Montag, 19. September 2022

Liebe reicht. Nicht.



Mitten im Vortrag unterbricht mich eine Teilnehmerin: „Sie reden und reden... Ich versteh das nicht. Es reicht doch völlig, ein Kind in den Arm zu nehmen. Oder es zu trösten, wenn es traurig ist. Was soll da Ihre ganze Philosophie?“

Tja. Es reicht völlig, ein Kind zu lieben. Mehr ist nicht nötig. Ist es so? Da geht mir das Herz auf bei so einem Urbild: Die Mutter, der Vater, die Oma, der Opa, die/der wer auch immer nimmt das Kind in den Arm, hält es und die Liebe flutet. Was soll da mein ganzes Gerede von Souveränität und Selbstverantwortung, Königskrone und Würde, Adultismus und Erwachsenen-Chauvinismus? Was sollen da all meine Bilder von Schweineschnauze, Büffel, Schokohasen, Gesundkraut, Amazonas, Bahnhofsweg und Co? Liebe reicht.

Ja, wenn es denn so wäre. Die so wachgerufene Liebe, die von der Mutter vor mir in den Raum geholt wird, überdeckt alles. Wir sind gefangen und erfüllt von so einem Bild. Nur, dass ich dabei nicht vergesse, übersehe, wegdrücke, dass auch die Liebe, die lebt, geschenkt wird, erlebt wird, ja nicht im luftleeren Raum daherkommt, sondern eingebettet ist oder hervorgebracht wird in historischem und gesellschaftlichem Zusammenhang. Und auf der Zusammenhangs-Spurensuche und Zusammenhangs-Entdeckungsreise bin ich bei einem solchen Vortragsabend unterwegs. „Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen“ ist er überschrieben.

Ich rede nicht zum Thema „Liebe reicht“ oder „Wie sich Kinder lieben lassen“. Ich rede nicht zum Thema Liebe. Jedenfalls nicht direkt. Dass alles, was ich an so einem Abend auffalte, mit Liebe zu tun hat, ist schon klar. Aber ich bin untergründlicher, hintergründlicher als das, was die Teilnehmerin da im Sinn und in ihrer Assoziation hat.

Die weiße australische Krankenschwester nimmt das Aboriginebaby liebevoll in den Arm. Das Kind, das den Eltern weggenommen wird, damit es „zivilisiert“ aufwächst. Die Mutter in Gambia nimmt ihre Tochter liebevoll in den Arm, deren Klitoris gerade beschnitten wurde, damit sie integriert in ihrem Dorf aufwachsen kann. Der KZ-Aufseher nimmt sein eigenes Kind abends liebevoll in den Arm, nachdem er den ganzen Tag lang die jüdischen Kinder in die Gaskammer geschickt hat. Diese Grusel lassen sich fortsetzen, lange fortsetzen. Liebe reicht eben nicht.

Es geht mir nicht darum, wie man richtig liebt. Es geht mir darum, was für ein Umfeld um die Liebe herum existiert. Und da habe ich entdeckt, dass – bei aller aller Liebe – Demütigung, Herabsetzung, Unliebe gang und gäbe ist in unserer Kultur. Nicht weit weg, damals in Australien oder im KZ oder fern in Gambia. Sondern nah und heute, hier bei uns. In Deutschland, Europa, der westlichen Welt, der Welt schlechthin, überall.

Da nämlich, wo Kinder noch nicht als ganz richtige, vollwertige Menschen gesehen, bedacht, gehändelt, gebüchert, gewissenschaft werden. Wo die Weltformel von der Erziehung gilt. Adultismus nennt sich das. Oder spitzer: Erwachsenen-Chauvinismus.

„Sieh ein, ich habe recht“ und „Ich will doch nur Dein Bestes“ sind Statements, die diese Erwachsene-Oben-Kinder-Unten-Grundhaltung zum Ausdruck bringen. Das thematisiert mein Abend. Diese Hintergründlichkeit mache ich bewusst, erzähle davon, lade ein, dort einmal hinzusehen. Dort einmal in sich hineinzuhorchen.

„Mama hat Dich lieb“ ist eine Supersache. „Aber musst Du Dich dabei so betonselbstverständlich über mich setzen? Musst Du mich bei all Deiner so unendlich willkommenen Liebe so chauvinistisch über mich emporschwingen? Meine Souveränität: Nicht einmal bemerken? Musst Du mich denn wirklich erst zu einem Menschen machen, mit Deinem missionarischen Erziehungsanspruch? Deine Liebe tut gut, aber sie ist auch so giftig. Sie hält mich fest im Unten, im Untermenschen. Der – welche Gnade – ja durch Deine Hilfe, die Du 'Erziehung' nennst, zu einem richtigen Menschen werden kann. Kannst Du mich nicht lieben ohne dieses Zeug? Versuch es – Du schaffst das!“

Ich zeige den Besuchern meiner Vorträge diesen Zusammenhang, mit vielen Bildern, behutsam, nehme sie mit, lade sie ein. Es erfüllt mich, wie es immer wieder geschieht, dass sie angerührt sind, den Pfad der oben-unten-freien Liebe erkennen und sich dieser Liebe zuwenden. Sie bedanken sich nach dem Vortrag mit Handschlag, sie ahnen. Und Ihre eigenen Kindverletzungen beginnen zu heilen.

Doch wenn jemand auf meinem Abend dies nicht mitbekommt, wenn ich ihn nicht erreichen kann, wenn er gar empört dreinfährt „Liebe reicht doch“ – was soll ich dann tun? Ich finde keinen Weg zu so jemandem. Diese Mutter ist sehr unzufrieden gegangen. Aber: es sind ja die anderen Teilnehmer da. Sie begleiten mich, meine Bilder, sehen mein Tor zu den Kindern und finden Zugang zu der Liebe, die ich ihnen zeige.