Montag, 24. Juli 2023

Sommerferien

 


Ich bin in den Sommerferien, der nächste Post kommt Mitte September. Habt alle eine schöne Zeit!  

 *

Ferienlektüre? Mein aktuelles Buch:


Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen. 296 Seiten. EUR 16,-, E-Book EUR 3,99


Montag, 17. Juli 2023

Schulzeugnisse




Mein Enkel hat vor ein paar Tagen sein erstes Schulzeugnis bekommen. Tja – die Zeugnisse gibt es immer noch. Und immer noch enthalten sie ein grandioses Unrecht.

Ich war Lehrer – und ich habe selbstverständlich! auch Noten gegeben. Ohne Notengebung kein Lehrersein. Klarer Fall, kein Pardon: Ich war genauso anmaßend und unterdrückend wie jeder andere Lehrer. Ich war mir aber darüber klar, welches Unrecht da von mir ausgeht. (Warum ich dann überhaupt als Lehrer gearbeitet habe, ist eine andere Frage.) Und mit diesem Bewusstsein konnte ich etwas erkennen, was "normalen" Lehrern verborgen ist. Und ich habe auch anders gehandelt, ein bisschen wenigstens... Aus meinem Schultagebuch*:

Große Debatte mit einer Gruppe von zehn Kindern (6a) die ganze Stunde über. Es geht um meine Notengebung. "Warum gibst Du Elisabeth keine Zwei, wo sie doch Zwei steht, wie Du selbst sagst?". Ich erkläre, dass es nicht gestattet ist, jemandem eine Zwei zu geben, wenn er auf dem letzten Zeugnis eine Fünf hatte. Und dass die Note am Ende des Schuljahres eine Gesamtnote für das ganze Schuljahr ist, dass also die Frühjahrsnote mit berücksichtigt werden muss. Aber das interessiert sie nicht.

Sie lassen sich nichts vormachen, wenn es um ihre Interessen geht. "Wenn Du meinst, dass sie eine Zwei kriegen kann, dann steht ihr das zu." Sie haben ihre eigenen Bezugsgrößen und Relevanzkriterien, die ihnen Auskunft darüber geben, was gut für sie ist und was nicht.

Ich trickse dann, um ihr die Zwei doch geben zu können. "Ja, da gibt es eine andere Regel, die sagt, dass man die bei einer Konferenz eingereichten Zensuren nicht mehr ändern darf." Die Begründung interessiert sie nicht, sie sind zufrieden, dass Elisabeth ihre Zwei bekommt. Mir aber ist sauunwohl dabei, der so nicht gültigen Vorschrift und der Kollegen wegen. Ich tröste mich damit, dass es nicht an die große Glocke kommen muss.

Und in mir kommt Wut über diesen ganzen Notenquatsch hoch. Selbstverständlich sind die Noten, die ich ihnen verpasst habe, von mir subjektiv zusammengebraut. Diese blödsinnigen Ansichten über "objektive" Notengebung! Derartige Beurteilungen sind Herrschaftsausübung, Kommunikationsvernichter, schlicht widerliche Angelegenheiten, inhuman. Wer anders darüber denkt, weiß nicht, was Sache ist bei denen, die das alles ertragen müssen. Und natürlich bin ich dafür, überhaupt keine Noten zu geben, all das "Ich weiß was über Dich" schleunigst sein zu lassen und statt dessen in ehrliche und gleichwertige Kommunikation einzutreten.

Mit der 5c bespreche ich die Noten auf dem Rasen. Ich gehe deswegen extra nach draußen. Es ist eine abgesicherte Gelegenheit, rauszugehen.

Mit vielen geht es schnell. Ich setze die Noten nach Gefühl fest und mit Hilfe von Notizen, wer mitgemacht hat. Ich gebe keine Fünf. Das mache ich sowieso nur dort, wo ich wegen schriftlicher Arbeiten nicht anders kann, also in Mathe. Aber in Bio und Physik, wie hier in der 5c, denke ich nicht daran, diesen Superirrsinn mit den Fünfen mitzumachen. Da habe ich keinerlei Skrupel, hier kann ich echt mal etwas machen. Denn in Fächern ohne schriftliche Arbeiten kann es sich jeder Lehrer sparen, Fünfen zu geben. Wer nie mitgemacht hat, kriegt eben eine Vier und Schluss.

Bei einigen schwanke ich, sie wünschen eine bessere Zensur. Sie sollen sie haben. Bei zwei anderen bleibe ich hart. Die akzeptieren. Insgesamt bin ich mit der Sache zufrieden und denke, dass ich mit meiner Notengebung fair bin.

Zum Schluss sind sie dann besessen von der Notengeberei. Sie hängen so davon ab. Das geht mir durch und durch. Sie leben mir vor: Gute Note heißt gut sein. Oh Mann!

Letzter Schultag vor den Ferien. In den Klassen werden die Zeugnisse verteilt. Ich denke daran, dass dies jetzt überall im Land passiert. Noten, deren Wirkung entweder heimlich, hinterrücks ist: Zerstörung des Selbstvertrauens, des Setzens auf sich selbst, durch die "guten" Noten der Erwachsenen. Oder brutal offen: Schlechte Note = schlechtes Kind.


* H.v.S., Kinderkreis im Mai, Die Revolution der Schule, 258 Seiten, Nienhagen 2006, EUR 14,80, ISBN 978-3-88739-028-0

(Erstausgabe 1980, Fischer-TB: „Der Versuch, ein kinderfreundlicher Lehrer zu sein“)


















Montag, 10. Juli 2023

Ärger? Ja mei!

 


 

Ich bin beim Babysitten. Ich hole Bilderbücher zum Anschauen. Als ich ein Tierbuch aufblättere, schiebt es der Zweijährige weg. Vorher hat er genickt, als ich Bücheransehen vorschlug. Er schiebt das Buch zweimal weg, dreimal, viermal. Ärger, in mir?

Das Rad eines Neunjährigen ist platt und muss repariert werden. "Ich will fahren" - klar. "Hilfst Du?" "Ja." Er hilft auch mit. Fünf Minuten. Dann hat er keine Lust mehr. Ich soll allein weitermachen. Ärger, in mir?

Ich besuche einen Freund. Wir quatschen. Auf einmal nimmt er sein Handy und tippt drauflos. Meine letzte Frage - hat er nicht mitbekommen. Ärger, in mir?

Heute habe ich drei Situationen erlebt, bei denen auf einmal Ärger in der Luft lag. Es ist etwas abgemacht (Buch anschauen, Rad reparieren, Quatschen), aber das, worauf man sich einstellt, sich einlässt, sich drauf freut, wird gekippt. Wie geht es mir mit
solchen Geschichten?

Klar gibt es Gründe, Zusagen nicht einzuhalten und Pläne zu ändern. In diesen drei Geschichten hat das aber eine besondere Qualität: Ich bin in die Änderung nicht eingebunden, sie wird mir vorgesetzt. Ich komm mir als Spielfigur im Spiel des
anderen vor, hin- und hergeschoben. Respektlos, würdelos.

Ärger steht vor der Tür. Klar kann ich das thematisieren, klar kann ich mich wehren. Die Bücher wegräumen, das Rad Rad sein lassen, nach Hause gehen. Mach ich auch, wenn ich mich würdelos behandelt fühle.

Ich kann aber auch anders. Also: ohne Ärger, ohne Würdekratzer. Ich kann auch gelassen, so wie ich Ärger kann. Kommt ganz drauf an, wie ich drauf bin. Gelassen: Ich weiß ja, dass jeder in seiner Welt unterwegs ist. Die ich nicht verstehen muss. Die ich aber gelten lassen kann. Kein Buch lesen - ja mei. Keine Reparaturhilfe mehr - ja mei. Keine Antwort, das Handy wird mir bevorzugt - ja mei.

Ich bin eigentlich immer angefasst, wenn ich hängen gelassen werde. Wenig Prozent oder viel Prozent. Aber Null gibt es nicht. Ich ziehe mich zurück und lass dem anderen seinen Kram. Ich kann es auch thematisieren, muss aber nicht sein. Bei dieser Handygeschichte bin ich längst im Humor: dieser Freund, wie viele andere, können gar nicht mehr anders. Irgendwie eine Zeitkrankheit.

Wenn mir etwas widerfährt, was ja gar nicht geht, was der andere aber so nicht mitkriegt: was soll ich davon halten? Will ich mit solchen Menschen zu tun haben? Soll ich mich äußern? Beschweren? Poltern oder den rechten Ton treffen? Einen Kurs in "Wie äußere ich verständnisvoll und effektiv mein Unbehagen" buchen?

Ich bin mir oft sicher, dass die anderen genau wissen, was los ist. Vordrängeln an der Kasse, Vorfahrt nehmen, Weggekicktwerden beim Gespräch. Sie wollen sich nicht – ja was? Benehmen? Achtungsvoll sein? Mich ernst nehmen? Ein weites Feld. Und ich habe keine Lust, da herumzustochern und ein Fass aufzumachen, das mir dann um die
Ohren fliegt.

Ärger - in mir? Bei einem Zweijährigen? Bei einem Neunjährigen? Bei einem Vertrauten? Heute ging es für mich ohne Ärger aus. Klar, bei dem schönen Wetter...





 

Montag, 3. Juli 2023

Wie geht das zusammen: Durchsetzen und Gleichwertigkeit?






"Durchsetzen" ist ein weites Feld. Wie ich mich denn durchsetze, wenn die Kinder nicht erzogen werden. Wenn sie sich selbst gehören, dann geht das mit dem Durchsetzen doch gar nicht. Folge: die Kinder können tun, was sie wollen. Bedeutet: Ganz und gar unrealistisch. Dass ich Unsinn erzähle, liegt im Raum.

Wenn ich mich durchsetze, bin ich oben und der andere ist unten. Nun spreche ich aber die ganze Zeit von der Gleichwertigkeit. Der generellen Gleichwertigkeit, als Paradigma der Postmoderne. Wie geht das zusammen, Durchsetzen und Gleichwertigkeit?

Menschen sind in zwei Dimensionen zu Hause: In der Welt der Dinge und in der Welt der Gefühle, im Außen und im Innen. In der Welt der Dinge wird das Oben-Unten nicht beendet, aufgegeben, schlecht geredet, verworfen. In der äußeren Welt bin ich immer wieder oben, der andere ist unten. Ich nehme Medizin, um Bakterien zu töten. Ich halte mein Kind von der Steckdose fern, um sein Leben zu wahren. Ich gewinne den 100-Meter-Lauf, die anderen verlieren. Amication verlässt in der Welt der Dinge nicht das Oben-Unten. Und in dieser Welt gibt es mit dem Oben halt das Durchsetzen.

Ich setze mich also durch. Wann? Große Vielfalt! Und ich kann mein Durchsetzen auch abbrechen oder es gleich ganz bleiben lassen. Wie es kommt. Wenn ich mich nicht durchsetze, werde ich durchgesetzt. Dann bin ich unten und der andere ist oben. Das lässt sich oft nicht vermeiden, es gehört dazu. Genauso, wie es dazu gehört, dass ich mich durchsetze. Von Gleichwertigkeit ist da keine Rede. Dennoch: Die Gleichwertigkeit zählt. Aber nur da, wo es passt und nicht aus dem Leben herausfällt. In der Welt der Dinge ist Gleichwertigkeit als etwas, das uneingschränkt gelten soll, Nonsens. In der Welt der Dinge kommt selbstverständlich die Gleichwertigkeit vor. Aber nicht als Nur, sondern als Auch. Die Waage im Gleichgewicht ist ein gutes Bild dafür. Oder das Unentschieden im Sport. Oder derselbe Preis beim Einkaufen.

Die Gleichwertigkeit zählt für mich uneingeschränkt, als Basiswert, als Paradigma in der Welt der Gefühle, Einstellungen, Werte, in der unsichtbaren Welt, im Innen. Muss nicht sein: Du Schwein, Neger, Unkraut, Spinner, Affe... Da lässt sich genug Oben-Unten finden. Auslachen, Demütigen, Beleidigen, Häme, Verachten, Hassen: Gibt´s genug von. Muss aber für mich nicht sein, und ist für mich nicht. Ich erkenne in der psychischen Dimension die Gleichwertigkeit. Das sehe ich so, das denke ich so, das will ich so. Das ist meine Position.

Diese Innen-Gleichwertigkeit verliere ich nicht bei der Außen-Ungleichwertigkeit. Ich setze mich durch und setze den anderen dabei nicht herab. Durchsetzen ja, Herabsetzen nein. Eigentlich einfach. Eigentlich ganz einfach.

Ja, eigentlich. Wenn man denn diese innere Gleichwertigkeitsidee gut findet und ihr folgen will. Aber. Aber heißt: wir sind in einer Kultur des Oben-Unten auch im Innen groß geworden, mit den Leitgrößen Gut und Böse. Das lässt sich nicht so ohne weiteres ins Museum bringen. Diese Ungleichwertigkeit hat ihr Eigenleben in uns. Macht aber nichts! Soll sie! Ich nehme es mir nicht übel, wenn das erlernte innere/psychische Oben-Unten irgendwie in mir rumspukt, immer mal wieder zum Vorschein kommt. Wobei ich ja von mir sage, dass mir das nicht mehr passiert, ein stolzes Wort.

Dass ich also niemanden herabsetze, auslache, demütige, beleidige, häme, verachte, hasse und Co. So bin ich halt unterwegs, und von diesem Unterwegssein in der Gleichwertigkeit erzähle ich auf den Vorträgen. Von den Ebenbildern Gottes, die wir alle sind, die wir aber unterschiedliche Wege gehen. Und wenn mir so ein Weg eines anderen nicht passt, dann stoppe ich ihn klipp und klar in der äußeren Welt. Halte einen Mörder fest, bis die Polizei kommt. Aber ich verachte ihn nicht. Da finde ich meine Position der uneingeschränkten Gleichwertigkeit in der inneren Welt doch sehr friedensmächtig und mach das einfach mal.