Montag, 28. April 2025

Leidzufügen und Elterntrost

 


 

Wenn Eltern sich durchsetzen, gibt es oft Leid und Tränen. Ein immer wiederkehrendes Thema auf meinen Vorträgen. In meinem Buch „Kinder sind wunderbar!“ schreibe ich hierzu: *


Dieses Leidzufügen beim Durchsetzen ist für die Eltern schwer zu ertragen. Wo sie doch Freudebringer sein wollen. Aber wenn wir das Leid, das wir bei den Kindern verursachen, schon nicht vermeiden können, so gibt es doch wenigstens einen Trost für uns Eltern. Gefunden bei einem großen Vorbild. Die Vorgänge, die ich gleich erzähle, kennen Sie. Ich übertrage sie in eine ungewohnte Perspektive. 

»Hier nicht, macht das woanders.« Streit an einem Sabbat im Tempel in Jerusalem vor 2000 Jahren. Jesus ist nicht begeistert. Die Händler sollen woanders hingehen. »Lass den Unfug, Jesus«, sagen sie, »wir müssen hier verkaufen. Unsere Souvenirs, Ansichtskarten und Sticker. Wir verdienen damit unser Geld und ernähren so unsere Familien.«

»Die Leute kommen hierher, zum Tempel«, fahren die Händler fort, »da ist viel Publikum, und sie kommen nicht morgen, sondern heute am Sabbat.« »Das ist ein heiliger Ort und ein heiliger Tag«, sagt Jesus nachdrücklich. »Ja, für Dich, Jesus, aber wir müssen hier unsere Geschäfte machen, Geldwechseln und so weiter. Jetzt geh weg, Du machst die Kunden verrückt, Du nervst.«

Jesus wird ärgerlich. Er hat freundlich mit ihnen geredet, aber das bringt nichts, die Geldwechsler sehen es nicht ein. Die Geldwechsler könnten ja auch gut finden, was Jesus sagt. Könnten! Tun sie aber nicht. Die Kinder könnten ja auch gut finden, was die Eltern sagen. Könnten! Tun sie aber nicht.

Jesus’ Ärger macht ihn lauter, er schreit die Händler und Geldwechsler an. Die sind entsetzt. Alle Leute sind verschreckt und ziehen sich zurück. Nichts geht mehr, kein Anhänger wird mehr verkauft, kein Geld mehr gewechselt.

Aber die Händler geben nicht auf, sie drängen ihn zurück. Da wird Jesus wütend, er greift nach einer Peitsche, schmeißt ihre Verkaufstische um und drischt auf sie ein. Er verursacht ein riesiges Getümmel – durch ihn entsteht Leid.

Jesus ist für viele Trost und Erlösung. Wie jeder von uns hat er aber auch seine Werte und Grenzen. Zu denen er steht und die er so gut es geht auch durchsetzt. Dabei entsteht durchaus Leid – wie bei den Eltern, wenn sie sich den Kindern gegenüber durchsetzen.

Jesus hat wie alle Kinder auch seine Eltern aufgeregt. Als er zwölf war, haben ihn seine Eltern einmal lange gesucht, er war drei Tage weg. Schließlich fanden sie ihn, und seine Mutter stellte ihn zur Rede:

»Kind, wie konntest Du uns das antun? Dein Vater und ich haben Dich voll Angst gesucht!« (So steht es in der Bibel.) Jesus bekam nicht mit, welches Leid er verursacht hatte. Drei Tage lang hatte er die Eltern versetzt, so vertieft war er in die Diskussionen im Tempel.

Er fragte nur aus seinem Kinderkosmos heraus: »Warum habt Ihr mich gesucht? Wusstet Ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?« Aber »sie verstanden das Wort nicht, das er zu Ihnen sagte«. Kinderkosmos eben. Marias und Josephs Schmerz und ihr Leid der letzten drei Tage wird das nicht gemildert haben, auch wenn Maria »alle diese Wort in ihrem Herzen behielt«.

Und wenn Jesus das passiert ist, wenn auch von ihm Leid ausging, von diesem Garanten und Symbol der Liebe und des Friedens, »dann«, sage ich den Eltern, »seid nicht so besorgt, wenn auch von Euch Leid ausgeht.«



* H.v.S., Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen, Münster 2023, S. 118 ff.


 

Montag, 21. April 2025

Aber mit ihrem eigenen Kopf

 


"Es ist doch gut, wenn man alles erklärt. Immer wieder. Das hab ich von Anfang an gemacht. Aber jetzt sind die Zwillinge in der Schule und wollen endlos diskutieren. Ich bin oft an meiner Grenze. Manchmal schaue ich nachdenklich zu anderen Eltern und werde neidisch. Die ordnen einfach an: Ab in die Wanne! Das klappt dann auch. Bei mir gibts da endlose Diskussionen. Aber das ist doch richtig. Was meinen Sie?

Mit diesem ausuferndem Eingehen auf die Kinder habe ich nichts im Sinn. Mit Diskussionen schon. Aber im Rahmen. Den setze ich. Die Wanne muss eben sein. Wie zig andere Sachen auch. Sie muss sein, weil ich das so will. Weil ich das richtig finde. Weil ich nicht der Dackel meiner Kinder bin.

Die Kinder sind schon die Gelackmeierten. Klarer Fall. Sie wollen keine Wanne, aber ich. Ich versuche, sie mitzunehmen, achtsam mit ihren Wünschen umzugehen, wie das heute so schön heißt. Aber eben im Rahmen, in meinem Rahmen. Und ich habe die Macht: die Wanne gehört mir, und die Kinder – auch. Nicht wirklich, schon klar. "Also rein mit Euch!" Pronto!

Diese ganze Verschleierungssalbaderei der modernen Pädagogik und der sensiblen neuen Eltern: Das rauscht doch gnadenlos an der Realität vorbei. Und das ist auch einfach extrem anstrengend. Die Mutter wird neidisch. Welcher Lehre ist sie da aufgesessen? So einer Mischung aus achtsam, antiautoritär, seelenheilkundig. Na ja, solche Eltern gibt es zuhauf. Aber diese Mutter fragt mich ja, sie ist am Limit, sie sucht Hilfe. Was kann ich ihr geben?

Ich halte ihr nicht meine Position unter die Nase. Das ist ja Feindbild und geht nicht für sie. Ein "Ab in die Wanne!" ist nicht ihre Welt. Ich versuche lieber, ihr einen versöhnlichen Gedanken zu zeigen, einen, der sie mit sich selbst in Frieden bringt.

Ich sage zu ihr: Sie sind halt eine Erklärerin. Solche Eltern gibt es. Bei jeder Elternart gibt es Leichtes und Schweres. Es gibt nicht eine Art, die immer nur Lächeln und Folgsamkeit erreicht. Es gibt die Gegensätze - Wanne ja / Wanne nein - , und es gibt verschiedene Arten, damit umzugehen. Man kann im Elternklub der Diskutierer sein ("Schau mal ..."), oder der Anordner ("Rein da!"), oder der Nachgeber ("Ok, heute keine Wanne"), oder der Schlaumeier (So wie die heute drauf sind, wird geduscht), oder der Abgeber ("Mach Du das mit den Kindern"). Und so weiter.

Sie wissen ja, wo Sie da unterwegs sind. Also. Dann diskutieren Sie. Auch endlos. Und stopfen die Kinder schließlich auch gegen deren Willen ins Wasser. Und jetzt kommt das, was ich Ihnen sagen will: Dabei müssen Sie absolut kein schlechtes Gewissen haben. Sie tun doch, was Sie können. Sie erhalten aber keine Zustimmung zu Ihren Argumenten. So ist es. Aber: Sie wollen doch den eigenen Kopf Ihrer Kinder. Den haben Sie bekommen. Der sagt zwar Nein zu Ihrem Begehren. Aber: Er ist da. Ihre Kinder steigen mit ihrem eigenen Kopf ins Wasser. Unzufrieden, gezwungen, wütend - aber mit ihrem eigenen Kopf. 

 

aus:

H.v.S., Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen, Münster 2023, S. 157 ff. 

 

Montag, 14. April 2025

... und der Baum sieht glücklich aus.

 


Der Kletterbaum ist eine alte Eiche mit wunderschönen Kletterästen. Für große und für kleine Kinder. Ylvi ist 4, wir kommen zum Kletterbaum. Der Stamm ist für das Kind zu mächtig, die Äste sind unerreichbar. „Ich komm nicht dran.“ Ich bekomme das mit, bin aber im Gespräch mit ihrer Mutter Anna Maria. Auch sie bekommt das mit, ist aber im Gespräch mit mir. Ylvis Tonlage ist deutlich. Sie will nicht den Baum, denke ich, sie will Kletter-Event. Meine Wahrnehmung. In Resonanz mit ihren Tönen aus dem Anspruchsland.

Wir Erwachsene sehen uns kurz an und setzen unser Gespräch fort. Ylvi hängt irgendwie am Stamm fest, kein Ast erreichbar, zufrieden sieht sie nicht aus. Sollen wir uns nicht doch kümmern? Oder sollen wir sie ihre Erfahrungen selbst machen lassen? Also uns raushalten, damit sie ihre eigenen Möglichkeiten, Wege, Umwege, Unwege, Dochwege kennenlernt? Damit sie lernt, überhaupt? Mir sind derartige Überlegungen zum Besten der Kinder bekannt, nur zu gut bekannt. Die Situation ist für so eine pädagogische entwicklungsfördernde Aktion geradezu klassisch. Raushalten zum Besten des Kindes. Aber ich bin da ganz woanders.

Ich nehme sie und mich jenseits ihrer Töne und jenseits dieser Förderüberlegungen wahr. Ich bin hier draußen am Baum, Anna Maria ist hier draußen am Baum, Ylvi ist hier draußen am Baum. Jeder tut seine Dinge. Die Großen spielen das Leben: diesmal reden, das Kind spielt das Leben: diesmal kletterbaumen. Lassen wir Ylvi im Stich? Geben wir Ylvi die Chance? Sind wir gemein? Sind wir hilfreich?

 Was will ich wirklich?“ führt in amicatives Land. Und ich merke, dass es mir jetzt gerade nicht recht ist, aus dem Gespräch mit ihrer Mutter auszusteigen. Einmal zum Ast heben reicht ja nicht, das wird noch ein Ast, viele Äste und das Gespräch ist vorbei. Will ich nicht. Ich will noch nicht einmal etwas sagen, ich will eigentlich nicht einmal dahindenken. Jetzt gerade nicht. Nachher kann das anders sein, aber jetzt nicht. Ich schaffe es, bei mir zu bleiben und nach dem Aufnehmen von Ylvis Botschaft und dem kurzen Blicktausch mit Anna Maria weiter in meine Gedankenwelt und unsere Unterhaltungswelt zu wandern. Ich bin stark und standhaft, dieser mächtigen Kindesforderung ein freundliches wortloses unpädagogisches authentisches Nein zu schenken.

Da Ylvis Mutter auch in der amicativen Welt lebt und gerade wie ich unterwegs ist, schwingt unser beider Nein zu den Kind. Ohne jedes Wort. Sicher weiß Ylvi, dass wir sie gehört haben. Sie wird sich ihre eigenen Gedanken dazu machen. Macht sie auch: sie fängt an, sich mit dem Unmöglichen zu beschäftigen. Die Rinde lässt sich klammern, der erste Ast kommt ins Greifbare. Schon ist sie hoch, Ast sieben. Da sitzt sie und schaut umher. Sie lacht, und der Baum sieht glücklich aus.

Als Ylvi beim Runterklettern festhängt, kommt ein Angstton. Beiläufig hebt Anna Maria sie nach unten. Ylvi geht zur Bank, auf der wir sitzen, und kuschelt sich an ihre Mutter. Sie schaut zum Zitronenfalter und fliegt mit ihm in seine, ihre, unsere Welt.

 

Montag, 7. April 2025

Kinderland

 

 

Meine Enkeltochter Klara frage mich, was ich beim „Herausfinden, was Kinder sind“ denn so gemacht habe. Ich erzählte es ihr. Mein Dissertationsprojekt über amicative (postpädagogische) Kommunikation mit Kindern war praxisbezogen. Hier sind sechs kleine Erlebnisszenen von Tausenden.*

*

Es hat geregnet, die Wiesen und der Wald sind feucht. „Wer kommt mit spazieren?“ Moni (11) hat Lust. Wir ziehen durch den Wald. Ich lasse mir von ihr zeigen, wie sie dies alles erlebt. Sie führt mich durch den Wald und zu den Blumen. Und sie führt mich zu einer Art des Erlebens zurück, die bei mir in Vergessenheit geriet. Wir überqueren einen Bach, und es ist, als betrete ich verlorenes Land. Die Blume, die wir von dort mitbringen, wächst wieder in mir.

*

Melanie (3) will Rad fahren. Sie hat ein Rad mit Stützrädern. Ich soll sie schieben. Ich fasse in die Mitte des Lenkers und tue es. Wir wandern so eine Dreiviertelstunde. Durch die Straßen bis zum Feld. Sie kennt sich aus. Sie sagt mir, wo es langgehen soll. Ich staune, dass sie so gut Bescheid weiß.

Ich mache eine Entdeckung. Sie will meine Schiebekraft, nicht meine Führung. Ich soll nicht lenken beim Schieben. Ich soll nur schieben. Immer wieder ertappe ich mich, dass ich drauf und dran bin, beim Schieben auch zu lenken. Zehn Zentimeter vor dem Gitter dreht sie den Lenker, und ich hatte mich schon zum Stoppen bereit gemacht.

Einmal kriegt sie die Kurve nicht hin. Ich sah es kommen und habe es geschafft, nicht einzugreifen. Sie sieht mich an - tja, Rückwärtsgang!

 *

Jessica (8) war ein paar Tage bei ihrer Tante in den Ferien. In dieser Zeit habe ich am Buch gearbeitet und auch etwas Aktuelles über ihre Schwester Diana (5) geschrieben. Als ich Jessica erzähle, dass Diana im Buch vorkommen wird, merke ich, dass sie auch gern vorkäme. „Leider warst Du nicht da“, sage ich.

Als sie nach Hause geht, denke ich nach. Jessica wäre auch gern im Buch. Warum nicht? Wo ist da das Problem? Ich kann doch tun, was ich will. Und ich kann mit Jessica so spielen, wie wir das wollen. Sie hat einen Wunsch, und ich kann ihn erfüllen. Ich nehme ein Beispiel aus dem Text und schreibe dies hier. Morgen werde ich sie damit überraschen.

*

Die Zwillinge Yvonne (7) und Karina (7) hatte ich auf dem Geburtstag von Meike (8) kennengelernt. Eine Woche später bin ich bei Freunden und sehe sie wieder. Nachbarskinder. Ich repariere an meinem Auto rum. Sie kommen und helfen Rost abzuschmirgeln. Es ist schönes Wetter. „Wenn Ihr Lust habt, fahren wir ein bisschen raus“, schlage ich vor. Sie haben Lust, und ruckzuck fahren wir los. Ich sage meinen Freunden Bescheid.

Wir fahren zum Kanal und sehen den Schiffen zu. Ringsum sind Wiesen. Es ist warm und wunderschön. Sie erzählen von wichtigen Dingen und ich habe Zeit zum Zuhören. Sie werfen Steine ins Wasser, sammeln Blumen, malen Bilder in den Sand. Wir haben uns getroffen und sind losgefahren.

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Tanja (3) wohnt ein Stockwerk unter uns. Wir sehen uns gelegentlich. Heute ist sie nach oben gekommen und hat geklingelt. Ich mache auf. Sie hat einen Ball mitgebracht. Ich knie mich hin und sehe sie durch die Wohnungstür draußen im Treppenflur. Wir sehen uns an. „Hallo“, sage ich. Sie lacht. Sie kommt auf mich zu, bis zur Tür, und gibt mir den Ball. Ich rolle ihn ihr zu. Sie freut sich riesig, und wir spielen eine Viertelstunde. Dann wird sie gerufen und geht zurück.

*

Heike (4) kommt zu mir auf den kleinen Berg, der von den Bauarbeiten noch da ist. Ich sitze dort in den Blumen und spiele Mundharmonika vor mich hin. Es ist Fete, Freunde haben mich eingeladen. Als es mir mal zu viel wird und ich einen Moment Ruhe brauche, gehe ich ein Stück abseits auf den Erdhügel.

Ich freue mich über Heikes Besuch. Sie setzt sich einfach neben mich und hört zu. Dann kramt sie im Sand. Ich mache sie auf Scherben aufmerksam und merke, dass sie es nicht als Verbot auffasst.

Später, als ich wieder bei den Erwachsenen bin, soll ich mal mitkommen. Aufs Feld. Sie zeigt mir einen wild bewachsenen Tümpel. Ich fühle mich geehrt. Auf dem Rückweg frage ich sie, ob sie mich führt, wenn ich die Augen zumache. Sie versteht und tut es. Ich spüre, wie ich ihr Schritt für Schritt mehr vertraue.

Als mir einmal ein Ast durchs Gesicht streift, fällt mir ein, dass sie ja so viel kleiner ist als ich. „Sieh mal ab und zu nach oben, damit ich mit dem Kopf nicht irgendwo anstoße“, sage ich. Als ich nach Hause muss, schenke ich ihr die Mundharmonika.


* aus meinem Buch „Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen“, Münster 2023,  S. 235, 242, 247 f.