Montag, 21. Juli 2025

Komm von der Mauer runter!

 
 

 „Es könnte doch etwas passieren!“ Wir sind besorgt, dass die Kinder zu Schaden kommen. Erwachsene sind für Kinder verantwortlich.

Sebastian balanciert auf der Mauer. Lina sammelt alte Flaschen. Manuel will Eis essen. Alexander fährt Rad. Jana klettert auf den Baum.

Die Verantwortung, die Erwachsene im Umgang mit Kindern übernehmen, beeinflusst das Erleben mit ihnen. „Komm von der Mauer runter!“ - „Lass die Scherben liegen!“ - „Nicht noch ein Eis!“ - „Fahr langsamer!“ - „Nicht so hoch!“ Die Angst davor, als unverantwortlich zu erscheinen, lässt die Erwachsenen zu Kindern so reden und mit ihnen umgehen, als seien sie nicht in der Lage, die Risiken ihres Tuns selbst einzuschätzen. Diese Angst lässt Erwachsene auf Kinder reagieren wie auf Noch-Nicht-Menschen. So, als seien Kinder unfertige und zur eigenen Verantwortung unfähige Wesen.

„Stimmt doch auch!“ Ich sehe das anders. All das, was Erwachsene veranlasst, aus Verantwortung einzugreifen, zu erklären, zu mahnen, zu verbieten - all das regeln die Kinder selbst, ohne Erwachsene, wenn sie unter sich sind. Sie tun es sinnvoll, in Abschätzung ihrer Möglichkeiten und der Realität ringsum. Und sie tun es täglich, viele Stunden lang.

Sie klettern allein auf der Mauer rum. Sie fassen diese Glasscherbe an und viele andere noch. Sie essen soviel davon und soviel hiervon. Ein Sturz mit dem Fahrrad hindert sie nicht, die nächste Runde zu drehen. Sie brechen sich den Arm, ohne dass die Welt untergeht.

Sie regeln ihre Dinge selbst, so wie sie es sich zutrauen und vor sich selbst verantworten. Und sicher kommt es dabei auch immer wieder zu Fehleinschätzungen - wie bei den Erwachsenen. Hören wir auf mit dem Auto zu fahren, wenn wir einen Unfall verursacht haben? Natürlich nicht, wir sagen: „Beim nächsten Mal passe ich besser auf.“ Und genau das können wir auch den Kindern zugestehen. Ohne für sie die Verantwortung zu haben, zu übernehmen - ohne ihnen ihre Verantwortung zu nehmen, wegzunehmen.

Die Kinder tun täglich ihre Dinge. Erwachsene lassen Kinder in ihren Vorstellungen aber nicht unter sich sein. Wenn wir an Kinder denken, dann immer in Bezug zu uns. Aber sie haben auch ihr eigenes Leben, mit einer eigenen Selbstverantwortlichkeit. Und wenn sie es dann mit uns zu tun bekommen, soll diese Selbstverantwortlichkeit einfach nicht mehr existieren?

Selbstverständlich ist sie dann noch da. Es ist merkwürdig, dass Erwachsene sie nicht wahrnehmen. Und ist es nicht seltsam, dass wir sofort mit unserer Verantwortung dahergestürmt kommen, wenn Kinder um uns sind? Warum? Wie gebannt bemerken wir nicht die Wirklichkeit der Kinder, in der ihre eigene Verantwortung einen festen Platz hat.

Was ist los mit den Erwachsenen? Weshalb verzichten wir darauf, Kinder als selbstverantwortliche Menschen zu sehen? Weshalb akzeptieren wir, dass Erwachsene verantwortlich für Kinder sind? Weshalb lassen wir uns in der Beziehung zu Kindern von dieser Verantwortung in Beschlag nehmen - die ursprünglich bei den Kindern selbst ist, die wir ihnen wegnehmen und uns aufbürden?

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Der Text stammt, leicht verändert, aus meinem Buch "Kinder der Morgenröte", Münster 2004, S. 23ff

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