Montag, 27. November 2023

Wer aber waren wir?

 


Alle unsere Wahrnehmungen von der Welt kommen aus uns selbst, und doch liegen vor und hinter ihnen unendlich viele Wahrnehmungen anderer. All derer, die uns wissen ließen, wie dieses und jenes wahrzunehmen sei, und das wir so oder anders von ihnen übernommen haben. Als Kinder haben wir von Anfang an unzählige Informationen zur Weltdeutung erhalten, von den Erwachsenen unserer Zeit. Ihr Wissen um die Welt wurde zur Grundlage unseres Weltverstehens. Und auch wenn wir später entgegen ihren Deutungen anderen und neuen Sichtweisen folgen, ist es doch so, dass die in der Kindheit erfahrende Weltdeutung niemals wirklich verlassen werden kann.

Wie nehmen wir uns selbst wahr? Wer bin ich? Neben vielen anderen Aspekten der Identitätsfrage gehe ich einem besonderen Gedanken nach: Wir lernten und erfuhren als Tatsache des Lebens, als Selbstverständlichkeit unserer Eltern und Großen, wenn sie über uns nachdachten und etwas über uns sagten und etwas zu uns sagten, wir erfuhren als eine selbstverständliche Basisinformation, dass Kinder anders waren als sie – und dass sie anders waren als wir. Wir und sie – sie und wir: das waren zwei verschiedene Welten. Und im Hintergrund war präsent, dass unsere (Kinder)Art zu sein nicht die eigentliche Art zu sein wäre, wie sie den wirklichen und wahren Menschen, den Großen, ihnen also, zukommt. Wie sie meinten.

Nun lag es damals aber nicht an, zu bemerken, dass wir eines Tages auch groß, so wie sie, sein würden. Merkwürdigerweise spielte das einfach keine Rolle. Merkwürdig deswegen, weil ich heute, selbst groß, denke, wir Kinder hätten es von ihren Gesichtern ablesen können: ihr werdet eines Tages auch Große. Das war so aber nicht der Fall. Nein, es war so: wir hier – sie dort.

Dieses Basiswissen vom eigenen Standort – wir hier, im Unterschied zu euch dort –, der zugleich der Standort vieler anderer auch war, aber nur der anderen, die in der gleichen Situation des Lebens waren, also: der anderen Kinder – dieses Basiswissen und vor allem das Gefühl von diesem Standort gingen nach und nach verloren, zu der Zeit, als man selbst erwachsen wurde. Dann galten andere Bezüge, der andere Standort. Und der Kontakt zum Wissen und Fühlen der damaligen Wahrheit riss ab. Und seitdem leben wir in unserer Welt, der Welt der Erwachsenen.

Doch zurück zu der Basis der Kindheit, zu dieser Basis, dem Wissen und dem Gefühl der eigenen Welt, der eigenen Sprache, der eigenen Interpretation – immer anders als die der Großen, immer gleich wie die der Gleichaltrigen. Und immer vorgegeben von den Großen: vorgegeben aber nur insofern, als es das Faktische betrifft, wie dann, wenn etwas vorgegeben ist, das der eigenen Vereinnahmung bedarf: »Das ist die Sonne« musste von uns Kindern zurechtgelegt werden, übersetzt werden in unsere real existierende Welt, transportiert werden in unser Weltbild. »Das ist ein Auto« ebenfalls. Mit allem ging das so. Und auch mit der Aussage: »Das bist Du«, was übersetzt hieß: »Das bin (also) ich«.

Wer aber waren wir?

 

Montag, 20. November 2023

Kind ist jetzt

 

 

Was wurde uns Kindern gesagt? Neben vielem auch, ohne Worte – wir seien Kinder. Nicht Erwachsene. (Das waren ja sie.) Und Kinder, das weiß jeder Erwachsene, entwickeln sich, sie wachsen, sie werden. Sie werden. Was werden Kinder? Sie werden Erwachsene. Eines Tages. Wir erfuhren also: Ihr seid jetzt Kinder – und damit seid ihr Leute, die werden. Die Erwachsene werden. (Und dann sollten wir außerdem und vor allem gute Erwachsene werden, keine bösen, missratenen sondern vorzeigbare, wertvolle, tüchtige, solche, auf die Verlass ist und auf die man stolz sein kann.) Der Sog zu werden war wie zuckersüßer Sand über uns gestreut, wir nahmen ihn auf und wir wurden.

Wenn wir Kinder um uns haben, sehen wir sie so, wie wir gesehen wurden: als Wesen, die werden. Und wir sehen sie weniger oder nicht oder ganz und gar nicht als Wesen, die sind. Und dennoch: Als wir selbst Kinder waren, war uns präsent, selbstverständlich, Basis: dass wir sind. Jetzt. Und gleich. Und eben. Wir lebten uns und waren in der Zeit, mit der Zeit, nicht im Gegensatz zur Zeit, nicht im Streit mit der Zeit, nicht jenseits oder vor der Zeit, der eigentlichen Zeit. Wir waren nicht im Werden, sondern im Sein.

Wer ist dieses Kind vor mir? Wer ist dieses Jetztwesen? Das interessiert mich, das ist meine Frage, meine Aufmerksamkeit, meine Intuition, meine Art. Ich habe mich gelöst von der Werden-Perspektive. Ich habe diese Perspektive nicht gänzlich verlassen, aber sie kommt mir nicht zur Unzeit dazwischen, sie hat mich nicht im Griff. Ich habe sie bei Bedarf, ich wende sie an, nicht sie mich. Wer ist also dieses Kind vor mir jetzt?

Ein NochEinBrotKind. KeinHausaufgabenMacheKind. Ein BruderKämpfeKind. EinJammerUndGeschreiKind. Ein MitTierenBehutsamUmgeheKind. Ein MüdeKind. Ein JetztEinschlafeKind. Ein DuHastHierNichtsVerlorenKind. Ein IchBinSchonFertigKind. Ein DannSpielIchEbenGarNichtMehrKind. Ein LaßMichInRuheKind. Ein IchHelfeDirKind. Kein SchnallDichAnKind. Ein TreppengeländerRutscheKind. Ein HonigSchmierKind. Kein ZähnePutzKind. Kein MitDemHundRausgehKind. Ein MeinZahnIstWegKind. Ein IchHabeSchlechtGeträumtKind. Kein HändeWaschKind. Kein FährtVernünftigMitDemRadKind. Ein MirIstKaltKind. Ein WieSpätIstEsKind. Ein WannSindWirDaKind. Ein SagIchNichtKind. Ein HabIchAberWohlKind. Ein KlavierspielenÜbeKind. Ein KarateTrainingKind. Ein BlumenstraussPflückeKind. Ein DiskoBesucheKind. Ein NichtraucherKind. Ein IchGehZumReitenKind. Kein IchHabDenSchlüsselVergessenKind. Ein IchHabeMeinZimmerAufgeräumtKind. Ein DaranHabeIchNichtGedachtKind. Ein DasHabeIchDirMitgebrachtKind. Kein FrühstücksbrotAufesseKind. Ein DasWarIchNichtKind. Ein SpielstDuMitMirKind. Ein KicherKind. Ein IchFreuMichAufKind.


 

Montag, 13. November 2023

Einmischen wenn Kinder streiten?

 

  

Ich bekomme mit, wie zwei ältere Kinder (9) ein jüngeres Kind (6) ärgern. Lars und Moritz lassen Nils nicht mitspielen, obwohl sie zu dritt verabredet sind. Nils sitzt da und weint.

Das kann ich nicht so stehen lassen. "Ihr seid zu dritt unterwegs", sage ich zu den beiden. "Lasst Nils nicht hängen." Es kommt nichts Nettes. "Der heult doch nur." Was jetzt?

Soll ich mich kümmern, mehr als diesen Satz einwerfen? Wenn ich weiter interveniere, werde ich als jemand wahrgenommen, der die übliche Macht hat. Die Macht, anzuordnen, was Kinder zu tun und zu lassen haben. Das ist nichts, was ich will, und nichts, wie ich mich verstehe. Ich lasse die Kinder ihre Dinge tun, kommentiere das schon mal, misch mich auch schon mal ein, lass auch kein Kind an der Steckdose rumspielen. Aber eigentlich: lass ich sie ihre Dinge tun.

Eigentlich. Aber jetzt wegschauen? Ich will den weinenden Nils nicht im Stich lassen. Ich will aber den beiden Großen auch nicht vorschreiben, was sie zu tun haben, also Nils mitspielen lassen. Dilemma, Zwickmühle. Da ist Haltung gefragt. Nicht Wegschauen. Hinschauen. Und aktiv werden.

Na ja, das ist ein generelles Problem/Thema. Kommt am Tag zig mal vor, mal kleiner, mal größer. Einmischen bei einem Streit im Supermarkt? Hab ich gemacht. Einmischen bei einem Parkplatzstreit? Hab ich nicht gemacht. Unterschrift für den Erhalt der Kita? Hab ich gemacht. Demonstration für den Hambacher Forst? Hab ich nicht gemacht. Mal schau ich hin und tu was, mal schau ich weg und tu nichts.

Wenn ich nichts tue, obwohl ich etwas tun könnte. Wenn ich das Ungemach/Leid/Übel stehen lasse, was mir über den Weg läuft und mich ruft - dann sag ich, dass ich mich nicht um alles kümmern kann. Was aber so ja nicht stimmt, denn um vieles von dem Alles könnte ich mich ja sehr wohl kümmern. Angefangen damit, vegetarisch zu essen, mit dem Rad zum Einkaufen zu fahren, bei Greenpeace Mitglied zu werden.

Es gibt da eine Bremse in mir. Ein Stoppschild. Ja, ich könnte dem Bettler einen Euro in seinen Becher tun, aber ich tu es nicht. Ziemlich gemein, mein Einkauf hat 25 Euro gekostet, und jetzt kein Euro für den Mann ohne Beine? Ich bin da nicht stolz drauf oder irgendwie so naseweisaufmichaufpasserisch. Ich finds blöd, aber ich lass es dann so sein. Nehme es mir nicht übel, aber find es eben auch nicht schön. So eine Mischung.

Nils' Tränen sind mir aber zu viel. Die fehlenden Beine des Bettlers waren es nicht. Wie soll ich da gut rauskommen? Mir ist klar, dass ich den Großen nicht Sympathie verordnen kann. So was funktioniert nicht. Aber ich kann mich unabhängig von einer Intervention bei Lars und Moritz um Nils und sein Leid kümmern.

"Die wollen nicht mit Dir Spielen." Feststellung, Kontaktaufnahme. Das ganze "Sollen sie aber doch" wisch ich weg. Ich nehme Nils auf den Arm. "Komm, wir holen Salat aus dem Garten fürs Abendessen." Nils sucht einen schönen Salatkopf aus.

 

Montag, 6. November 2023

Die Würde des Bösen - Vortrag Hintergrund

 


 

 Vortragsabend

Dr. Hubertus von Schoenebeck

Die Würde des Bösen

Von Terroristen und anderen Ungeheuern

Vortrag mit Gespräch

 

 Hintergrund


Seit vielen Jahren trete ich dafür ein, dass Kinder nicht pädagogisch-missionarisch gesehen werden sollten, sondern dass ihre eigene innere Welt gleichwertig wie die innere Welt der Erwachsenen erkannt und geachtet wird.

Über diesen postpädagogischen Ansatz habe ich geforscht und an der Universität Osnabrück im Jahr 1980 zum Dr. phil. promoviert. Für die postpädagogische Gleichwertigkeits-Perspektive bin ich seitdem in der Erwachsenen- und Familienbildung und der akademischen Ausbildung mit über 2000 Veranstaltungen tätig und habe zahlreiche Veröffentlichungen publiziert.

Meine Sichtweise auf den Umgang mit Kindern hat eine große Tragweite auch für den Erwachsenen selbst, das groß gewordene Kind. In meinen Veranstaltungen wird dies für jeden Teilnehmenden deutlich, oft sind die Anwesenden am Schluss sehr nachdenklich und angerührt.

In der gegenwärtigen unruhigen Weltlage habe ich mich entschieden, auch Vorträge für ein breiteres Publikum zu halten als für Eltern und pädagogische Fachleute. Dort heißen meine Vorträge und Seminare „Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen“.

Die wichtigste Komponente meiner Sichtweise ist die Gleichwertigkeit der Menschen in Bezug auf ihre Selbstkompetenz und Würde. Diese Würde-Gleichwertigkeit ist für mich unteilbar und gilt auch für die Menschen, die wir als böse erleben. Sei es im Kleinen: „Das Schwein hat mich verlassen“ oder im Großen: „Der Terrorist fällt über Unschuldige her“.

Ich habe erkannt, dass diese Herabsetzung anderer, die wir als böse einstufen, in der traumatischen Kindheitserfahrung als „ungezogenes“ und „böses“ Kind verwurzelt ist.

Hierüber möchte ich in meinem Vortrag zum Nachdenken anregen. Ich zeige den Teilnehmenden, dass der Bezug zur Würde eines „Bösewichts“ niemals verloren gehen muss, auch nicht zu dem „Bösen“ in uns selbst. Was niemanden daran hindern soll, gegen einen solchen „Bösen mit Würde“ so energisch vorzugehen, wie das jeweils für das eigene Wohl und die eigenen Werte erforderlich ist. Kurzgefasst: Durchsetzen ja, herabsetzen nein. Denn: Die Würde des Menschen ist unantastbar.