Montag, 17. Juli 2023

Schulzeugnisse




Mein Enkel hat vor ein paar Tagen sein erstes Schulzeugnis bekommen. Tja – die Zeugnisse gibt es immer noch. Und immer noch enthalten sie ein grandioses Unrecht.

Ich war Lehrer – und ich habe selbstverständlich! auch Noten gegeben. Ohne Notengebung kein Lehrersein. Klarer Fall, kein Pardon: Ich war genauso anmaßend und unterdrückend wie jeder andere Lehrer. Ich war mir aber darüber klar, welches Unrecht da von mir ausgeht. (Warum ich dann überhaupt als Lehrer gearbeitet habe, ist eine andere Frage.) Und mit diesem Bewusstsein konnte ich etwas erkennen, was "normalen" Lehrern verborgen ist. Und ich habe auch anders gehandelt, ein bisschen wenigstens... Aus meinem Schultagebuch*:

Große Debatte mit einer Gruppe von zehn Kindern (6a) die ganze Stunde über. Es geht um meine Notengebung. "Warum gibst Du Elisabeth keine Zwei, wo sie doch Zwei steht, wie Du selbst sagst?". Ich erkläre, dass es nicht gestattet ist, jemandem eine Zwei zu geben, wenn er auf dem letzten Zeugnis eine Fünf hatte. Und dass die Note am Ende des Schuljahres eine Gesamtnote für das ganze Schuljahr ist, dass also die Frühjahrsnote mit berücksichtigt werden muss. Aber das interessiert sie nicht.

Sie lassen sich nichts vormachen, wenn es um ihre Interessen geht. "Wenn Du meinst, dass sie eine Zwei kriegen kann, dann steht ihr das zu." Sie haben ihre eigenen Bezugsgrößen und Relevanzkriterien, die ihnen Auskunft darüber geben, was gut für sie ist und was nicht.

Ich trickse dann, um ihr die Zwei doch geben zu können. "Ja, da gibt es eine andere Regel, die sagt, dass man die bei einer Konferenz eingereichten Zensuren nicht mehr ändern darf." Die Begründung interessiert sie nicht, sie sind zufrieden, dass Elisabeth ihre Zwei bekommt. Mir aber ist sauunwohl dabei, der so nicht gültigen Vorschrift und der Kollegen wegen. Ich tröste mich damit, dass es nicht an die große Glocke kommen muss.

Und in mir kommt Wut über diesen ganzen Notenquatsch hoch. Selbstverständlich sind die Noten, die ich ihnen verpasst habe, von mir subjektiv zusammengebraut. Diese blödsinnigen Ansichten über "objektive" Notengebung! Derartige Beurteilungen sind Herrschaftsausübung, Kommunikationsvernichter, schlicht widerliche Angelegenheiten, inhuman. Wer anders darüber denkt, weiß nicht, was Sache ist bei denen, die das alles ertragen müssen. Und natürlich bin ich dafür, überhaupt keine Noten zu geben, all das "Ich weiß was über Dich" schleunigst sein zu lassen und statt dessen in ehrliche und gleichwertige Kommunikation einzutreten.

Mit der 5c bespreche ich die Noten auf dem Rasen. Ich gehe deswegen extra nach draußen. Es ist eine abgesicherte Gelegenheit, rauszugehen.

Mit vielen geht es schnell. Ich setze die Noten nach Gefühl fest und mit Hilfe von Notizen, wer mitgemacht hat. Ich gebe keine Fünf. Das mache ich sowieso nur dort, wo ich wegen schriftlicher Arbeiten nicht anders kann, also in Mathe. Aber in Bio und Physik, wie hier in der 5c, denke ich nicht daran, diesen Superirrsinn mit den Fünfen mitzumachen. Da habe ich keinerlei Skrupel, hier kann ich echt mal etwas machen. Denn in Fächern ohne schriftliche Arbeiten kann es sich jeder Lehrer sparen, Fünfen zu geben. Wer nie mitgemacht hat, kriegt eben eine Vier und Schluss.

Bei einigen schwanke ich, sie wünschen eine bessere Zensur. Sie sollen sie haben. Bei zwei anderen bleibe ich hart. Die akzeptieren. Insgesamt bin ich mit der Sache zufrieden und denke, dass ich mit meiner Notengebung fair bin.

Zum Schluss sind sie dann besessen von der Notengeberei. Sie hängen so davon ab. Das geht mir durch und durch. Sie leben mir vor: Gute Note heißt gut sein. Oh Mann!

Letzter Schultag vor den Ferien. In den Klassen werden die Zeugnisse verteilt. Ich denke daran, dass dies jetzt überall im Land passiert. Noten, deren Wirkung entweder heimlich, hinterrücks ist: Zerstörung des Selbstvertrauens, des Setzens auf sich selbst, durch die "guten" Noten der Erwachsenen. Oder brutal offen: Schlechte Note = schlechtes Kind.


* H.v.S., Kinderkreis im Mai, Die Revolution der Schule, 258 Seiten, Nienhagen 2006, EUR 14,80, ISBN 978-3-88739-028-0

(Erstausgabe 1980, Fischer-TB: „Der Versuch, ein kinderfreundlicher Lehrer zu sein“)