Werner habe ich ewig nicht gesehen. Schließlich kommen wir auf die Amication. Ich soll erklären. Aber in zehn Minuten muss er weg. Zehn Minuten, um zu erklären, was Amication ist?
Ich fange also an:
Ich habe Lehramt
studiert. Da ging es auch um Erziehung. Und ich habe gemerkt, dass
ich das total falsch fand, jemanden zu erziehen. Das bedeutet doch,
dass er, der Mensch vor mir, also das Kind, noch nicht richtig ist.
Dass er verbessert werden muss. Und dass ich derjenige bin, der weiß,
wo es langgeht.
Zumindest sollte ich das wissen. Das stünde
alles in den Büchern und das könnte ich an der Uni lernen. Was
Kinder brauchen und wie man dafür sorgt, dass sie sich richtig
entwickeln, körperlich und seelisch und geistig und überhaupt. "Ich
weiß, was für Dich gut ist" und bei Widerspruch "Ich weiß
es besser als Du". Weil Kinder eben unmündig sind und erst
vollwertige Menschen werden müssen. Weil sie eben noch nicht für
sich verantwortlich sein können.
Und dem bin ich nicht
gefolgt. An einer ganz speziellen Stelle bin ich da nicht
mitgegangen. Kümmern, sorgen, helfen, trösten, erklären,
beistehen, abgrenzen, durchsetzen, nachgeben, "versuch doch
mal","gib nicht auf", "nicht so schlimm",
"komm mit", "mach doch", "egal", "so
nicht", "lass das", "wenn Du willst", "klar
doch", "ok"... der ganze Kram: Ja, das ist für mich
in Ordnung. Aber den Menschen vor mir als irgendwie unfertig ansehen?
Irgendwie unfertig: Da schwingt etwas mit, was mit mir nicht
geht. Einerseits gibt es immer Veränderung, Wachsen, nichts ist
wirklich fertig. Andererseits gibt es Unveränderlichkeiten. Festen
Grund. Der erst mal gilt. Und eine dieser Unveränderlichkeiten ist
für mich, dass Menschen von Anfang an eine innere Souveränität
haben, dass sie spüren, was gut für sie ist. Achtung: Ich meine
nicht, dass die Kinder dasselbe spüren müssen, was Erwachsene
spüren, dass es gut für sie sei. Sie - Kinder wie Erwachsene -
haben oft ganz andere Vorstellungen vom "Guten, Richtigen,
Angemessenen". Das ist schon klar.
Nur: Mit meiner Sicht
vom Richtigen - "an der Wand da ist eine gefährliche Steckdose"
- stehe ich nicht über der Kindersicht vom Richtigen - "an der
Wand da ist eine interessante Schweineschauze". Klar bin ich von
meiner Sicht überzeugt und ich handle auch danach und halte das Kind
von der Steckdose fern. Aber ich beanspruche dabei nicht, dass das
Kind seine Sicht geringer einstuft als meine Sicht. Ich verlange
keine innere Unterwerfung. Auch nicht begründet mit "es ist zu
Deinem Besten", "ich habe recht", "das kannst Du
noch nicht überblicken", "sieh das ein". Das geht für
mich nicht. Und genau das, was da für mich nicht geht, halte ich für
das Kernelement der Erziehung, jeder Erziehung. Was immer sonst noch
alles bei Erziehung dabei ist.
Natürlich sagt Werner, dass
es ohne Erziehung nicht gehe. Und dass die Kinder eben noch nicht
wüssten, was für sie gut ist und dass sie das im Laufe ihrer
Kindheit lernen müssten. Wo denn mein Problem mit der Erziehung
sei?
Na ja, sage ich, ich höre in mir eine sehr deutliche
Botschaft der Kinder, irgendwie eine Resonanz aus meiner eigenen
Kindheit. Nicht objektiv richtig, aber für mich gültig: "Liebe
mich, aber erziehe mich nicht. Nimm Beziehung zu mir auf, aber lass
es, mich zu einem richtigen Menschen zu machen, ich bin ein richtiger
Mensch. Lass das Erziehen".
Werner muss gehen, er sieht
nachdenklich aus. "Du bist da wirklich von überzeugt. Du gehst
einen anderen Weg zu den Kindern, einen, den ich nicht kenne.
Interessant, gibst Du mir etwas zum Lesen?"