Mitten im Vortrag
unterbricht mich eine Teilnehmerin: „Sie reden und reden... Ich
versteh das nicht. Es reicht doch völlig, ein Kind in den Arm zu
nehmen. Oder es zu trösten, wenn es traurig ist. Was soll da Ihre
ganze Philosophie?“
Tja. Es reicht völlig, ein Kind zu
lieben. Mehr ist nicht nötig. Ist es so? Da geht mir das Herz auf
bei so einem Urbild: Die Mutter, der Vater, die Oma, der Opa, die/der
wer auch immer nimmt das Kind in den Arm, hält es und die Liebe
flutet. Was soll da mein ganzes Gerede von Souveränität und
Selbstverantwortung, Königskrone und Würde, Adultismus und
Erwachsenen-Chauvinismus? Was sollen da all meine Bilder von
Schweineschnauze, Büffel, Schokohasen, Gesundkraut, Amazonas,
Bahnhofsweg und Co? Liebe reicht.
Ja, wenn es denn so wäre.
Die so wachgerufene Liebe, die von der Mutter vor mir in den Raum
geholt wird, überdeckt alles. Wir sind gefangen und erfüllt von so
einem Bild. Nur, dass ich dabei nicht vergesse, übersehe, wegdrücke,
dass auch die Liebe, die lebt, geschenkt wird, erlebt wird, ja nicht
im luftleeren Raum daherkommt, sondern eingebettet ist oder
hervorgebracht wird in historischem und gesellschaftlichem
Zusammenhang. Und auf der Zusammenhangs-Spurensuche und
Zusammenhangs-Entdeckungsreise bin ich bei einem solchen
Vortragsabend unterwegs. „Kinder sind wunderbar! Unterstützen
statt erziehen“ ist er überschrieben.
Ich rede nicht zum
Thema „Liebe reicht“ oder „Wie sich Kinder lieben lassen“.
Ich rede nicht zum Thema Liebe. Jedenfalls nicht direkt. Dass alles,
was ich an so einem Abend auffalte, mit Liebe zu tun hat, ist schon
klar. Aber ich bin untergründlicher, hintergründlicher als das, was
die Teilnehmerin da im Sinn und in ihrer Assoziation hat.
Die
weiße australische Krankenschwester nimmt das Aboriginebaby
liebevoll in den Arm. Das Kind, das den Eltern weggenommen wird,
damit es „zivilisiert“ aufwächst. Die Mutter in Gambia nimmt
ihre Tochter liebevoll in den Arm, deren Klitoris gerade beschnitten
wurde, damit sie integriert in ihrem Dorf aufwachsen kann. Der
KZ-Aufseher nimmt sein eigenes Kind abends liebevoll in den Arm,
nachdem er den ganzen Tag lang die jüdischen Kinder in die Gaskammer
geschickt hat. Diese Grusel lassen sich fortsetzen, lange fortsetzen.
Liebe reicht eben nicht.
Es geht mir nicht darum, wie man
richtig liebt. Es geht mir darum, was für ein Umfeld um die Liebe
herum existiert. Und da habe ich entdeckt, dass – bei aller aller
Liebe – Demütigung, Herabsetzung, Unliebe gang und gäbe ist in
unserer Kultur. Nicht weit weg, damals in Australien oder im KZ oder
fern in Gambia. Sondern nah und heute, hier bei uns. In Deutschland,
Europa, der westlichen Welt, der Welt schlechthin, überall.
Da
nämlich, wo Kinder noch nicht als ganz richtige, vollwertige
Menschen gesehen, bedacht, gehändelt, gebüchert, gewissenschaft
werden. Wo die Weltformel von der Erziehung gilt. Adultismus nennt
sich das. Oder spitzer: Erwachsenen-Chauvinismus.
„Sieh ein,
ich habe recht“ und „Ich will doch nur Dein Bestes“ sind
Statements, die diese Erwachsene-Oben-Kinder-Unten-Grundhaltung zum
Ausdruck bringen. Das thematisiert mein Abend. Diese
Hintergründlichkeit mache ich bewusst, erzähle davon, lade ein,
dort einmal hinzusehen. Dort einmal in sich hineinzuhorchen.
„Mama
hat Dich lieb“ ist eine Supersache. „Aber musst Du Dich dabei so
betonselbstverständlich über mich setzen? Musst Du mich bei all
Deiner so unendlich willkommenen Liebe so chauvinistisch über mich
emporschwingen? Meine Souveränität: Nicht einmal bemerken? Musst Du
mich denn wirklich erst zu einem Menschen machen, mit Deinem
missionarischen Erziehungsanspruch? Deine Liebe tut gut, aber sie ist
auch so giftig. Sie hält mich fest im Unten, im Untermenschen. Der –
welche Gnade – ja durch Deine Hilfe, die Du 'Erziehung' nennst, zu
einem richtigen Menschen werden kann. Kannst Du mich nicht lieben
ohne dieses Zeug? Versuch es – Du schaffst das!“
Ich zeige
den Besuchern meiner Vorträge diesen Zusammenhang, mit vielen
Bildern, behutsam, nehme sie mit, lade sie ein. Es erfüllt mich, wie
es immer wieder geschieht, dass sie angerührt sind, den Pfad der
oben-unten-freien Liebe erkennen und sich dieser Liebe zuwenden. Sie
bedanken sich nach dem Vortrag mit Handschlag, sie ahnen. Und Ihre
eigenen Kindverletzungen beginnen zu heilen.
Doch wenn jemand
auf meinem Abend dies nicht mitbekommt, wenn ich ihn nicht erreichen
kann, wenn er gar empört dreinfährt „Liebe reicht doch“ – was
soll ich dann tun? Ich finde keinen Weg zu so jemandem. Diese Mutter
ist sehr unzufrieden gegangen. Aber: es sind ja die anderen
Teilnehmer da. Sie begleiten mich, meine Bilder, sehen mein Tor zu
den Kindern und finden Zugang zu der Liebe, die ich ihnen zeige.