendnamik vor: das Bemühen darum, moralisierungsfrei miteinander umzugehen.

*

Moralisierungsfrei sein

Das objektiv gefärbte Urteil über den anderen enthält ein destruktives Element: es setzt den objektiven Urteiler über den Beurteilten. Der Beurteilte fühlt sich unten, klein gemacht, demoralisiert.

Wenn in der Gruppensitzung Urteilen mit objektivem Anspruch stattfindet, wird eine Erlebniswelt gestützt, die es aber gerade zu überwinden gilt. Nämlich das besserwisserische „Ich bin für Dich verantwortlich“ und „Ich weiß besser als Du, was für Dich gut ist“. 

Solche objektiven Aussagen über den anderen enthalten ein deutliches Element des Moralisierens: den erhobenen Zeigefinger, den Ton des Besseren, die Missachtung des Nicht-so-Guten, die überlegene Art des Aufgeklärten, Informierten,Toleranten, psychologisch Geschulten, des Klügeren, der nachgibt. Immer ein Element, das dem anderen die schlechtere Position zuschiebt.

Stets, wenn solches Moralisieren stattfindet, lässt sich eine spezifische Blockierung in der Gruppe wahrnehmen. Die tief eingeprägten, in der Kindheit erlernten Erstarrungen und Ohnmachtsgefühle schwappen heran, ungute Gefühle breiten sich in der Gruppe aus. 

Wenn andere Teilnehmende dann noch in das objektivierende Urteilen einfallen („das hast Du aber wirklich gesagt“), anderen jedoch die selbstverantwortliche, vom Moralisieren freie Art des Umgangs bewusst und wichtig ist, kommt es zur Polarisierung beider Systeme.

Das wird vor allem zu Beginn nicht immer offen ausgetragen. Es schwelt und kommt erst später zum Ausbruch. Es kann dann bei kleinstem Anlass ein wütendes Sich-Wehren gegen ein objektivierendes Urteilen erfolgen, das alle zunächst verwirrt und völlig überzogen erscheint.

Danach ist die Problematik des Moralisierens jedoch endgültig offengelegt, und die Teilnehmenden gehen sensibler mit dem Phänomen um. Sie bemühen sich, Moralisieren zu unterlassen beziehungsweise es sofort zurückzuweisen. Das Moralisieren ist dabei nicht an Formulierungen gebunden. Die können sich sehr freundlich geben. Moralisieren ist eine Sache der psychischen Begegnung, eine Sache des Tons, des Gefühls und der Einstellung.

Es kann auch geschehen, dass der eine oder andere am Moralisieren bewusst festhält, da er vom Urteilen über Menschen mit objektivem Anspruch nicht abrücken will. Im Unterschied zu denen, die unbeabsichtigt immer wieder in das erlernte Moralisieren zurückfallen und die sich Schritt für Schritt davon zu befreien beginnen.

Es wird dann klar, dass so jemand das Selbstverantwortungsprinzip nicht übernehmen kann und will. Entweder beendet er seine Teilnahme vorzeitig – bereichert um diese Erkenntnis – , oder er erlebt gemeinsam mit den anderen die Konfrontation oder auch Koexistenz beider Systeme.

 

*

Das diesjährige Selbst-Verantwortungs-Taining findet vom15. bis 17. November 2024 in Sprockhövel bei Wuppertal statt. Ich werde dabei der Garant sein. Anmeldungen können über meine Website "amication.de" unter "Seminare" vorgenommen werden.






 

 

Montag, 20. Mai 2024

Garant im Selbst-Verantwortungs-Training

 

 

Das Selbst-Verantwortungs-Training ist eine amicative Gruppendynamik, die in Gruppensitzungen durchgeführt wird. Das Selbst-Verantwortungs-Training ist auf meiner Website „amication.de“ ausführlich und im Detail beschrieben. Hierbei kommt die Figur des „Garanten“ vor. Der Garant ist ein Teilnehmer, dem die Garanten-Funktion vom Veranstalter des Trainings übertragen wird. Seine Position und seine Aufgaben sind nicht leicht zu verstehen. Um eine bestimmte Funktion des Garanten besser verständlich zu machen, habe ich im letzten Post über den „Schnüffelfuchs“ geshrieben. Heute stelle ich die gesamte Aufgabe des Garanten vor.

*

Selbst-Verantwortungs-Training - Der Garant

Niemand weiß mit Verbindlichkeit für einen anderen, was für ihn gut ist. Das Prinzip der Selbstverantwortung lässt keinen Besserwissenden für Wachstum und Entwicklung zu als den jeweils Betroffenen selbst. Jeder Teilnehmende ist also sein eigener Selbst-Verantwortungs-Trainer. Das schließt nicht aus, dass man sich von anderen helfen lassen kann, aber auch hierüber entscheidet ein jeder selbst. Und während des gesamten Hilfsprozesses bleibt jeder selbst am Regiepult, auch wenn er einem anderen grünes Licht gibt, hilfreiche Ideen einzubringen. Selbst-Verantwortungs-Training hat somit keinen Leiter, Moderator, Facilitator oder sonstigen Trainer.

Selbst-Verantwortungs-Training ist jedoch nicht nur eine Selbsthilfegruppe ohne Leiter. Beim Selbst-Verantwortungs-Training ist eine Person dabei, die das Selbstverantwortungsprinzip verinnerlicht hat. Sie wird „Garant“/„Garantin“ genannt. Der Garant fühlt die Selbstverantwortungsidee als existenzielle Größe in sich. Seine Anwesenheit bedeutet, dass durch eine (seine) Person das Selbstverantwortungsprinzip unter den hier zusammengekommenen Menschen präsent ist.

Der Garant ist nicht Garant in dem Sinn, dass er den anderen Teilnehmenden dafür einzustehen hätte, dass sie dies oder das lernen. Er ist nicht Garant für persönliches Wachstum und Entwicklung. Hierfür liegt die Kompetenz bei jedem einzelnen selbst. Er ist Garant für die Selbstverantwortungsidee: Wenn er teilnimmt, wird diese Idee verlässlich durch seine Person präsent sein. Auch andere Teilnehmende können sich als Garanten erweisen oder sich zu Garanten entwickeln.

Nur: Um ein Selbst-Verantwortungs-Training zu realisieren und nicht eine andere psychodynamische Gruppe muss (mindestens) von einer Person die Selbstverantwortungsidee verstanden und verinnerlicht worden sein.

Hierbei ist es nicht von Bedeutung, wie sich diese psychische Disposition in konkretem Verhalten äußert. Der Garant wird das tun oder nicht tun, was er gerade tun oder nicht tun will – hier ist er ein Teilnehmender wie jeder andere. Entscheidend ist seine (Selbstverantwortungs)Haltung.

Es ist gänzlich die Sache der anderen Teilnehmenden, wie sie mit dem Garanten, seiner Haltung und seinem Verhalten umgehen wollen. So wie es auch seine subjektive Sache ist, wie er mit ihnen umgehen will. Er ist nicht der Leiter der Gruppe: er ist ein Teilnehmender! Aber eben ein Teilnehmender, der diese spezifische Haltung verinnerlicht hat und der damit das psychische Klima der Gruppe um diese Dimension erweitert.

Erfahrungsgemäß gibt es in der Gruppe Probleme mit der Funktion des Garanten. Immer wieder wird er doch als Leiter gesehen, als jemand, der den anderen zu mehr Selbstverantwortlichkeit verhelfen kann und soll. Es lässt sich jedoch ebenfalls immer wieder feststellen, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt das Verständnis für die Funktion des Garanten spürbar vorhanden und damit die Sichtweise eines Leiters deutlich überwunden ist. Mal früher, mal später. Dies geht einher mit dem zunehmenden Gespür der Teilnehmenden für ihre Selbstverantwortung, die in Wirklichkeit ja niemals von einem anderen kommen kann, sondern nur in jedem selbst lebt und nur von jedem selbst erspürt werden kann.


 

Montag, 13. Mai 2024

Der Schnüffelfuchs

 


Das Selbst-Verantwortungs-Training ist eine amicative Gruppendynamik, die in Gruppensitzungen durchgeführt wird. Das Selbst-Verantwortungs-Training ist auf meiner Website „amication.de“ ausführlich und im Detail beschrieben. Hierbei kommt die Figur des „Garanten“ vor. Der Garant ist ein Teilnehmer, dem die Garanten-Funktion vom Veranstalter des Trainings übertragen wird. Seine Position und seine Aufgaben sind nicht leicht zu verstehen. Darüber hatte ich neulich ein längeres und nachdenkliches Gespräch. Um eine bestimmte Funktion des Garanten besser verständlich zu machen, kam ich auf den „Schnüffelfuchs“.

*

Der Schnüffelfuchs

Das Selbst-Verantwortungs-Training hat ausdrücklich keinen Fachmann, Therapeuten, Leiter,Trainer, Facilitator vorgesehen oder installiert. Es gibt nur Teilnehmer auf gleicher Augenhöhe. Die Verantwortung für das Erleben beim Selbst-Verantwortungs-Training liegt voll und ganz – zu 100 Prozent – bei jedem einzelnen Teilnehmer selbst. Diese ungeschmälerte eigene Verantwortung für das Erleben ist das Herzstück der amicativen Gruppenarbeit, die Selbst-Verantwortungs-Training heißt.

Wenn alle Teilnehmer gleichwertigen Status haben: Wozu braucht es da noch einen „Garanten“?

Nun: Der Garant hat mehrere Funktionen (siehe Konzept). Er hat auch eine spezielle Aufgabe: Da ist er ... ein Schnüffelfuchs.

Dem Schnüffelfuchs fällt auf, wenn es beim Gruppengeschehen stark, sehr stark, zu stark nicht mehr amicativ riecht. Sondern zu sehr nach Oben-Unten, nach Moralisieren, nach objektiv daherkommendem Rechthaben, nach Missionieren, nach Pädagogik. Seine feine amicative Nase signalisiert es ihm. Das kann er eine Weile aushalten und dann sagt er nichts. Aber es kann ihm auch zu viel werden, subjektiv. Dann gibt er Laut und bellt. Dann verbellt er den nicht-amicativen Geruch und Geist im Gruppenraum:

„Ich rieche, erkenne, stelle fest, merke, dass hier kein ausreichender Platz mehr für den amicativen Geist ist. Die Luft ist jetzt zu voll von pädagogischem Geist und Geruch. Was bedeutet, dass hier kein amicatives Zusammentreffen mehr stattfindet. Das stelle ich mit meiner geschulten amicativen Nase fest.“

Das ist keine objektive Feststellung. Es ist eine persönliche, subjektive Wahrnehmung. Die aus seiner Erfahrung und Verwurzelung in der amicativen Welt kommt. Und genau so soll es sein.

Der Schnüffelfuchs sagt das nun nicht mit eigenen Worten, sondern mit dem dafür vorher festgelegten Formelsatz:

Ich spreche als Garant. Die amicative Übung ist beendet.“

Damit löst er nicht die Zusammenkunft auf. Er sagt damit nur: Dies hier ist keine amicative Zusammenkunft mehr.

Auch nach dieser Feststellung kann sich jeder Teilnehmer weiterhin als amicativ einstufen und erleben. Der Schnüffelfuchs spricht niemandem seine Selbsteinschätzung ab. Er stellt nur fest, dass die Zusammenkunft (Gruppe) jetzt keine amicative Zusammenkunft mehr ist. Das bedeutet: Es findet kein Selbst-Verantwortung-Training mehr statt. Sondern? Eine wie auch immer geartete Zusammenkunft, nur eben keine amicative.

Ob das wirklich so stimmt? Ob er „richtig“ gerochen hat? Das wird gar nicht erwogen. Es wird mit dem Schnüffelfuchs lediglich jemand installiert, der dieses Gebell vorzunehmen hat – wenn er das denn so subjektiv wahrnimmt und wenn er bellen will. Wenn dieser Fuchs also bellt, dann ist die Übung keine amicative Übung mehr. Egal, wie andere Teilnehmer das finden. Punktum!

Der Garant – der Schnüffelfuchs – wurde von mir unter anderem (der Garant hat noch andere Aufgaben) erdacht und installiert, um den Teilnehmenden diese Sicherheit zu geben: Jederzeit zu wissen, dass, ob und wie lange sie auf einer amicativen Veranstaltung sind – und wann sie das nicht mehr sind. Nach der Feststellung des Garanten, dass die Übung als amicative Übung beendet ist, können die Teilnehmenden bleiben oder nach Hause fahren – aber sie wissen Bescheid.

Kann man den pädagogischen Geist, den der Schnüffelfuchs festgestellt und verbellt hat, wieder vertreiben? Kann das Selbst-Verantwotungs-Training wieder aufgenommen werden? Das Konzept lässt das offen.

Wie könnte es weitergehen? Man kann eine Unterbrechung verabreden und alle beraten. Vielleicht soll nach einer Pause das amicative Üben wieder beginnen. Versuchen, ob das geht, mal sehen, was der Schnüffelfuchs dann riecht. Dann könnte das ganze Theater von vorn anfangen. Oder der Fuchs hält die Schnauze, und es ist mithin wieder ausreichend amicativer Geist im Raum. Vom Schnüffelfuchs so eingestuft. Er allein hat die Autorität. Ein „Es ist aber nicht amicativ“ oder "Es ist aber doch amicativ" von anderen Teilnehmenden ist irrelevant.

Vielleicht ist derjenige, der den pädagogischen Geruch verbreitet hat, ja auch abgereist. Oder er hat amicatives Kraut gefuttert oder sitzt einfach nur still dabei. Wie auch immer – das Leben ist bunt und vielfältig!

 

Montag, 6. Mai 2024

Schoolwatch, Teil 3: Der Brief

 


Schoolwatch

3. Teil einer dreiteiligen Serie.*

 

Teil 3: Der Brief

Doch meistens werden die Eltern von Schoolwatch das Kind nicht kennen. Und so ist es auch in diesem Fall. Niemand weiß, wie ein Telefonat von fremden Eltern bei Jana (und ihren Eltern) ankommen wird. Dasselbe würde für einen Besuch gelten, der anstelle eines Anrufs auch immer in Erwägung gezogen wird.

Doch neben der Möglichkeit, Jana anzurufen oder sie zu besuchen, gibt es ja den Schoolwatch-Brief. Es wird ein Gruß verschickt, ein paar Zeilen, die deutlich machen, dass Jana nicht allein steht und dass es Menschen gibt, die zu ihr halten und die aussprechen, dass das, was passiert ist, Unrecht war. 

Ein Anruf oder ein Besuch kommen nur dann in Betracht, wenn das Kind und seine Eltern der Schoolwatch-Gruppe bekannt sind. Dies ist schon Einmischung in persönliche Angelegenheiten genug. Mit einem Brief aber von den unbekannten Eltern der Initiative stellt sich die Frage nach der Einmischung eindringlich: Wie wird der Brief ankommen?

Was sind die Risiken und Chancen? Wusste Jana überhaupt etwas von dem Anruf ihrer Freundin bei Schoolwatch? Und wenn sie es wusste, war sie damit einverstanden? Wird Jana den Brief als Anmaßung und Bloßstellung zurückweisen und sich obendrein noch vorgeführt vorkommen? Oder erlebt Jana den Brief als Überraschung, die ihr hilft? Hat sie ihn erwartet, herbeigewünscht, und freut sie sich über dieses Symbol von Zuwendung und Trost?

Die Eltern der Initiative haben eine entschiedene, spezifische Grundposition: Sie sehen die Gleichwertigkeit des Erwachsenen und des Kindes. Sie wissen darum, dass personale Begegnungen auf einer gleichwertigen Basis stets die Chance des Gelingens und das Risiko des Scheiterns enthalten. Sie haben keine pädagogische Absicht bei ihrer Aktion. Sie bieten ihre Hilfe und ihren Trost an, weil sie nicht tatenlos zusehen können, wenn vor ihren Augen Leid geschieht.

Und sie wissen darum, dass ihre Intervention sowohl das Leid verringern als auch vergrößern kann. Sie haben sich diesem Dilemma gestellt und sich nach reiflichem Überlegen dafür entschieden, auf jeden Fall einen Versuch zu machen: Auf den gedemütigten Menschen zuzugehen. Hierzu fühlen sie sich um ihrer selbst willen verpflichtet, und es entspricht ihrer Vorstellung von Mitmenschlichkeit.

Der Schoolwatch-Brief wird also von Frau Burger geschrieben und verschickt:

    Liebe Jana,
    wir haben gehört, dass Dich Herr Meier ausgelacht
    hat. Wir finden das nicht richtig. Jeder kann mal eine
    Antwort nicht wissen, auch in Mathe. Es tut uns leid,
    was Dir da passiert ist. Ruf uns an, wenn Du willst.
    Wir stehen auf Deiner Seite.
    Herzliche Grüße!
    Reinhilde Burger von Schoolwatch

Wenn Jana den Schoolwatch-Brief ablehnt, wird ihr Leid vergrößert. Wenn sie jedoch einschwingt, kann sich ihre Belastung verringern. Bei diesem ersten Brief im Jahr 2000 waren sich alle Eltern der Initiative dieses Risikos bewusst. Würde ihr Brief helfen? Nun, Jana hatte sich gefreut, den Brief ihrer Freundin gezeigt und Frau Burger am nächsten Tag angerufen.

Die erste Intervention von Schoolwatch im September 2000 war ein Erfolg – und zigtausende solcher gelungenen Einmischungen sind seitdem geschehen. Die Briefe, Anrufe und Besuche von Schoolwatch sind eine feste Komponente im Schulleben geworden, von den Kindern heiß herbeigewünscht und immer voller Trost und heilender Wirkung.

Die Anfangsschwierigkeiten sind heute längst überwunden, Schoolwatch ist renommiert und hat sich zu einer wirksamen Kraft gegen das Schulleıd entwickelt. Und auch immer mehr Lehrer akzeptieren Schoolwatch – das Konzept von Schoolwatch, den Lehrern die Wahrheit der Kinder ohne Herabsetzung und Anschuldigung nahezubringen, ist aufgegangen.


* Aus meinem Buch „Schule mit menschlichem Antlitz“, Münster 2001, S. 53ff.