Montag, 16. Juni 2025

Armer Sünder oder Ebenbild Gottes?

 


Auf meinen Vorträgen erzähle ich:

 

Unser Bild von uns selbst hat viele Facetten. Auch diese ist dabei: Bin ich okay? Kann ich an mich glauben? Kann ich mich lieben, so wie ich bin? Oder kann ich das alles nicht? Die Selbstliebe ist eine Lebenskraft wie der Lebenswille. Wie sind wir unterwegs?  

Nun, Sie wissen, dass Sie Fehler machen können. Dass Sie einsehen müssen, was falsch ist. Dass Sie sich verbessern müssen. Um weiterzukommen, muss man zunächst seine Fehler erkennen. Dann sie korrigieren.  

Man kommt nicht fertig auf die Welt, man muss besser werden, ein besserer Mensch werden. Wenn man das nicht schafft, gibt es Schuldgefühle. Und man holt sich Hilfe. Beratung, Seminare, Therapie, alles Mögliche. 

Aber das geht auch anders.  

»Fehler«: im Alltag schwingt bei diesem Wort etwas Herabsetzendes mit. Im Unterschied zur Mathematik, einer abstrakten Ideenwelt, da gehören richtig und falsch und Fehler zum Regelwerk. Oder bei eindeutigen Verabredungen wie bei einem Hausbau: senkrecht Stein auf Stein, nicht schräg.  

Aber im Alltagsleben ist das Wort »Fehler« ungut befrachtet. Wie »Unkraut«. »Fehler« setzt etwas herab. Nämlich das, was gerade eben noch richtig und gültig war. Die Vergangenheit steht schlecht da, und sie sagt: »Eben war ich gültig, wieso machst Du mich schlecht?«  

Das habe ich verstanden. Alles hat gleichen Wert, Vergangenes wie Gegenwärtiges wie Künftiges. Also schaue ich nicht herabsetzend auf meine Vergangenheit und sage nicht »Fehler« zu ihr, wenn etwas schiefläuft.

Ich erkenne sehr wohl, dass ich etwas jetzt, heute, im Nachhinein anders machen kann als eben. Ich kann mich verändern. Und ich ändere mich ja auch. Aber immer auf einem 100-Prozent-Niveau. Mal gehe ich links herum zum Bahnhof, mal rechts herum. Und wenn etwas daneben geht, mache ich es ja nicht noch mal.  

Aber ich schimpfe nicht mit dem Eben, ich schimpfe nicht mit mir. Ich habe eben aus meinen Gründen heraus so gehandelt – jetzt handle ich anders. Da ist nichts Marke »Fehler« dabei.  

Mit anderen Worten, konsequent und radikal: Ich und auch sonst niemand kann überhaupt einen Fehler machen – weil es so etwas wie einen »Fehler« in den alltäglichen Angelegenheiten nicht gibt. Außer in der Mathematik und Co. Ich kann somit keinen Fehler machen. Ich muss nicht einsehen, dass etwas falsch war.  

Ich muss nichts ändern, aber ich kann. Ich muss nicht »an mir arbeiten«, aber ich kann. Ich muss keine Beratungsstelle aufsuchen und keine Therapie machen, aber ich kann.  

Es ist die Frage, was Sie von sich halten. Armer Sünder oder Ebenbild Gottes? Sie haben die Wahl. Sie entscheiden über Ihr Bild von sich. Ich will Ihnen ja keinen Stress machen. Aber es liegt wirklich an Ihnen. Es ist nicht verboten, an sich zu glauben und sich zu lieben.

Sie können natürlich versuchen, all das Unangenehme und Widerspenstige an Ihnen zu verringern und abzuschleifen. An sich arbeiten, sich erziehen. Durchaus auch mit Hilfe, mit Seminaren, Büchern, Therapien. Damit Sie ein besserer Mensch werden.  

Sie können es aber auch gut sein lassen. Sich gelten lassen mit all den Widrigkeiten und dunklen Seiten, mit all den gruseligen Hörnern, die in Ihrer Seele wachsen und auf dem Kopf zu sehen sind. Wir alle haben so ein Hörnergestrüpp auf dem Kopf. Und gelegentlich kann man dann mal sehen, wie sich dieses Gestrüpp etwas zurechtstutzen lässt.  

Aber niemand muss sich das zum Desaster machen. Sie können sich auch lieben, so wie Sie sind, auch mit diesen ganzen Hörnern. Und wenn Sie dann mit hundert Jahren gestorben sind, dann brauchen Sie eben einen Sarg mit einer Kuppel für all die Hörner. So ist es, und davon geht die Welt nicht unter.



 

Montag, 9. Juni 2025

Sie führt mich durch den Wald und zu den Blumen

 

 

Aus meinem Forschungsprojekt*

 

Kirmes. Petra (12) ist mit mir im Raketenkarussell. Vor einer Stunde habe ich sie mit den anderen aus der Gruppe getroffen. Ich spüre, wie sehr ich noch ein »richtiger Erwachse­ner« bin. Ich merke, dass ich mich so benehme, wie es sich eben gehört, wenn man mit Kindern zur Kirmes geht. Als das Karussell abhebt und wir langsam aufsteigen, dann schneller werden – da sehe ich zu ihr und sie sieht zu mir: und es ist, als löse ich mich mit ihrem Lachen vom Erwachsenenstern, um mit ihr dorthin zu gleiten, wo sie und ihresgleichen leben – in ihre souveräne und fantastische Welt.

Eine Schaukel im Hinterhof. Ich bin mit Melanie (3) nach draußen gegangen. Sie will auf dem Sitz der Schaukel stehen. Ich rücke mir eine Kiste zurecht, dass ich nah sitze und zugreifen kann, wenn sie fallen sollte. Ich soll sie höher schaukeln. Ich bin sehr aufmerksam und konzentriert wegen der »Gefahr«. Für Melanie muss es sehr schön sein. Als sie sich wieder setzt und sich weiter schaukeln lässt, sieht sie mich an – und sie lacht und ist glücklich. Wir sehen uns durch und durch an: sie ist befreit, seit einer Stunde sind wir zusammen, und ich habe sie noch nicht gestoppt. Ich spüre, wie sie hier – beim Schaukeln, wie sie es will – zu sich kommt, wie sie mir ihr Innen zuwendet: »Ich kann die sein, die ich sein will. Du lässt mich Ich sein.« Sie lässt den Kopf nach hinten fallen und macht die Augen zu. Sie setzt sich wieder hin und sieht mich an und lacht. Ich bin glücklich, dass ich mich durch die Ängste der »Gefahr« durchgetraut habe. Ich kann ihr dort begegnen, wo sie jetzt gerade ist.

Es hat geregnet, die Wiesen und der Wald sind feucht. »Wer kommt mit spazieren?« Moni (11) hat Lust. Wir ziehen durch den Wald. Ich lasse mir von ihr zeigen, wie sie dies alles erlebt. Sie führt mich durch den Wald und zu den Blumen. Und sie führt mich zu einer Art des Erlebens zurück, die bei mir in Vergessenheit geriet. Wir überqueren einen Bach, und es ist, als betrete ich verlorenes Land. Die Blume, die wir von dort mitbringen, wächst wieder in mir.

 

  * H.v.S., Kinder sind wunderbar! Münster 2023, S. 168 f. u. 173

Montag, 2. Juni 2025

Und gebe sie dem bunten Leben zurück.

 


Spaziergang mit Freunden, mit Stephan und Friederike. Ich gehe mit ihrer Tochter Charlotte (2) voraus. Charlotte fällt hin und hat sich die Haut aufgeschürft. Sie blutet ein wenig und sie weint.

Was kann ich jemandem Gutes tun, der leidet? Soll ich Charlotte auf den Arm nehmen? Soll ich es wegreden? „Ist doch nicht so schlimm“ oder „Zeig mal“ oder „Das hätte aber auch schlimmer ausgehen können“ oder „Tut es sehr weh?“ Begrüße ich den Schmerz des Kinds mit der gebotenen Höflichkeit? Lehne ich ihn ab? Sehe ich nur Komplikationen? Ist die Ruhe des Spaziergangs dahin? Wie geht es mir? Bin ich verärgert? Bin ich hilflos? „Auch das noch“ oder „Wieso denn?“ oder „Ausgerechnet jetzt“.

Reagiere ich gelassen? Sollte ich gelassen reagieren? Ist Gelassenheit nicht zu kalt und unpersönlich? Kann ich persönlich und gelassen sein? Wenn ich erschrecke, macht ihr das noch mehr Angst. Wenn ich Trostformeln sage wieHeile heile Gänschen“ – was tue ich damit? Ist so etwas ein guter Zauber für kleine Kinder? Was will ich erreichen? Soll Charlotte wieder lachen? Soll sie den Schmerz verlieren, vergessen? Was habe ich gegen Schmerz? Was ist eigentlich überhaupt gegen Schmerz zu sagen? Aber wie kann man nur so etwas fragen! Doch gehört Schmerz nicht zum Leben dazu?

Also: Charlotte fällt hin und es tut ihr weh. Ich bin dabei. Ich helfe ihr auf. Ich tupfe das Blut ab. Ich sehe sie an. Ich nehme sie auf den Arm. Worte? Wozu? Welche Worte?

Wie kann ich jemandem beistehen, der in Not ist? Andersherum: Wie will ich, dass mir beigestanden wird, wenn ich in Not bin? Ich falle hin, die Haut ist aufgeschürft, ich blute. Du bist dabei. Du hilfst mir auf und gibst mit ein Taschentuch, um das Blut abzutupfen. Was wünsche ich, dass Du sagst? Was solltest Du tun, damit es mich tröstet?

Was wollen wir für Hilfe, was wollen wir für Trost? Was will ich, was willst Du? Wer sind wir, wenn wir Trost brauchen? Sollte man das wissen? Will ich wissen, wer ich bin, wenn ich Trost und Hilfe brauche? Ich habe Not und Schmerz, und Du bist dabei. Und ich wünsche mir jetzt von Dir... Es hängt davon ab, wer Du bist, wer Du in meinem Leben bist. Wie unsere Beziehung ist. Wem ich mich anvertrauen kann, zeigen kann, in mein Herz sehen lassen kann, in meine Not und in meinen Schmerz. Wen hätte ich gern dabei, wenn ich gleich hinfallen werde? Wen wünsche ich um mich herum? In guten wie in schlechten Zeiten?

Charlotte fällt hin, ich bin dabei. Hat sie mich ausgesucht? Man muss nehmen, was da ist, und jetzt bin ich da. Und es wird etwas geschehen, mit uns. Sie erlebt ihren Schmerz in meiner Gegenwart, ich erlebe ihren Schmerz in meiner Gegenwart. Meine Antwort kommt aus mir und meiner Beziehung zu ihr, aus unserer beider Realität.

Also: Charlotte fällt hin und ich bin dabei. Sie ist zwei Jahre alt, wir kennen uns ein wenig, ich habe mich über diesen jungen Menschen vor mir eine halbe Stunde lang gefreut, auf unserem Spaziergang. Ich habe ihre Souveränität und Lebendigkeit, ihre Selbstverständlichkeit und ihre Sanftheit wahrgenommen und aufgenommen. Ich habe ihr ohne Worte gesagt, dass mir ihre Gegenwart gut tut. Und ich habe von ihr ohne Worte gehört, dass es für sie okay ist, wenn ich auf dem Spaziergang mit dabei bin. Ich bin dabei, und ich bin einbezogen.

Und so antworte ich auf ihren Schmerz: „Willst du noch einen Keks?“ Und ich sage mit dem Herzen: „Das Leben geht weiter, auch mit blutender Haut. Wo waren wir eben? Wir haben Kekse auf dem Spaziergang gegessen. Ein Keks ist eine feine Sache. Er schmeckt. Schmerz schmeckt nicht. Aber kommt vor. Wenn man hinfällt. Es tut dann weh. Wer hat das gerne? Man kann ihm nicht ausweichen, aber natürlich geht er auch wieder.“

Und ich nehme sie auf den Arm, trage sie ein Stück, frage „Okay?“ Sie nickt. Ich setze sie ab und gebe sie dem bunten Leben zurück.

Und ich? Ich rede mit dem nächsten Stein, über den sie stolpern könnte und mit der nächsten Distel, die sie stechen könnte, um sie ein wenig abzulenken, diese Hindernisse auf Charlottes Wegen im Paradies.

 

Montag, 26. Mai 2025

...dass ich in scheinheiliger Selbstverständlichkeit ihr Menschenrecht beuge.

 

 

 

 

Schultagebuch*

Klasse 6a. Ich bespreche die Notengebung in Bio. Ich schlage vor, dass sie sich selbst einschätzen und dass ich ihre Selbsteinschätzung überprüfe. Sie sind einverstanden. Ich bemühe mich, nicht missverstanden zu werden. Sie müssen sich so einschätzen, „wie ihr es verdient“. Dass Notengeben Unsinn ist, ist mir klar – aber das steht jetzt nicht an. Die Liste geht herum, jeder trägt sich ein. Als ich sie zurückbekomme, ist sie bunt ausgefüllt. Bunt, Filzstiftfarben. Signalisiert mir dieses bunte Papier, dass ich es geschafft haben könnte, den Terror mit den Noten etwas zu entschärfen? Die Noten bleiben ja – aber es ist schon ein wenig anders so.

Ich weiß dabei, dass die ganze Notensache zum Fundament der Inhumanität der Schule gehört. Wie soll sich jemals zwischen einem Erwachsenen und einem Kind eine vertrauensvolle, ehrliche und hilfreiche Beziehung entwickeln, wenn einer der beiden – der Erwachsene – den anderen „objektiv“ beurteilt? Nicht persönlich beurteilt, privat für sich, wie es zu einer Beziehung dazugehört, sondern offiziell, amtlich, mit riesigen Auswirkungen für den anderen? Kontrolle ist jeder förderlichen Kommunikation entgegengesetzt.

Bei den Noten zeigt sich mir die Grundkonstruktion der Schule überdeutlich: Herrschaft von Erwachsenen über Kinder, von Lehrern über Schüler, von staatlichen Funktionären über Bürger. Konkret heißt das: Ich sehe das Kind vor mir an, sage ihm meine Beurteilung – und es muss sich unterwerfen. Nie kann daraus etwas wirklich Förderndes und Hilfreiches werden!

Ich drehe an dieser Barbarei nun so, dass sie sich erst einmal selbst ihre Beurteilung geben und behalte mir das letzte Wort vor – vor allem als Absicherung nach außen. Aber ob sie sich überhaupt diesen Beurteilungen aussetzen wollen – das kann ich nicht fragen. Und doch liegt darin, dass sie dem Beurteilungsverfahren ohne gefragt zu werden ausgesetzt sind, die Anmaßung, die Missachtung, die undemokratische Willkür, die Inhumanität. Und ich realisiere dies!

Ich frage mich, ob ich gegen jede Beurteilung von Lernleistungen bin. Nein, bin ich nicht. Wogegen bin ich? Gegen die Herrschaftsausübung beim Beurteilen. Sie lässt sich aufheben, wenn die Beurteilung freiwillig und zustimmend durch den Beurteilten, also durch das Kind geschieht. „Die in der Schule erbrachten Leistungen müssen doch eingeschätzt werden können“ – unter Missachtung der Würde der Beurteilten? 

Kinder sind Menschen, und „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Grundgesetz Artikel 1) Ich, Lehrer, bin Teil der staatlichen Gewalt. Und was tue ich? Ich schäme mich vor diesen jungen Menschen, dass ich in scheinheiliger Selbstverständlichkeit ihr Menschenrecht beuge.

 

* H.v.S., Kinderkreis im Mai. Die Revolution der Schule, Münster 2006, S. 108 f. (Original: "Der Versuch, ein kinderfreundlicher Lehrer zu ein" 1980)

 

 

Montag, 19. Mai 2025

Fragen wir unsere Kinder, ob sie glücklich sind?

 


 „Bist Du glücklich?“

Einmal ganz abgesehen davon, was das denn sein soll: „glücklich sein“ – irgendetwas Sinnvolles wird da jeder parat haben. Aber die Frage! Sie trifft mich. Sie hält mich an. Sie geht in die Tiefe. Sie dringt vor zum anderen als Person. Wann fragen wir den anderen? Fragen wir unsere Kinder, ob sie glücklich sind? Kann man Kinder überhaupt so etwas fragen? Welche Antwort könnte es da schon geben? Es wird wahrscheinlich etwas seltsam werden, das Gespräch. Wichtiger ist, dass wir uns diese Frage an unsere Kinder selbst vorlegen, im Stillen fragen: Ist dieser Mensch da vor mir glücklich? Mit seinen 2, 4, 6, 8, 10 ... Jahren?

Mit einer solchen Bereitschaft zum anderen sehen, der stillen Frage nach seiner Zufriedenheit, seinem Wohlbefinden, seinem Glück. Die Verwobenheit mit dem Glück des anderen zerrinnt leicht, geht unter im Alltag. Man kann diese Frage aber immer mal wieder hervorzotteln, den Blick zum anderen auf einmal ganz konzentriert werden lassen, ihm nah sein und diese Frage an ihn in sich selbst spüren.

Bin ich glücklich? Die Frage nach dem Glücklichsein geht auch an mich. Selbstliebe lässt diese Frage zu und geht auf mich zu. „Bist Du glücklich?“ frage ich mich, und allein das Kümmern um mich selbst, das in dieser Frage lebt, ist Kraft und Wärme. Das Kümmern um mich selbst spüren und willkommen heißen. Und dabei wie durch Zauberei merken, dass diese Frage nach innen, an mich, auch nach außen geht, mich zu Dir hinsehen lässt und Dich fragen lässt: „Bist du glücklich?“

 

Montag, 12. Mai 2025

Schulzirkus: Ein Eis für die Seele

 

 

 

Ich wurde gefragt, ob ich einen Vortrag zur Schulthematik halten könnte. Da habe ich einen besonderen Aspekt aus diesem weiten Feld herausgesucht, einen zünftigen Titel ausgedacht und einen entsprechenden Text für den Flyer geschrieben:

"Die haben doch einen Knall!"
Vom Umgang mit unangenehmen LehrerInnen

Normalerweise funktioniert die Schule. Aber es gibt oft genug Seltsamkeiten. Eltern halten sich dann lieber zurück, denn wer will es sich mit den LehrerInnen schon verderben? Sie bestimmen schließlich über die Schulkarriere ihrer Kinder. Nur meldet sich dann leicht ein ungutes Gefühl aus Groll, Ohnmacht und Demütigung. Ausgeliefert. Woher kommt das und was lässt sich dagegen tun? Holt die eigene Schulzeit die Eltern ein?

Der Abend will einen Weg aus solcher Hilflosigkeit zeigen. Wie man sich für die Kinder klar erkennbar auf ihre Seite schlagen kann, ohne dass es zum Krach mit der Schule kommt. Wie man loyal die Kinder unterstützt und listig unangenehmen LehrerInnen Paroli bietet. Auf dass man mit dem Schulzirkus etwas entspannter durch die Jahre wandern kann. Und sich über die Netten freut.

*

Der Flyer-Text: so weit, so gut. Aber: Was soll das Ganze? Ich sehe das mit der Schule ja grundsätzlich. Schulzwang contra freie Entfaltung der Persönlichkeit. Das Reichsschulpflichtgesetz aus der Nazidiktatur contra Grundgesetz, Artikel II. Die Kinder sind tagtäglich nicht freiwillig an diesem Ort zusammengepfercht, den man Schule nennt. Gedankenfreiheit, Meinungsfreiheit, Freizügigkeit, körperliche Unversehrtheit: in der Schule in hohem Maße Fehlanzeige für Kinder. Der Lehrer/die Lehrerin ist die Person, die das alles durchsetzt, ein staatlicher Hoheitsträger. Die Ideologie dahinter ist der gängige Adultismus, überhöht in der Pädagogik, gelebt als Erziehung. So weit so klar, hierzu habe ich immer wieder mal etwas im Blog geschrieben, auch ein Buch ("Schule mit menschlichem Antlitz").

Natürlich kann ich einen grandiosen Vortrag über die Schule halten. Nur wer will das hören, sich das antun? Mit dem Leid der eigenen Schulzeit konfrontiert werden? Vorgehalten bekommen, dass jetzt die eigenen Kinder genau diesem Unrecht ausgesetzt sind und man das nicht zu verhindern weiß? Wo man doch Schutz und Trutz für seine Kinder sein will. 

Ich dachte mir, ich knüpfe an etwas an, das die Eltern deutlich vor Augen haben und das sie konkret belastet. Wo ich sie abholen kann, wo ich sie entlasten kann, wo ich ein bisschen Heilung anzetteln kann. Also habe ich die ganze harte Hintergründlichkeit beiseitegeschoben und mir diese eine konkrete und erlebte Sache mit der Ohnmacht vor dem Lehrer herausgegriffen. Etwas, das jeder kennt, etwas, wo jeder nicht weiß, wie er da rauskommen soll, etwas, das einfach weh tut und nicht aufhören will. Solange die Kinder in die Schule gehen. Und solange man als Mutter und Vater selbst wieder mit in die Schule geht.

Ich habe nicht vor Augen, was ich an einem solchen Abend den Leuten sagen werde. Ich meine, wie ich dann, wenn sie vor mir sitzen, in die Thematik gehen werde. Ich will mit ihnen wandern in dem Schuldschungel, und ich will mit ihnen dem Tiger Lehrer und der Anaconda Lehrerin standhalten. Wie geht man mit Ungeheuern um? Schwächer sind wir allemal, sie haben unsere Kinder in der Hand. Freundlichkeit? Einem wilden Tier gegenüber? Humor? Unterwürfigkeit? "Da haben Sie recht" dem Lehrer rüberreichen? Ist es das? Wenn unser Kind angeschrien, bloßgestellt, durch den Kakao gezogen, ungerecht beurteilt, mit negativen Emotionen beworfen, einfach ungut behandelt wird?

Ich will auf jeden Fall klar machen, dass niemand sein Kind verraten muss - auf der psychologischen Ebene. Auf der Handlungsebene: Da lässt sich nichts machen, keine Chance, der Lehrer hat die Macht und er ist die Macht, die Staatsmacht. Man würde sich nur verkämpfen, bei diesen ekligen Alltäglichkeiten. Bei einem exorbitanten Übergriff, wenn er etwa tatsächlich mein Kind geschlagen hat, ist das anders. Jetzt gehts aber um die "Seltsamkeiten" des Schulalltags.

Man kann also nichts unternehmen, wenn man bei Trost ist. Aber den Kindern etwas sagen, das geht schon, etwa: "Da kann ich nichts machen. Lehrer sind schon mal so. Aber"  - und jetzt kommt das Wichtige, was ich vermitteln will - "er hat nicht recht. Ich steh klar auf Deiner Seite, auch wenn ich da nichts machen kann." Reicht das? Für die Eltern? Für die Kinder?

Ich denke schon, dass es viel ist. So etwas offen auszusprechen hat große Wirkung. Ich denke an die Wahrheitskommission in Südafrika. Das Unrecht benennen, das geschieht. Solidarität rüberreichen. Den Eltern zeigen, dass sie nicht allein stehen in ihrer Not: Der Referent (ich also) hält zu ihnen. Den Kindern zeigen, dass sie nicht allein stehen in ihrer Not: Die Eltern halten zu ihnen. Wenigstens das. Wenn sich am Verhalten der Mächtigen schon nichts ändern lässt, dann Klarheit in der Bewertung. Klarheit und Überzeugung in der eigenen Position. Die Eltern da rausholen, aus dieser destruktiven Welt, in die der Lehrer das Kind gesteckt hat und die mit dunkler Resonanz in die Eltern fährt. Auf dass die Eltern ihre Kinder da rausholen können, aus diesem destruktiven Hineinwurf.

"Ok", werde ich sagen, "wenn ein Lehrer so drauf ist, gehen Sie Eis essen mit Ihrem Kind. Sagen Sie Ihrem Kind, dass der Lehrer meint, dass er recht hat. Was aber nur aus seiner Sicht stimmt. Und Sie können noch sagen: 'Wir müssen nicht schlecht reden über ihn, so wie er das mit Dir gemacht hat. Nur dass er aus meiner und Deiner Sicht nicht recht hat. Aber manchmal ist es schlauer, so etwas zu schlucken als einen Streit zu führen, den wir nicht gewinnen können.'"

Reicht das? Es ist mehr als Null. Es ist ein Eis für die Seele.

 

Montag, 5. Mai 2025

...sie will partout nicht ihre Barbie-Puppe abends wegräumen...

 

 


"Meine Tochter ist drei, und sie will partout nicht ihre Barbie-Puppe abends wegräumen. Ich habe es mit allem Möglichen versucht, aber sie tuts einfach nicht. Wie kann ich es schaffen, dass sie die Puppe wegräumt?"
 

Ein Alltagsproblem, Standard. Das Kind tut nicht, was die Mutter will. Ich sehe die Mutter an und nehm die Problematik grundsätzlich auf. Nicht auf der Ebene, dass man die Kinder zwingt, etwas zu tun. Obwohl das ja auch interessant genug ist. Wie zwinge ich einen anderen Menschen, das zu tun, was ich will? Die guten Worte und Kompromisse, klar, werden erst versucht. Aber wenn das Gute/Freundliche/Sanfte/Rücksichtsnehmige/Usw nichts bringt: Dann kann ich verzichten oder eben "mich durchsetzen", wie das so schön heißt. Mit den Mitteln und Mittelchen, die mir dazu einfallen. 

Mir geht es jetzt aber nicht um die Äußere Welt, also die Handlungsebene, wo man "sich durchsetzt", sondern um die Innere Welt, die Seelenebene. Denn dort ist die Mutter unterwegs und weiß nicht weiter, hat sich verkämpft. "Das kann doch nicht so schwer sein, eben die Puppe ins Regal zu stellen" - tausend gute Worte, tausend böse Worte: nichts hilft. Ich soll helfen. "Was soll ich tun, damit sie wegräumt, Herr von Schoenebeck?" 

Innere Welt: Jeder gehört sich da selbst, auch ein Kind, auch diese Tochter. Das kann man anders sehen, und es wird ja auch im - pädagogischen - Umgang mit Kindern anders gesehen. Da sollen die Kinder innerlich, seelenmäßig so sein, wie die Erwachsenen das gern hätten: einsichtig, innerlich folgsam (damit sich daraus dann die Handlungsfolgsamkeit ergibt), brav nennt man das. Wenn ein Kind sich da querlegt, nennt man das ungezogen. Was ja gar nicht geht, Trotz heißt und ausgetrieben werden muss. Die Mutter ist bei ihrer Teufelsaustreiberei gescheitert: Das Mädel denkt - denkt! seelenmäßig - gar nicht daran, die Puppe wegzuräumen. Sie hat ihre eigene Denke, eigene Sicht von den Dingen, und die heißt: Ichräumnichtweg. 

Die Mutter will, dass ich ihr den Zauberspruch verrate, mit dem sie ihr Kind vom Trotzdämon befreien kann. Auf dass ihre Tochter wieder lieb ist. Und dann tut, was doch so einfach ist: die Barbie ins Regal stellen. Liebe Leute! Diese ganze Teufelsaustreiberei ist zwar das Grundelement des traditionellen (pädagogischen) Umgangs mit den Kindern. Und da gibts Pülverchen und Mittelchen und Tipps und Bücher und Seminare und Experten. Aber von der Art bin ich eben nicht. Dafür hält die Mutter mich aber, und deswegen erwartet sie auch einen entsprechenden Pülverchenrat. 

Ich mach nun keine große Theorie mit ihr. Ich sage ihr einfach, was ich davon halte, und denk, da wird schon was überkommen. "Lassen Sie das Kind in Ruhe, Ihre Tochter will halt nicht. Was wollen Sie? Schon klar, Sie wollen, dass die Puppe ins Regal kommt. Wo ist das Problem? Sie machen den kleinen Handgriff einfach selbst." Ich krieg schon mit, dass die Mutter jetzt das Abendland den Bach runtergehen sieht. "Aber..." Bevor ich sie weiterreden lasse, was heißt: die pädagogische Anderswelt sich ausbreiten lasse, zeig ich ihr etwas von meiner Welt: 

"Sie lieben doch ihre Tochter. Sie ist grad nicht im Club der Barbiewegräumerinnen. Heute nicht, mal sehen, was morgen ist. Wenn Sie darangehen, dass sie sich ändern soll, und zwar innerlich ändern soll, was einsehen soll, dann wischen Sie Ihrer Tochter die Königskrone vom Kopf. Denn so, wie das Mädel grade ist, lieben Sie es nicht mehr, Sie sind im Groll mit ihr. Das ist doch ein viel zu hoher Preis. Ja, Sie sind nicht begeistert, aber machen Sie nicht so ein großes Fass auf. Sie müssen die Seele Ihrer Tochter nicht retten, die ist nicht in Gefahr. Ihr Kind will nur, nur! grad mal einen anderen Weg gehen als Sie. Ich finde es nicht richtig, den Willen von Kindern zu brechen, auch nicht auf die ausgeklüngelte "einfühlsame und achtsame" Art. Das ist doch einfach unwürdig. Tun Sie, was Sie tun müssen, auch stinkautoritär wenns nicht anders geht, aber lassen Sie das innere Königtum Ihrer Tochter dabei in Ruhe." 

Und weil sie das nicht versteht, was ich da meine, erklär ich das mit den zwei Ebenen und komme zum Indianer und dem Büffel: Er wird getötet - aber mit Achtung. Der Büffel stirbt nicht würdelos. "Ich kann mein Kind also zwingen, wenn es sein muss - aber es darf seinen Willen behalten?" "Ja", sage ich, "lassen Sie sich nichts bieten. Aber lassen Sie die Seele Ihrer Tochter dabei in Ruhe." Die Mutter sieht mich nachdenklich an. 

Ich bin inzwischen schon weitergewandert, sehe Partnerschaftsprobleme, politische Probleme, ach, all die ganzen Weltprobleme vor mir: Handeln, ja klar, dann verliert die eine Seite. Einer setzt sich durch. Herabsetzen dabei? Ganz sicher nicht. Gilt für alles, vom Klima über Atom über Ausbeutung über Mord und Totschlag: Ich weiß, was ich will und setze mich ein und setze mich durch (wenns denn klappt) - aber die Krone wische ich dem anderen dabei nicht vom Kopf. Auch keinem Barbiepuppenkind.

 

Montag, 28. April 2025

Leidzufügen und Elterntrost

 


 

Wenn Eltern sich durchsetzen, gibt es oft Leid und Tränen. Ein immer wiederkehrendes Thema auf meinen Vorträgen. In meinem Buch „Kinder sind wunderbar!“ schreibe ich hierzu: *


Dieses Leidzufügen beim Durchsetzen ist für die Eltern schwer zu ertragen. Wo sie doch Freudebringer sein wollen. Aber wenn wir das Leid, das wir bei den Kindern verursachen, schon nicht vermeiden können, so gibt es doch wenigstens einen Trost für uns Eltern. Gefunden bei einem großen Vorbild. Die Vorgänge, die ich gleich erzähle, kennen Sie. Ich übertrage sie in eine ungewohnte Perspektive. 

»Hier nicht, macht das woanders.« Streit an einem Sabbat im Tempel in Jerusalem vor 2000 Jahren. Jesus ist nicht begeistert. Die Händler sollen woanders hingehen. »Lass den Unfug, Jesus«, sagen sie, »wir müssen hier verkaufen. Unsere Souvenirs, Ansichtskarten und Sticker. Wir verdienen damit unser Geld und ernähren so unsere Familien.«

»Die Leute kommen hierher, zum Tempel«, fahren die Händler fort, »da ist viel Publikum, und sie kommen nicht morgen, sondern heute am Sabbat.« »Das ist ein heiliger Ort und ein heiliger Tag«, sagt Jesus nachdrücklich. »Ja, für Dich, Jesus, aber wir müssen hier unsere Geschäfte machen, Geldwechseln und so weiter. Jetzt geh weg, Du machst die Kunden verrückt, Du nervst.«

Jesus wird ärgerlich. Er hat freundlich mit ihnen geredet, aber das bringt nichts, die Geldwechsler sehen es nicht ein. Die Geldwechsler könnten ja auch gut finden, was Jesus sagt. Könnten! Tun sie aber nicht. Die Kinder könnten ja auch gut finden, was die Eltern sagen. Könnten! Tun sie aber nicht.

Jesus’ Ärger macht ihn lauter, er schreit die Händler und Geldwechsler an. Die sind entsetzt. Alle Leute sind verschreckt und ziehen sich zurück. Nichts geht mehr, kein Anhänger wird mehr verkauft, kein Geld mehr gewechselt.

Aber die Händler geben nicht auf, sie drängen ihn zurück. Da wird Jesus wütend, er greift nach einer Peitsche, schmeißt ihre Verkaufstische um und drischt auf sie ein. Er verursacht ein riesiges Getümmel – durch ihn entsteht Leid.

Jesus ist für viele Trost und Erlösung. Wie jeder von uns hat er aber auch seine Werte und Grenzen. Zu denen er steht und die er so gut es geht auch durchsetzt. Dabei entsteht durchaus Leid – wie bei den Eltern, wenn sie sich den Kindern gegenüber durchsetzen.

Jesus hat wie alle Kinder auch seine Eltern aufgeregt. Als er zwölf war, haben ihn seine Eltern einmal lange gesucht, er war drei Tage weg. Schließlich fanden sie ihn, und seine Mutter stellte ihn zur Rede:

»Kind, wie konntest Du uns das antun? Dein Vater und ich haben Dich voll Angst gesucht!« (So steht es in der Bibel.) Jesus bekam nicht mit, welches Leid er verursacht hatte. Drei Tage lang hatte er die Eltern versetzt, so vertieft war er in die Diskussionen im Tempel.

Er fragte nur aus seinem Kinderkosmos heraus: »Warum habt Ihr mich gesucht? Wusstet Ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?« Aber »sie verstanden das Wort nicht, das er zu Ihnen sagte«. Kinderkosmos eben. Marias und Josephs Schmerz und ihr Leid der letzten drei Tage wird das nicht gemildert haben, auch wenn Maria »alle diese Wort in ihrem Herzen behielt«.

Und wenn Jesus das passiert ist, wenn auch von ihm Leid ausging, von diesem Garanten und Symbol der Liebe und des Friedens, »dann«, sage ich den Eltern, »seid nicht so besorgt, wenn auch von Euch Leid ausgeht.«



* H.v.S., Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen, Münster 2023, S. 118 ff.


 

Montag, 21. April 2025

Aber mit ihrem eigenen Kopf

 


"Es ist doch gut, wenn man alles erklärt. Immer wieder. Das hab ich von Anfang an gemacht. Aber jetzt sind die Zwillinge in der Schule und wollen endlos diskutieren. Ich bin oft an meiner Grenze. Manchmal schaue ich nachdenklich zu anderen Eltern und werde neidisch. Die ordnen einfach an: Ab in die Wanne! Das klappt dann auch. Bei mir gibts da endlose Diskussionen. Aber das ist doch richtig. Was meinen Sie?

Mit diesem ausuferndem Eingehen auf die Kinder habe ich nichts im Sinn. Mit Diskussionen schon. Aber im Rahmen. Den setze ich. Die Wanne muss eben sein. Wie zig andere Sachen auch. Sie muss sein, weil ich das so will. Weil ich das richtig finde. Weil ich nicht der Dackel meiner Kinder bin.

Die Kinder sind schon die Gelackmeierten. Klarer Fall. Sie wollen keine Wanne, aber ich. Ich versuche, sie mitzunehmen, achtsam mit ihren Wünschen umzugehen, wie das heute so schön heißt. Aber eben im Rahmen, in meinem Rahmen. Und ich habe die Macht: die Wanne gehört mir, und die Kinder – auch. Nicht wirklich, schon klar. "Also rein mit Euch!" Pronto!

Diese ganze Verschleierungssalbaderei der modernen Pädagogik und der sensiblen neuen Eltern: Das rauscht doch gnadenlos an der Realität vorbei. Und das ist auch einfach extrem anstrengend. Die Mutter wird neidisch. Welcher Lehre ist sie da aufgesessen? So einer Mischung aus achtsam, antiautoritär, seelenheilkundig. Na ja, solche Eltern gibt es zuhauf. Aber diese Mutter fragt mich ja, sie ist am Limit, sie sucht Hilfe. Was kann ich ihr geben?

Ich halte ihr nicht meine Position unter die Nase. Das ist ja Feindbild und geht nicht für sie. Ein "Ab in die Wanne!" ist nicht ihre Welt. Ich versuche lieber, ihr einen versöhnlichen Gedanken zu zeigen, einen, der sie mit sich selbst in Frieden bringt.

Ich sage zu ihr: Sie sind halt eine Erklärerin. Solche Eltern gibt es. Bei jeder Elternart gibt es Leichtes und Schweres. Es gibt nicht eine Art, die immer nur Lächeln und Folgsamkeit erreicht. Es gibt die Gegensätze - Wanne ja / Wanne nein - , und es gibt verschiedene Arten, damit umzugehen. Man kann im Elternklub der Diskutierer sein ("Schau mal ..."), oder der Anordner ("Rein da!"), oder der Nachgeber ("Ok, heute keine Wanne"), oder der Schlaumeier (So wie die heute drauf sind, wird geduscht), oder der Abgeber ("Mach Du das mit den Kindern"). Und so weiter.

Sie wissen ja, wo Sie da unterwegs sind. Also. Dann diskutieren Sie. Auch endlos. Und stopfen die Kinder schließlich auch gegen deren Willen ins Wasser. Und jetzt kommt das, was ich Ihnen sagen will: Dabei müssen Sie absolut kein schlechtes Gewissen haben. Sie tun doch, was Sie können. Sie erhalten aber keine Zustimmung zu Ihren Argumenten. So ist es. Aber: Sie wollen doch den eigenen Kopf Ihrer Kinder. Den haben Sie bekommen. Der sagt zwar Nein zu Ihrem Begehren. Aber: Er ist da. Ihre Kinder steigen mit ihrem eigenen Kopf ins Wasser. Unzufrieden, gezwungen, wütend - aber mit ihrem eigenen Kopf. 

 

aus:

H.v.S., Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen, Münster 2023, S. 157 ff. 

 

Montag, 14. April 2025

... und der Baum sieht glücklich aus.

 


Der Kletterbaum ist eine alte Eiche mit wunderschönen Kletterästen. Für große und für kleine Kinder. Ylvi ist 4, wir kommen zum Kletterbaum. Der Stamm ist für das Kind zu mächtig, die Äste sind unerreichbar. „Ich komm nicht dran.“ Ich bekomme das mit, bin aber im Gespräch mit ihrer Mutter Anna Maria. Auch sie bekommt das mit, ist aber im Gespräch mit mir. Ylvis Tonlage ist deutlich. Sie will nicht den Baum, denke ich, sie will Kletter-Event. Meine Wahrnehmung. In Resonanz mit ihren Tönen aus dem Anspruchsland.

Wir Erwachsene sehen uns kurz an und setzen unser Gespräch fort. Ylvi hängt irgendwie am Stamm fest, kein Ast erreichbar, zufrieden sieht sie nicht aus. Sollen wir uns nicht doch kümmern? Oder sollen wir sie ihre Erfahrungen selbst machen lassen? Also uns raushalten, damit sie ihre eigenen Möglichkeiten, Wege, Umwege, Unwege, Dochwege kennenlernt? Damit sie lernt, überhaupt? Mir sind derartige Überlegungen zum Besten der Kinder bekannt, nur zu gut bekannt. Die Situation ist für so eine pädagogische entwicklungsfördernde Aktion geradezu klassisch. Raushalten zum Besten des Kindes. Aber ich bin da ganz woanders.

Ich nehme sie und mich jenseits ihrer Töne und jenseits dieser Förderüberlegungen wahr. Ich bin hier draußen am Baum, Anna Maria ist hier draußen am Baum, Ylvi ist hier draußen am Baum. Jeder tut seine Dinge. Die Großen spielen das Leben: diesmal reden, das Kind spielt das Leben: diesmal kletterbaumen. Lassen wir Ylvi im Stich? Geben wir Ylvi die Chance? Sind wir gemein? Sind wir hilfreich?

 Was will ich wirklich?“ führt in amicatives Land. Und ich merke, dass es mir jetzt gerade nicht recht ist, aus dem Gespräch mit ihrer Mutter auszusteigen. Einmal zum Ast heben reicht ja nicht, das wird noch ein Ast, viele Äste und das Gespräch ist vorbei. Will ich nicht. Ich will noch nicht einmal etwas sagen, ich will eigentlich nicht einmal dahindenken. Jetzt gerade nicht. Nachher kann das anders sein, aber jetzt nicht. Ich schaffe es, bei mir zu bleiben und nach dem Aufnehmen von Ylvis Botschaft und dem kurzen Blicktausch mit Anna Maria weiter in meine Gedankenwelt und unsere Unterhaltungswelt zu wandern. Ich bin stark und standhaft, dieser mächtigen Kindesforderung ein freundliches wortloses unpädagogisches authentisches Nein zu schenken.

Da Ylvis Mutter auch in der amicativen Welt lebt und gerade wie ich unterwegs ist, schwingt unser beider Nein zu den Kind. Ohne jedes Wort. Sicher weiß Ylvi, dass wir sie gehört haben. Sie wird sich ihre eigenen Gedanken dazu machen. Macht sie auch: sie fängt an, sich mit dem Unmöglichen zu beschäftigen. Die Rinde lässt sich klammern, der erste Ast kommt ins Greifbare. Schon ist sie hoch, Ast sieben. Da sitzt sie und schaut umher. Sie lacht, und der Baum sieht glücklich aus.

Als Ylvi beim Runterklettern festhängt, kommt ein Angstton. Beiläufig hebt Anna Maria sie nach unten. Ylvi geht zur Bank, auf der wir sitzen, und kuschelt sich an ihre Mutter. Sie schaut zum Zitronenfalter und fliegt mit ihm in seine, ihre, unsere Welt.

 

Montag, 7. April 2025

Kinderland

 

 

Meine Enkeltochter Klara frage mich, was ich beim „Herausfinden, was Kinder sind“ denn so gemacht habe. Ich erzählte es ihr. Mein Dissertationsprojekt über amicative (postpädagogische) Kommunikation mit Kindern war praxisbezogen. Hier sind sechs kleine Erlebnisszenen von Tausenden.*

*

Es hat geregnet, die Wiesen und der Wald sind feucht. „Wer kommt mit spazieren?“ Moni (11) hat Lust. Wir ziehen durch den Wald. Ich lasse mir von ihr zeigen, wie sie dies alles erlebt. Sie führt mich durch den Wald und zu den Blumen. Und sie führt mich zu einer Art des Erlebens zurück, die bei mir in Vergessenheit geriet. Wir überqueren einen Bach, und es ist, als betrete ich verlorenes Land. Die Blume, die wir von dort mitbringen, wächst wieder in mir.

*

Melanie (3) will Rad fahren. Sie hat ein Rad mit Stützrädern. Ich soll sie schieben. Ich fasse in die Mitte des Lenkers und tue es. Wir wandern so eine Dreiviertelstunde. Durch die Straßen bis zum Feld. Sie kennt sich aus. Sie sagt mir, wo es langgehen soll. Ich staune, dass sie so gut Bescheid weiß.

Ich mache eine Entdeckung. Sie will meine Schiebekraft, nicht meine Führung. Ich soll nicht lenken beim Schieben. Ich soll nur schieben. Immer wieder ertappe ich mich, dass ich drauf und dran bin, beim Schieben auch zu lenken. Zehn Zentimeter vor dem Gitter dreht sie den Lenker, und ich hatte mich schon zum Stoppen bereit gemacht.

Einmal kriegt sie die Kurve nicht hin. Ich sah es kommen und habe es geschafft, nicht einzugreifen. Sie sieht mich an - tja, Rückwärtsgang!

 *

Jessica (8) war ein paar Tage bei ihrer Tante in den Ferien. In dieser Zeit habe ich am Buch gearbeitet und auch etwas Aktuelles über ihre Schwester Diana (5) geschrieben. Als ich Jessica erzähle, dass Diana im Buch vorkommen wird, merke ich, dass sie auch gern vorkäme. „Leider warst Du nicht da“, sage ich.

Als sie nach Hause geht, denke ich nach. Jessica wäre auch gern im Buch. Warum nicht? Wo ist da das Problem? Ich kann doch tun, was ich will. Und ich kann mit Jessica so spielen, wie wir das wollen. Sie hat einen Wunsch, und ich kann ihn erfüllen. Ich nehme ein Beispiel aus dem Text und schreibe dies hier. Morgen werde ich sie damit überraschen.

*

Die Zwillinge Yvonne (7) und Karina (7) hatte ich auf dem Geburtstag von Meike (8) kennengelernt. Eine Woche später bin ich bei Freunden und sehe sie wieder. Nachbarskinder. Ich repariere an meinem Auto rum. Sie kommen und helfen Rost abzuschmirgeln. Es ist schönes Wetter. „Wenn Ihr Lust habt, fahren wir ein bisschen raus“, schlage ich vor. Sie haben Lust, und ruckzuck fahren wir los. Ich sage meinen Freunden Bescheid.

Wir fahren zum Kanal und sehen den Schiffen zu. Ringsum sind Wiesen. Es ist warm und wunderschön. Sie erzählen von wichtigen Dingen und ich habe Zeit zum Zuhören. Sie werfen Steine ins Wasser, sammeln Blumen, malen Bilder in den Sand. Wir haben uns getroffen und sind losgefahren.

*

Tanja (3) wohnt ein Stockwerk unter uns. Wir sehen uns gelegentlich. Heute ist sie nach oben gekommen und hat geklingelt. Ich mache auf. Sie hat einen Ball mitgebracht. Ich knie mich hin und sehe sie durch die Wohnungstür draußen im Treppenflur. Wir sehen uns an. „Hallo“, sage ich. Sie lacht. Sie kommt auf mich zu, bis zur Tür, und gibt mir den Ball. Ich rolle ihn ihr zu. Sie freut sich riesig, und wir spielen eine Viertelstunde. Dann wird sie gerufen und geht zurück.

*

Heike (4) kommt zu mir auf den kleinen Berg, der von den Bauarbeiten noch da ist. Ich sitze dort in den Blumen und spiele Mundharmonika vor mich hin. Es ist Fete, Freunde haben mich eingeladen. Als es mir mal zu viel wird und ich einen Moment Ruhe brauche, gehe ich ein Stück abseits auf den Erdhügel.

Ich freue mich über Heikes Besuch. Sie setzt sich einfach neben mich und hört zu. Dann kramt sie im Sand. Ich mache sie auf Scherben aufmerksam und merke, dass sie es nicht als Verbot auffasst.

Später, als ich wieder bei den Erwachsenen bin, soll ich mal mitkommen. Aufs Feld. Sie zeigt mir einen wild bewachsenen Tümpel. Ich fühle mich geehrt. Auf dem Rückweg frage ich sie, ob sie mich führt, wenn ich die Augen zumache. Sie versteht und tut es. Ich spüre, wie ich ihr Schritt für Schritt mehr vertraue.

Als mir einmal ein Ast durchs Gesicht streift, fällt mir ein, dass sie ja so viel kleiner ist als ich. „Sieh mal ab und zu nach oben, damit ich mit dem Kopf nicht irgendwo anstoße“, sage ich. Als ich nach Hause muss, schenke ich ihr die Mundharmonika.


* aus meinem Buch „Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen“, Münster 2023,  S. 235, 242, 247 f.

 



 

Montag, 31. März 2025

verschwinden tausend und tausend unterschiede

 

 




wenn wir uns
als die personen
sein lassen können
die wir sein mögen
dann verschwinden
tausend und tausend
unterschiede
 
 
 
H.v.S., zauberpfade, Münster 2001, S.107

 

Montag, 24. März 2025

Wir leben in einer schultraumatisierten Gesellschaft

 


Schule – ein wirklich weites Feld. In der Schule passiert viel Gutes. Und in der Schule passiert viel Schlechtes: Es gibt so etwas wie Schuldemoralisierung und das Schultrauma. Ich sage: Wir leben in einer schultraumatisierten Gesellschaft. Darüber habe ich einmal ein Bild gemalt.* (Vor langer Zeit – und deswegen kommt nicht "Indigene" vor, sondern "Indianer".)

*

New Mexico, im Sommer. Sie machen Ferien in Amerika. Und da Sie sich schon immer für die indianische Kultur interessiert haben, besuchen Sie die Navajos in der Four-Corners-Region und halten sich nun schon drei Wochen bei ihnen auf, in der Reservation am Mount Taylor. Sie haben viel gesehen und unternommen und neue Freunde gewonnen.

Eines Tages fragt Sie Ihr indianischer Freund Tatanga, ob Sie sich nicht einmal das Museum anschauen wollen. „Ihr habt ein Museum? Klar, das interessiert mich!“ Sie sind gespannt und erwarten neue Einblicke in die Lebenswelt der Indianer.

Nach einer Weile Fahrt durch die faszinierende Landschaft kommen Sie zu einem schlichten Holzhaus. Es ist schon älter, wirkt aber gepflegt. Niemand ist da, der Sie und Ihren Freund begrüßt, aber die Tür ist offen, und Sie gehen hinein. Der Raum, den Sie zunächst betreten, sieht wie das Klassenzimmer einer Schule aus. Bänke, Stühle, eine Tafel, einige Bücher. Wahrscheinlich werden hier Vorträge zur Geschichte der Indianer gehalten. Nach einem kurzen Blick in die Runde wollen Sie den Raum verlassen, denn es gibt nichts besonderes zu sehen.

Aber Tatanga macht keine Anstalten hinauszugehen. Er steht mit ernstem Gesicht in der Nähe der Tafel und sieht aus dem Fenster. „Lass uns hier weggehen, das ist doch nur der Raum für Vorträge. Wo sind die Exponate?“, sagen Sie. Doch Ihr Freund verzieht keine Miene und rührt sich nicht. „Was ist los?“, fragen Sie. „Wir sind im Museum“, sagt er. „Na klar“, antworten Sie, „aber hier ist doch nichts. Zeig mir die richtigen Räume.“

Tatanga dreht sich zu Ihnen um und sieht Sie voll an. „Du bist im Museum. Es ist hier, dieses Haus, auch dieser Raum. Unser Museum ist eine Schule.“ „Wieso – eine Schule?“ Sie sind enttäuscht. Was ist an einer Schule interessant? Ihr Gesicht spiegelt Unverständnis. Tatanga lächelt. „Ich weiß, dass Du jetzt enttäuscht bist. Aber dies hier ist wirklich unser Museum. Weißt Du, in diesem Haus wurden die Eltern meiner Großeltern, meine Großeltern und auch noch meine Eltern unterrichtet. Von weißen Missionaren und Lehrern. Sie sollten 'zivilisiert' werden. Mit Eurer Kultur. Mit Eurer Denkweise. Sie mussten Eure Buchstaben lernen. Eure Art, die Welt zu sehen. Ihre kulturelle Identität - ihre Persönlichkeit ...“ Er schweigt, und dann sagt er leise: „Zumindest haben sie es versucht.“

Sie stürzen in einen Strudel voller Gefühle. Ihr abstraktes Wissen vom kulturellen Imperialismus der Weißen wird hier konkret, an diesem Ort: Hier, in diesem Raum fand das alles statt. Die Präsenz dieser Ungeheuerlichkeit nimmt Ihnen den Atem. Empörung, Wut, Hilflosigkeit und tiefe Scham branden auf. Sie fühlen das Leid, das Entsetzen, die Ohnmacht dieser Menschen. Sie hören die Kommandos der Lehrer, das unbeugsame leise und laute Nein der Kinder, die verzweifelten Schreie der Mütter, denen die Kinder von den Soldaten aus den Zelten gerissen werden, und Sie spüren den unendlichen Zorn und die bodenlose Hilflosigkeit der Väter. Sie sehen den Kampf dort und das Niederringen der Seelen hier.

Die Brutalität und Demoralisierung dieser „Zivilisierung“ springen Sie an. Wie in Trance starren Sie in den Raum, und als Sie endlich zu Tatanga sehen, ist er nicht da. Sie verlassen das Museum, dieses Mahnmal gegen die Unmenschlichkeit, setzen sich unter einen Baum und überlassen sich erschöpft Ihren Gefühlen. Und Sie verstehen.

Als Sie Welten später aufblicken, sehen Sie die stolzen Indianerkinder von damals vor sich stehen. Sie schauen sich an. Und auf einmal verstehen Sie wirklich: „Das stolze lndianerkind – das bin ja ich!“ Tränen schießen Ihnen in die Augen. „Auch ich wurde in ein solches Haus geschafft. Auch vor mir stand ein Lehrer. Auch ich wurde gebeugt und gebeugt und gebeugt. Subjekt, Prädikat, Objekt. (a + b) x (a + b). Schule. Jeden Tag.“ Und Sie halten sich selbst fest. Ganz fest.


* H.v.S., Schule mit menschlichem Antlitz, 2001, S. 78 ff.


 

Montag, 17. März 2025

Dann höre ich auf nachzudenken



Es ist Nacht. Ich bin draußen, in den Feldern. Ich liege auf meiner Isomatte und bin warm angezogen. Ich habe ein Kissen unter dem Kopf und sehe. Das Nachtdunkel, und darin die Sterne. Lichter, Punkte, größere, kleinere. Einige erkenne ich wieder, Orion, Plejaden, Wagen, Himmels-W. Jupiter ist nicht zu verfehlen. Halbmond. Von den Lichtpunkten über mir weiß ich, dass darunter unzählige Galaxien sind, die ich nur als Punkt wahrnehme. Milchstraßen, mit Übermillionen Sternen. Und dass es Übermillionen Milchstraßen gibt. Dann höre ich auf nachzudenken.

Ich lasse mich fallen in diese Dunkelheit mit den Lichtern. Wer bin ich – wer seid ihr? Was passiert in mir? Es ist eine grandiose Harmonie, die ich wahrnehme. Ich komme mehr und mehr zu mir. Meine Nähe zu mir ist meine Nähe zum Universum. Meine Nähe zu mir kommt als Selbstliebe daher, meine Nähe zum Universum als Vertrauen und Vertrautheit. Ich bin mit all diesem in Beziehung, Verbindung, Resonanz.

Es muß sich nichts ändern. Es kann sich alles ändern. Und es ändert sich ja auch immer wieder. Sterne vergehen und entstehen. Meine Wege lösen sich auf und beginnen neu. Meine Winzigkeit hier unten ist mein Universum, und ich nehme die Zuversicht der Sternenwelt gegen meine Verzagtheiten. Wo der Klang der Großen Liebe aus den unendlichen Tiefen des Kosmos meine Selbstliebe zum Schwingen bringt.

 

Montag, 10. März 2025

70 mal Amication


 

Was ist Amication? Wie wird man ein amicativer Mensch? Wie kommen amicativ aufwachsende Kinder mit der Welt zurecht? Was bedeutet Amication für die Partnerschaft? Wie sieht eine amicative Schule aus? Gibt es Vorläufer der Amication? Worin liegt der Gewinn der Amication? Wie steht Amication zur Gewalt? Ist Amication egoistisch? Woher nehmen amicative Menschen ihre Sicherheit? Ist Amication nur etwas für Privilegierte? Wem dient Amication? Welche Quellen hat Amication? Was ist für Amication Wahrheit? Wie sieht die amicative Gesellschaft aus? Können amicative Menschen Fehler machen? Wie lernt man Amication? Wer sagt, was Amication ist? Gibt es keinen Hass mehr in der Amication? Gibt es in der Amication Werte? Ist Amication autoritär? Wieso ist Amication keine Erziehung? Gibt es konkrete Auswirkungen amicativer Kommunikation? Wie merken die Kinder die amicative Einstellung? Was sind die Eckdaten amicativer Ethik? Hat es Korrekturen innerhalb der Amication gegeben? Gibt es Essentials für die Amication? Sind die Aussagen der Amication Ziele? Lassen sich die Aussagen der Amication hier und heute realisieren? Was muss man mitbringen, um amicativ leben zu können? Wie kann man Amication gut erklären? Wieso kommen nicht mehr Menschen auf amicative Gedanken? Welchen Einfluss hat Amication auf die Selbstliebe des Kindes? Welche gesellschaftlichen Auswirkungen hat die amicative Sicht? Gibt es neue Entwicklungen in der Amication? Gilt Amication schon bei Säuglingen? Wie würden amicative humanwissenschaftliche Institute der Universitäten aussehen? Welche gesellschaftliche Utopie entwirft Amication? Benötigt Amication Strafgesetze? Gibt es in anderen Kulturen amicatives Gedankengut? Gibt es im abendländischen Kulturkreis amicative Nischen? Was sagt Amication zu Krankheiten? Zu Krebs? Zu Aids? Welche Einstellung hat Amication zum Tod? Welchen Stellenwert hat für Amication der alte Mensch? Welche Bedeutung haben für amicative Menschen Verabredungen und Treue? Demut und Dienen? Warum engagieren sich Menschen für die Verbreitung der Amication? Wie lange wird es Amication noch geben? Ab welchem Alter kann man mit Kindern über die amicative Theorie reden? Worin sind die Widerstände gegen Amication begründet? Ruft Amication Ängste hervor? Mit welchen Argumenten kann Amication Andersdenkende überzeugen? Welche Argumente haben Andersdenkende gegen Amication? Muss sich der Erwachsene ändern, um amicativ leben zu können? Wem nutzt die Sicht der Amication, dass der Mensch konstruktiv ist? Wieso gibt es in der Amication keinen wirklichen Gegensatz von Gut und Böse? Haben Kinder ein amicatives Bewusstsein? Welche Fragen sind für amicative Menschen nicht mehr wert, dass über sie nachgedacht wird? Haben gesellschaftliche Faktoren Einfluss auf die amicative Position? Müssen erst gesellschaftliche Strukturen geändert werden, um amicativ leben zu können? Ist Amication ein gesellschaftlicher Faktor? Wird die amicative Erkenntnis bei ihrer Umsetzung in die Praxis verschlissen? Wieso ist Amication eine kulturelle Auswanderung? Welche Macht hat Amication? Kann Amication Ängste befrieden? Was ist amicativer Frieden?

 

Montag, 3. März 2025

Am nächsten Morgen gibt es keine Schimpfe mehr

 


Alltag mit Kindern, Wohnzimmer. „Was machst Du denn da? Wie sieht's denn hier aus? Das glaub ich nicht!“ Kerstin sieht entgeistert zu ihrer Dreijährigen und ist sprachlos. Bis auf das, was gerade ausbrach.

Melanie, mit sich und ihrem Spiel in Harmonie, kniet auf dem Teppich, steht auf. Langsam, sie nimmt die Magie ihrer Königsaura mit nach oben, sie steht und sieht ihre Mutter voll an. Die rechte Hand erhoben, Handfläche nach vorn. Und sanft, klar, majestätisch: „Nicht in diesem Ton.“ Stille. „Mama, nicht in diesem Ton.“

Melanie spricht von innen. „Du könntest doch auch mal sehen, was ich hier geschafft habe.“ Hand und Arm machen einen Bogen. „Das ist der Teppich. Und das ist der Pudding. Und das ist die Autobahn. Zwei Spuren. Langsamspur, Überholspur, Ausfahrt, Einfahrt. Und da ist die Tankstelle.“ Melanie steht königlich da. Kerstin ist gebannt.

Melanie bleibt online: „Okay, ich seh ja, dass Dich das nervt. Schon gut. Ich helf auch, dass es wegkommt. Ich hol den Eimer und den Lappen.“ Melanie macht ein etwas besorgtes Gesicht, Kerstin rührt sich noch immer nicht. „Mama, ich mach's auch nicht nochmal.“ Kleines Nachdenken. „Jedenfalls nicht mit Schoko. Vanille muss ich noch mal sehen.“

Parallelwelt, zeitgleich: „Nicht in diesem Ton.“ Stille. „Mama, nicht in diesem Ton“. Melanie erklärt ruhig, freundlich und geduldig: „Ich weiß ja, dass Du nicht anders kannst. Und ich habe das drei Jahre mitgemacht. Aber jetzt ist es mal gut. Ja, wir leben in einer Schimpfkultur. In der Menschen herabgesetzt werden. Kinder sowieso.

Aber Du könntest ja auch mal sehen, was ich hier geschafft habe. Und was auf meinem Kopf ist: eine Krone. Meine Krone. Würde. Ich bin ein Mensch, mit Würde. Und ich möchte diese Töne nicht mehr. Kannst Du das lassen, einfach weglassen, hinter Dir lassen, ins Museum bringen? Du bist doch selbst mit diesem Tönen groß geworden. War doch auch für Dich nicht schön. Okay, Du lässt sie weg? Das kannst Du.“

Kerstin schießen Tränen in die Augen. Sie fühlt es wieder, diese Herabsetzungswucht ihrer eigenen Kinderzeit. Aus erstarrter Tiefe bricht es auf. „Auch ich wurde so angefaucht.“ Schmerz überwältigt sie. Sie weint heftig. Sie nimmt Melanie in den Arm, kurz.

 Sie muss ihren Tsunami loswerden. Stürzt zum Handy, ruft Irene, ihre beste Freundin an. „Weiß Du, was mir gerade passiert ist?“ Sie erzählt. Und Irene versteht. Auch sie weint. Und telefoniert ins Land. Es gibt eine Telefonlawine. Rund um die Welt. Am nächsten Morgen gibt es keine Schimpfe mehr.







 

Montag, 24. Februar 2025

Beim nächsten Mal bin ich schlauer!

 

 

Wir spielten ein spannendes Schreibspiel, mein Enkel Johann (6) und ich. Es wurde mit 7 Würfeln gewürfelt, dann konnten je nach Symbol und Zahl bunte Kästchen auf einer Karte angekreuzt werden. Das war alles nicht so einfach, es gab bei jedem Wurf wirklich viele Möglichkeiten. Wir waren konzentriert und ins Spiel vertieft.

Dann kam sein Bruder Yann (9) vom Fußball nach Hause. Er setze sich neben uns. Ich sah es kommen: er würde sich mit seiner Übersicht und seinem Know-how einmischen. Was er auch tat, und natürlich waren seine Ratschläge richtig. Und natürlich störte uns das, wir beide hatten unsere eigenen Spielzüge im Kopf.

„Du kannst zusehen, aber halt die Klappe. Wir wollen alleine spielen“, war dann auch meine Ansage. Das ging eine halbe Minute gut, dann kam der nächste Tipp. „Halt die Klappe!“. Das half wieder nur eine halbe Minute. „Geh woanders spielen!“ – ich wollte, dass er aus dem Zimmer ging und uns unser Spiel machen ließ. Als er nach fünf Unterbrechungen einfach nicht aufhörte, schleppte ihn sein Vater unter Protest aus dem Raum.

Die gute Stimmung war dahin, wir haben dann auch rasch aufgehört. Abends kam ich ins Nachdenken. Yann sollte Respekt haben vor unserem Wunsch, allein zu spielen, ohne ihn zu spielen. Er sollte respektieren, dass seine Expertise nicht erwünscht war, dass er (so) jetzt nicht erwünscht war. Und das war zu viel für ihn. „Aber das muss er doch einsehen, dass er uns in Ruhe lassen soll.“ Sah er aber nicht ein.

Wie unrealistisch war das denn? Und zwar von mir! Wenn der Regen kommt und ich nicht entsprechend ausgerüstet bin: dann soll er wegbleiben? „Du bist jetzt nicht erwünscht!“ Ja, morgen kann es wieder regnen, ich habe nichts gegen Regen, er ist wichtig und ich schätze ihn. Aber nicht jetzt. Jetzt soll er gehen. Tut er aber nicht. Er sieht es nicht ein, sieht es einfach nicht ein.

Aber ein Kind ist kein Ding wie Regen. Ein Kind ist ein Mensch, und Menschen können etwas einsehen, Respekt und Achtung vor den Wünsche anderer aufbringen. Mein Vergleich passt nicht. Passt nicht?

Wenn ich zu zweit spielen will und ein Dritter kommt dazu – dann kommt er mit allem, was er ist. Und dieses Kind, das dazu kam, war in dieser Situation ein Ich-mach-mit-Kind. Kein Ich-sehe-nur- zu-Kind. Ich habe diese Realität nicht gesehen, nicht geachtet. Was ich ja auch nicht muss. Was ich aber auch kann, könnte. Ich hätte ich den Nachmittagsfrieden herbeizaubern können: „Dann machst Du halt mit“.

Wie immer habe ich es in der Hand, wie mein Weg weitergehen soll. Ich muss ja bei Regen nicht ohne Anorak losgehen. So dumm werde ich nicht sein. Heute war ich so dumm. Das nehme ich mir nicht übel, aber beim nächsten Mal bin ich schlauer. Und wie gut, dass Yann es mir nicht übel nahm!



Montag, 17. Februar 2025

Ist das ein – Erziehungsplanet?

 


Auf meinen Vorträgen habe ich viele Sprachbilder, hier kommt das Bild von den zwei Planeten. 

*

Sie (die Zuhörer) sitzen auf der Wolke und erfreuen sich Ihrer Entwicklung, plaudern mit dem Klapperstorch. Nach neun Monaten kommt Petrus und sagt: „Es ist so weit. Morgen ist Eure Geburt.“ „Oh prima!“ Alle Babys freuen sich. „Ich muss noch etwas mit Euch besprechen“, sagt Petrus. „Ich habe zwei verschiedene Planeten zur Auswahl. Ihr könnt Euch aussuchen, wo Ihr hinwollt.“ „Erzähl mal“, sagen die Babys.

„Also", sagt Petrus, „auf dem einen Planeten gehen die Menschen davon aus, dass Ihr Euch erst in achtzehn Jahren zu vollwertigen Menschen entwickeln werdet. Und damit das auch klappt, erziehen sie Euch. Sie fühlen sich für Euch verantwortlich, für Eure Entwicklung und Menschwerdung. Sie glauben nicht, dass Ihr schon vollwertige Menschen und selbstverantwortlich seid.“

Die Babys sind perplex. „Die meinen im Ernst, dass wir nicht selbst für uns die Verantwortung tragen können? Dass wir keine selbstverantworlichen Wesen sind? Was haben wir denn die neun Monate hier gemacht? Ist das ein – Erziehungsplanet?"

„Auf dem anderen Planeten“, erzählt Petrus weiter, „gehen die Menschen davon aus, dass Ihr selbstverantwortliche Wesen seid. Dass Ihr Souveränsein in den neun Monaten Eurer Entwicklung gelernt habt und als voll ausgebildete Selbstverantworter auf die Welt kommt. Sie wissen natürlich, dass Ihr immer nur von Eurem jeweiligen Wissen ausgehen könnt. Dass ihr Erwachsenenwissen und Euer Babywissen verschieden sind, dürfte wohl klar sein. Und deswegen wird es vieles geben, wo sie und Ihr zu unterschiedlichen Einschätzungen und Entscheidungen kommt. Sie werden bei vielem, was Euch wichtig ist, nicht mitmachen und Euch daran hindern, es zu tun. Aber sie stellen dabei niemals in Frage, dass Ihr diese Fähigkeit zur Selbstverantwortung habt, von Anfang an. Es ist ein Souveränitätsplanet. Ihr könnt entscheiden, auf welchen Planeten Ihr kommen wollt.“

Ich sitze mit meinen Freunden im Kreis und wir haben Petrus zugehört. „Also, ich will zu dem zweiten Planeten“, sage ich. Alle anderen Babys wollen das auch, niemand will zum Erziehungsplaneten. Wir sind uns einig, dass es voll daneben ist, in einer Erziehungswelt aufzuwachsen. Wir wollen zum Souveränitätsplaneten.

Petrus druckst herum. „Tja, ich habe erwartet, dass Ihr so reagiert. Nur leider gibt es den zweiten Planeten nicht in erreichbarer Nähe. Ihr versteht schon: kulturelle Zeitverschiebung. Den gibt es erst in 100 Jahren wieder. Aber ich habe ein paar Eltern, die das jetzt schon so sehen wie in 100 Jahren. Ich schau mal, wie viele freie Plätze ich habe...“


Montag, 10. Februar 2025

Nachtbotschaft - erkennbar paradox

 


Wenn wir etwas erreichen wollen, müssen wir etwas dafür tun. So etwas will im rechten Verhältnis sein: Geben und Nehmen, Bemühen und Erhalten. Das ist eins von vielen Grundmustern des Lebens. Wie soll auch geschehen, was ich will, wenn ich mich nicht dafür einsetze und etwas dafür tue? 

Heute will ich nachts in den Wald zum Meditieren. Was ich dafür tun muss: nun, ich mache mich auf den Weg, schaffe den Weg, komme an. Den Weg zurücklegen ist der Einsatz, um in den Wald zu kommen. Hab ich ja auch gut erledigt. Ich bin angekommen und beginne mit dem Nachsinnen.

„Du musst Dich nicht bemühen.“ Sanft und langsam, ein Hauch. Wortlos noch, kein Satz. Aber es formt sich. Ich erkenne dann mit Worten, was sich mir mitteilt. Es ist der Wald, die Nacht, der Zauber der Stille, das Wesen der Ruhe. Was auch immer es ist: es ist nicht zu überhören. Und es spricht mich an. Und ich lasse mich ansprechen und höre zu.

Es ist eine sehr gewisse, machtvolle und ruhige Botschaft. Sie will nicht gehört werden: sie ist da und kann gehört werden. Sie ist fest verankert in der Energie der Konstruktivität. Sie ist Vertrauen. Alles steht mir zu, alles wird mir zufließen, alles wird mich tragen. Es ist etwas Freundlich-Schelmisches dabei, etwas Verschmitztes. Weil es so selbstverständlich ist und weil es so schwer zu merken ist. 

Wenn ich mich bemühe, entferne ich mich. Ich bin dann nicht dort, wo ich sein will, sondern ich bin im Dorthin-Eilen. In der Mühe eben. Es ist so ungewohnt: Alles fließt mir zu? Das stimmt doch gar nicht. Ich will so vieles erreichen und bemühe mich unentwegt. „Musst Du nicht tun. Lass Dich in Ruhe. Du liebst Dich doch. Dann tu es einfach. In allem und jedem. Vertrau dieser Kraft. Mehr ist nicht zu tun.“ 

Es ist eine seltsame Botschaft heute Nacht. Gegen alle Logik und Lebenserfahrung. Erkennbar paradox. Wirklich? Ich habe auf einmal Zugang zu dieser Widersprüchlichkeit, sehe ihre Harmonie und fühle mich wohl und willkommen in dieser Zauberei. In dieser Realität der Liebe. Ja, ich habe vom WU WEI von Lao Tse gehört. Ist es das? Ist im Bemühen zu viel Misstrauen, ganz grundsätzlicher Art? 

„Du musst Dich nicht bemühen“ kommt aus tiefer Liebe zu mir selbst, aus dem Vertrauen in das Leben und den Sinn. Dem ich nachgeben kann, hier im Dunkel der Nacht, in der Konzentration der Stille und dem Atem des Waldes. Es ist ein Raum, der ja auch da ist, und in den ich gehen kann, wenn ich das will. Ich entscheide, wie immer, welchen Weg. 

„Es erfüllt sich. Es wird schon. Es kommt so, wie es richtig ist. Es geht gar nicht anders. Dein Bemühen hält das Fließen nur auf. Lass es geschehen.“ Alles sehr fremd. Alles sehr vertraut. Eine Gewissheit jenseits der Erklärung. Alltagstauglich? Auf dem Rückweg lasse ich dieses Befragen. Ich lasse es einfach gelten und zu mir gehören. Ich habe verstanden: Ich muss mich auch nicht bemühen, das alles zu verstehen. Wahrheit kommt auf vielen Pfaden.

 

Montag, 3. Februar 2025

Hallo, ich ertrinke!

 

 

Aus der Zeit meiner Feldstudie zur Erkundung amicativer Kommunikation mit Kindern. Es ist Anfang Mai ...

*

Wir sind am Baggersee. Britta, Elke, Holger, Oliver, Sandra - zwischen sieben und zehn Jahre alt - und ich. Wir haben ein Feuerchen gemacht und rösten Kartoffeln. Um das Feuer auszumachen, holen wir Wasser aus dem See.

Das Wasser interessiert sie. Erst geht Oliver mit seinen Gummistiefeln am Ufer lang. "Pass auf, dass Dir kein Wasser reinschwappt." Ich habe Angst, er könnte sich erkälten - meine Erwachsenenangst. Dann will auch Elke im Wasser laufen. "Kann ich Deine Gummistiefel haben?" Sie sind im Auto.

Ich habe Bedenken: sie lässt Wasser reinlaufen, sie bekommt nasse Füße, die anderen wollen auch. Aber o.k., ich gebe sie ihr. Was ist mir wichtiger: meine Gummistiefel, die ich ja zu Hause wieder trocknen kann, oder Elkes Wunsch?

Elke geht dorthin, wo es für meine Stiefel zu tief ist. Sie setzt sich über mein "Kein Wasser in die Stiefel" hinweg. Ich akzeptiere: Wenn es ihr Spaß macht, sie ist mir wichtiger. Das ist ein Signal. Auch Oliver lässt seine Stiefel volllaufen. Mein Ärger, dass dies nun doch passiert, hält sich die Waage mit meiner Freude über den Spaß, den sie dabei haben.

Jetzt hält es auch die anderen nicht mehr. Britta und Holger gehen zum Wasser. "Zieht doch Eure Schuhe aus" - nichts da. Patsch, sind sie mit ihren Schuhen drin. Ich höre in mir: "Kinder sollten sich nicht die Schuhe nass machen. Was werden ihre Eltern sagen? Sie bekommen garantiert eine Erkältung." Und: "Wie sie sich freuen!"

Sandra bleibt bei mir. Ich nehme dies auf: Wenn ich jetzt mit Sandra ein Stück in Richtung Auto gehe, kommen die anderen aus dem Wasser. Erwachsenenangst, nicht mehr Herr der Situation zu sein. Meine unwohlen Gefühle wachsen. "Wir müssen nach Hause." Vorgeschobener Grund. "Ich habe Angst, dass Ihr Euch erkältet." Schon ehrlicher.

Dass mir am meisten Sorgen macht, von ihren Eltern Ärger zu bekommen, sage ich nicht. "Wieso - wir erkälten uns nicht." Ich spüre ihre Gelassenheit und mein blödes, ach so erfahrenes Erwachsenengehabe.

Dann geht Elke einfach tiefer ins Wasser. Mit allen Sachen! Schon ist sie bis zum Bauch eingetaucht. Das darf doch nicht wahr sein! Und: Wie sie sich freut, das muss ja unheimlich Spaß machen. Oliver folgt, Holger schreit vor Vergnügen. Britta taucht plötzlich bis zum Hals ein. Jetzt geht auch Sandra zum See. Dann sind alle dabei, auf- und abzutauchen.

Es kommen andere Bedenken: Sie könnten sich verschlucken, sie könnten in zu tiefe Zonen kommen, ich verliere den Überblick, es wird gefährlich, ich sollte jetzt auch ins Wasser gehen, um sofort eingreifen zu können.

Und es kommen andere Gefühle: Sie sind so souverän, sie reizen die Situation aus, sie werfen diese behindernden Erwachsenenregeln über Bord: "Man geht nicht mit Anziehsachen ins Wasser." "Man geht überhaupt nicht in ein Baggerloch." "Man muss wenigstens ein Abtrockentuch dabei haben."

Sie leben jetzt – und wie! Elke schwimmt. "Ich kann nicht mehr stehen." Holger setzt sich, nur sein Kopf ist noch zu sehen, Britta schmeißt ihre Schuhe an Land, Sandra marschiert drauflos, Oliver taucht: „Hallo, ich ertrinke!“

Ich bin jetzt jenseits aller Erwachsenenregeln und Erwachsenenbedenken. Ich bin eingespannt in die Situation, wie sie von den Kindern gelebt wird. Ich bin fasziniert. Und hellwach und aufmerksam, um sofort helfen zu können, falls das nötig werden sollte.

Ich bin voll von ihrem Vergnügen und ihrer Sicherheit. Ich bin wieder im Vertrauen zu ihnen und zu mir, wie vor Beginn der Wasserszene. Ich sitze am Ufer und genieße - mich, sie und das Leben. Es ist fantastisch und befreiend. "Komm doch auch." "Nee, ich habe keine Lust." "Na gut, aber wir.“

Dann kommt Sandra ans Ufer. "Mir ist kalt." Dann Oliver. "Leute, ich habe jetzt Angst, dass es zu kalt wird. Kommt raus, ich hole etwas zum Abtrocknen aus dem Auto." Ich spiele mit, ich plane mit. Ich manage und weiß, wie man jetzt wieder warm wird. Ich stehe auf ihrer Seite, ich stehe ihnen zur Seite.

Sie kommen nach und nach. Die Abtrockensachen - Pullover, die im Auto sind - reichen gerade. "Wer trocken ist, rein ins Auto. Lasst die nassen Sachen liegen und wickelt Euch in die Autodecken." In mir ist Gewissheit, wir bekommen das hin. Wenn sie sich ausziehen und einwickeln, kann es keine Erkältung geben.

Das Abtrocknen ist ein Riesenspaß. Ich packe ihre Sachen zu "Familienhaufen" zusammen, damit es nachher beim Aussteigen schneller geht. Dann ist es soweit, wir fahren ab. Heizung volle Kraft, die Scheiben beschlagen, der Wagen voller Leben, Spaß, Vertrautheit, Abenteuer und Glück.

Als ich sie doch mit einem gewissen Herzklopfen bei ihren Eltern abliefere, sprudelt es nur so heraus aus ihnen: Freude, Abenteuer, leuchtende Augen. Die Eltern schwingen ein und bedanken sich bei mir. Es war schön am Baggersee.