Montag, 26. September 2022

Amication erklären - in zehn Minuten

 

 

Werner habe ich ewig nicht gesehen. Schließlich kommen wir auf die Amication. Ich soll erklären. Aber in zehn Minuten muss er weg. Zehn Minuten, um zu erklären, was Amication ist? 

Ich fange also an:

Ich habe Lehramt studiert. Da ging es auch um Erziehung. Und ich habe gemerkt, dass ich das total falsch fand, jemanden zu erziehen. Das bedeutet doch, dass er, der Mensch vor mir, also das Kind, noch nicht richtig ist. Dass er verbessert werden muss. Und dass ich derjenige bin, der weiß, wo es langgeht.

Zumindest sollte ich das wissen. Das stünde alles in den Büchern und das könnte ich an der Uni lernen. Was Kinder brauchen und wie man dafür sorgt, dass sie sich richtig entwickeln, körperlich und seelisch und geistig und überhaupt. "Ich weiß, was für Dich gut ist" und bei Widerspruch "Ich weiß es besser als Du". Weil Kinder eben unmündig sind und erst vollwertige Menschen werden müssen. Weil sie eben noch nicht für sich verantwortlich sein können.

Und dem bin ich nicht gefolgt. An einer ganz speziellen Stelle bin ich da nicht mitgegangen. Kümmern, sorgen, helfen, trösten, erklären, beistehen, abgrenzen, durchsetzen, nachgeben, "versuch doch mal","gib nicht auf", "nicht so schlimm", "komm mit", "mach doch", "egal", "so nicht", "lass das", "wenn Du willst", "klar doch", "ok"... der ganze Kram: Ja, das ist für mich in Ordnung. Aber den Menschen vor mir als irgendwie unfertig ansehen?

Irgendwie unfertig: Da schwingt etwas mit, was mit mir nicht geht. Einerseits gibt es immer Veränderung, Wachsen, nichts ist wirklich fertig. Andererseits gibt es Unveränderlichkeiten. Festen Grund. Der erst mal gilt. Und eine dieser Unveränderlichkeiten ist für mich, dass Menschen von Anfang an eine innere Souveränität haben, dass sie spüren, was gut für sie ist. Achtung: Ich meine nicht, dass die Kinder dasselbe spüren müssen, was Erwachsene spüren, dass es gut für sie sei. Sie - Kinder wie Erwachsene - haben oft ganz andere Vorstellungen vom "Guten, Richtigen, Angemessenen". Das ist schon klar.

Nur: Mit meiner Sicht vom Richtigen - "an der Wand da ist eine gefährliche Steckdose" - stehe ich nicht über der Kindersicht vom Richtigen - "an der Wand da ist eine interessante Schweineschauze". Klar bin ich von meiner Sicht überzeugt und ich handle auch danach und halte das Kind von der Steckdose fern. Aber ich beanspruche dabei nicht, dass das Kind seine Sicht geringer einstuft als meine Sicht. Ich verlange keine innere Unterwerfung. Auch nicht begründet mit "es ist zu Deinem Besten", "ich habe recht", "das kannst Du noch nicht überblicken", "sieh das ein". Das geht für mich nicht. Und genau das, was da für mich nicht geht, halte ich für das Kernelement der Erziehung, jeder Erziehung. Was immer sonst noch alles bei Erziehung dabei ist.

Natürlich sagt Werner, dass es ohne Erziehung nicht gehe. Und dass die Kinder eben noch nicht wüssten, was für sie gut ist und dass sie das im Laufe ihrer Kindheit lernen müssten. Wo denn mein Problem mit der Erziehung sei?

Na ja, sage ich, ich höre in mir eine sehr deutliche Botschaft der Kinder, irgendwie eine Resonanz aus meiner eigenen Kindheit. Nicht objektiv richtig, aber für mich gültig: "Liebe mich, aber erziehe mich nicht. Nimm Beziehung zu mir auf, aber lass es, mich zu einem richtigen Menschen zu machen, ich bin ein richtiger Mensch. Lass das Erziehen".

Werner muss gehen, er sieht nachdenklich aus. "Du bist da wirklich von überzeugt. Du gehst einen anderen Weg zu den Kindern, einen, den ich nicht kenne. Interessant, gibst Du mir etwas zum Lesen?"









 

 

Montag, 19. September 2022

Liebe reicht. Nicht.



Mitten im Vortrag unterbricht mich eine Teilnehmerin: „Sie reden und reden... Ich versteh das nicht. Es reicht doch völlig, ein Kind in den Arm zu nehmen. Oder es zu trösten, wenn es traurig ist. Was soll da Ihre ganze Philosophie?“

Tja. Es reicht völlig, ein Kind zu lieben. Mehr ist nicht nötig. Ist es so? Da geht mir das Herz auf bei so einem Urbild: Die Mutter, der Vater, die Oma, der Opa, die/der wer auch immer nimmt das Kind in den Arm, hält es und die Liebe flutet. Was soll da mein ganzes Gerede von Souveränität und Selbstverantwortung, Königskrone und Würde, Adultismus und Erwachsenen-Chauvinismus? Was sollen da all meine Bilder von Schweineschnauze, Büffel, Schokohasen, Gesundkraut, Amazonas, Bahnhofsweg und Co? Liebe reicht.

Ja, wenn es denn so wäre. Die so wachgerufene Liebe, die von der Mutter vor mir in den Raum geholt wird, überdeckt alles. Wir sind gefangen und erfüllt von so einem Bild. Nur, dass ich dabei nicht vergesse, übersehe, wegdrücke, dass auch die Liebe, die lebt, geschenkt wird, erlebt wird, ja nicht im luftleeren Raum daherkommt, sondern eingebettet ist oder hervorgebracht wird in historischem und gesellschaftlichem Zusammenhang. Und auf der Zusammenhangs-Spurensuche und Zusammenhangs-Entdeckungsreise bin ich bei einem solchen Vortragsabend unterwegs. „Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen“ ist er überschrieben.

Ich rede nicht zum Thema „Liebe reicht“ oder „Wie sich Kinder lieben lassen“. Ich rede nicht zum Thema Liebe. Jedenfalls nicht direkt. Dass alles, was ich an so einem Abend auffalte, mit Liebe zu tun hat, ist schon klar. Aber ich bin untergründlicher, hintergründlicher als das, was die Teilnehmerin da im Sinn und in ihrer Assoziation hat.

Die weiße australische Krankenschwester nimmt das Aboriginebaby liebevoll in den Arm. Das Kind, das den Eltern weggenommen wird, damit es „zivilisiert“ aufwächst. Die Mutter in Gambia nimmt ihre Tochter liebevoll in den Arm, deren Klitoris gerade beschnitten wurde, damit sie integriert in ihrem Dorf aufwachsen kann. Der KZ-Aufseher nimmt sein eigenes Kind abends liebevoll in den Arm, nachdem er den ganzen Tag lang die jüdischen Kinder in die Gaskammer geschickt hat. Diese Grusel lassen sich fortsetzen, lange fortsetzen. Liebe reicht eben nicht.

Es geht mir nicht darum, wie man richtig liebt. Es geht mir darum, was für ein Umfeld um die Liebe herum existiert. Und da habe ich entdeckt, dass – bei aller aller Liebe – Demütigung, Herabsetzung, Unliebe gang und gäbe ist in unserer Kultur. Nicht weit weg, damals in Australien oder im KZ oder fern in Gambia. Sondern nah und heute, hier bei uns. In Deutschland, Europa, der westlichen Welt, der Welt schlechthin, überall.

Da nämlich, wo Kinder noch nicht als ganz richtige, vollwertige Menschen gesehen, bedacht, gehändelt, gebüchert, gewissenschaft werden. Wo die Weltformel von der Erziehung gilt. Adultismus nennt sich das. Oder spitzer: Erwachsenen-Chauvinismus.

„Sieh ein, ich habe recht“ und „Ich will doch nur Dein Bestes“ sind Statements, die diese Erwachsene-Oben-Kinder-Unten-Grundhaltung zum Ausdruck bringen. Das thematisiert mein Abend. Diese Hintergründlichkeit mache ich bewusst, erzähle davon, lade ein, dort einmal hinzusehen. Dort einmal in sich hineinzuhorchen.

„Mama hat Dich lieb“ ist eine Supersache. „Aber musst Du Dich dabei so betonselbstverständlich über mich setzen? Musst Du mich bei all Deiner so unendlich willkommenen Liebe so chauvinistisch über mich emporschwingen? Meine Souveränität: Nicht einmal bemerken? Musst Du mich denn wirklich erst zu einem Menschen machen, mit Deinem missionarischen Erziehungsanspruch? Deine Liebe tut gut, aber sie ist auch so giftig. Sie hält mich fest im Unten, im Untermenschen. Der – welche Gnade – ja durch Deine Hilfe, die Du 'Erziehung' nennst, zu einem richtigen Menschen werden kann. Kannst Du mich nicht lieben ohne dieses Zeug? Versuch es – Du schaffst das!“

Ich zeige den Besuchern meiner Vorträge diesen Zusammenhang, mit vielen Bildern, behutsam, nehme sie mit, lade sie ein. Es erfüllt mich, wie es immer wieder geschieht, dass sie angerührt sind, den Pfad der oben-unten-freien Liebe erkennen und sich dieser Liebe zuwenden. Sie bedanken sich nach dem Vortrag mit Handschlag, sie ahnen. Und Ihre eigenen Kindverletzungen beginnen zu heilen.

Doch wenn jemand auf meinem Abend dies nicht mitbekommt, wenn ich ihn nicht erreichen kann, wenn er gar empört dreinfährt „Liebe reicht doch“ – was soll ich dann tun? Ich finde keinen Weg zu so jemandem. Diese Mutter ist sehr unzufrieden gegangen. Aber: es sind ja die anderen Teilnehmer da. Sie begleiten mich, meine Bilder, sehen mein Tor zu den Kindern und finden Zugang zu der Liebe, die ich ihnen zeige.