Montag, 25. November 2024

Amication in zehn Minuten erklären

 

 

Werner habe ich ewig nicht gesehen. Schließlich kommen wir auf die Amication. Ich soll erklären. Aber in zehn Minuten muss er weg. Zehn Minuten, um zu erklären, was Amication ist? 

Ich fange also an:

Ich habe Lehramt studiert. Da ging es auch um Erziehung. Und ich habe gemerkt, dass ich das total falsch fand, jemanden zu erziehen. Das bedeutet doch, dass er, der Mensch vor mir, also das Kind, noch nicht richtig ist. Dass er verbessert werden muss. Und dass ich derjenige bin, der weiß, wo es langgeht.

Zumindest sollte ich das wissen. Das stünde alles in den Büchern und das könnte ich an der Uni lernen. Was Kinder brauchen und wie man dafür sorgt, dass sie sich richtig entwickeln, körperlich und seelisch und geistig und überhaupt. "Ich weiß, was für Dich gut ist" und bei Widerspruch "Ich weiß es besser als Du". Weil Kinder eben unmündig sind und erst vollwertige Menschen werden müssen. Weil sie eben noch nicht für sich verantwortlich sein können.

Und dem bin ich nicht gefolgt. An einer ganz speziellen Stelle bin ich da nicht mitgegangen. Kümmern, sorgen, helfen, trösten, erklären, beistehen, abgrenzen, durchsetzen, nachgeben, "versuch doch mal","gib nicht auf", "nicht so schlimm", "komm mit", "mach doch", "egal", "so nicht", "lass das", "wenn Du willst", "klar doch", "ok"... der ganze Kram: Ja, das ist für mich in Ordnung. Aber den Menschen vor mir als irgendwie unfertig ansehen?

Irgendwie unfertig: Da schwingt etwas mit, was mit mir nicht geht. Einerseits gibt es immer Veränderung, Wachsen, nichts ist wirklich fertig. Andererseits gibt es Unveränderlichkeiten. Festen Grund. Der erst mal gilt. Und eine dieser Unveränderlichkeiten ist für mich, dass Menschen von Anfang an eine innere Souveränität haben, dass sie spüren, was gut für sie ist. Achtung: Ich meine nicht, dass die Kinder dasselbe spüren müssen, was Erwachsene spüren, dass es gut für sie sei. Sie - Kinder wie Erwachsene - haben oft ganz andere Vorstellungen vom "Guten, Richtigen, Angemessenen". Das ist schon klar.

Nur: Mit meiner Sicht vom Richtigen - "an der Wand da ist eine gefährliche Steckdose" - stehe ich nicht über der Kindersicht vom Richtigen - "an der Wand da ist eine interessante Schweineschauze". Klar bin ich von meiner Sicht überzeugt und ich handle auch danach und halte das Kind von der Steckdose fern. Aber ich beanspruche dabei nicht, dass das Kind seine Sicht geringer einstuft als meine Sicht. Ich verlange keine innere Unterwerfung. Auch nicht begründet mit "es ist zu Deinem Besten", "ich habe recht", "das kannst Du noch nicht überblicken", "sieh das ein". Das geht für mich nicht. Und genau das, was da für mich nicht geht, halte ich für das Kernelement der Erziehung, jeder Erziehung. Was immer sonst noch alles bei Erziehung dabei ist.

Natürlich sagt Werner, dass es ohne Erziehung nicht gehe. Und dass die Kinder eben noch nicht wüssten, was für sie gut ist und dass sie das im Laufe ihrer Kindheit lernen müssten. Wo denn mein Problem mit der Erziehung sei?

Na ja, sage ich, ich höre in mir eine sehr deutliche Botschaft der Kinder, irgendwie eine Resonanz aus meiner eigenen Kindheit. Nicht objektiv richtig, aber für mich gültig: "Liebe mich, aber erziehe mich nicht. Nimm Beziehung zu mir auf, aber lass es, mich zu einem richtigen Menschen zu machen, ich bin ein richtiger Mensch. Lass das Erziehen".

Werner muss gehen, er sieht nachdenklich aus. "Du bist da wirklich von überzeugt. Du gehst einen anderen Weg zu den Kindern, einen, den ich nicht kenne. Interessant, gibst Du mir etwas zum Lesen?"

 

Montag, 18. November 2024

Es gibt keine Trotzphase


 

Eine Mutter erzählt, dass es im Kindergarten jetzt "Autonomiephase" heißt statt "Trotzphase". Was soll ich davon halten?

Einerseits ist das ja schon mal was. Der Rappel der Zweijährigen wird nicht mehr ärgerlich abgetan, sondern achtsam begleitet, Fortschritt. Wenn die Erzieherinnen die Kinder mit Autonomieaugen sehen statt mit Trotzaugen, ist das eine gute Sache.

Andererseits kommt es ja darauf an, was dahintersteckt. Alter Wein in neuen Schläuchen? Und da bin ich schon skeptisch. Es gibt so eine subtile liebsäuselnde Art, die Zicken der Kinder zu kontern, die eigentlich noch ekliger ist als ein klarer Ärger über die Trotzbengel. Das geht ja bis ins hohe Alter: "Wir haben unsere Pillchen wieder nicht genommen?!"

Ich will da nicht meckern. Die zeitgemäße Pädagogik bemüht sich um Achtsamkeit. Man kann jemandem das Zäpfchen mit Schmackes oder sanft reintun, sanft ist allemal besser. Nur: Wenn ich gar kein Zäpfchen will? Wem gehört mein Körper, wem gehöre ich? Auf dieser Ebene wird das alles aber nicht verhandelt. Kinder gehören sich nicht selbst, das ist der klare Grundton aller Pädagogik und aller Kindergartenszenarien.

Die Autonomie des Menschen, auch des jungen und jüngsten unter uns, also auch der Zweijährigen, wie sie die Amication wahrnimmt, ist bei "Autonomiephase statt Trotzphase" nicht im Spiel. Es sei denn, den Kindern im Kindergarten steht tatsächlich eine Erzieherin mit amicativem Selbstverständnis gegenüber. Was vorkommt, aber selten ist. Und mir in dem Gespräch mit der Mutter nicht vermittelt wurde.

Wenn die Kinder mit Innehalten und Nachdruck ihre Wege gehen und ihre Dinge tun wollen, dann fällt das für mich nicht aus dem Rahmen. Ihre Souveränität und Autonomie ist von Anfang an da, sie nimmt nur eine neue Form an. Der Säugling ist da anders als der Zweijährige, der wieder anders als der Vieljährige, der wieder anders als der Hundertjährige.

Das Kontinuum der Autonomie- und Souveränitätswahrnehmung, das von ihren (amicativen) Eltern ausgeht und in dem sie groß werden, gibt nichts her, was eine besonderen Beachtung und dann auch Bezeichnung erfordert. Es gibt keine Trotzphase und es gibt auch keine Autonomiephase in einer Familie, deren Eltern ein amicatives Selbstverständnis haben. Ebenso wie es keine "Pubertätsprobleme" gibt.

Es gibt das alles nicht nur als Bezeichnung nicht, sondern diese "Rappel", "Anfälle" und "Ausfälle" kommen einfach nicht vor. Der ganze Umgang löst so etwas nicht aus. Autonomie ist ja von Anfang an immer im Spiel und drückt sich ohne die Komplikationen aus, die es in pädagogisch geprägten Beziehungen gibt, geben muss.

Beziehungen und ihre konkreten Ausprägungen zu sehen, erkennen, einordnen, bewerten und dann auch entsprechend zu bezeichnen - dies geschieht vor dem Hintergrund des Menschenbildes, das wir in uns tragen. Womit ich wieder beim Kontrast von pädagogischen Bild (homo educandus) und nicht pädagogischem Bild (homo jedergehörtsichselbst) angekommen bin.

Ich achte ja ihr Bemühen, ihr Einfühlen, ihr Begleiten. Aber ich übersehe nicht den scharfen Gegensatz. Und so antworte ich freundlich, ohne mich zu verbiegen und ohne zynisch zu werden: "Autonomiephase? Hört sich doch gut an."







 

Montag, 11. November 2024

Armer Sünder oder Ebenbid Gottes

 


Was halte ich von mir? Wie denke ich von mir? Mehr positiv oder eher negativ? Ich meine einmal grundsätzlich gesehen. Armer Sünder oder Ebenbild Gottes? Ich sehe mich ja nun ganz und gar und durch und durch positiv. Und habe keine Ahnung, was sich da alles so an Negativem in mir finden könnte - falls sich da etwas findet! Auf den Vorträgen erzähle ich ja auch davon, dass jeder sich positiv sehen kann, lieben kann, so wie er ist. Nicht muss oder müsste, sondern kann. Es ist eine Einladung. Eine Einladung, sich zu mögen und zu lieben.

Als handfeste kleine Maßnahme sage ich den Teilnehmern gern, dass man sich aus dem Schneewittchenmärchen einen Spruch zurechtlegen kann. „Sie können diesen Satz auf einen kleinen Zettel schreiben und nachher zu Hause mit Tesa auf den Badezimmerspiegel kleben. Und wenn Sie morgen früh müde ins Bad kommen und lesen, was da steht... dann ist das frisch gelogen und trotzdem wahr!“ Die Leute schmunzeln und sie verstehen. Jeder weiß um diesen Satz, der so geht: „Ich bin die/der Schönste im ganzen Land“. So steht es auf dem Zettel geschrieben, frisch gelogen, trotzdem wahr!

In Sachen Selbstliebe begleiten mich schon lange zwei Passagen eines einschlägigen Buches*. Ich lese sie mir immer mal wieder durch, und „es macht etwas mit mir“. Wie immer sind wir ja Herr unserer Belange, die Amication ist da mutig und forsch. Also: Was will ich wirklich? Wer will ich sein? Was will ich von mir denken? Was halte ich von mir? 

Hier nun meine beiden Textstellen, für mich zum Nachsinnen, Innehalten, Bestätigen: Ja, so ist es. Der Autor spricht mich, den Leser, direkt an:

„Liebe, egal was geschieht! In wirklich allem, was sich im Alltag ereignet. Es spielt überhaupt keine Rolle, ob du emotional gerade oben bist oder unten. Ob dir eine Situation passt oder nicht. Ob du glücklich oder unglücklich bist...Egal, was passiert – deine Priorität in jeder Situation ist es, objektlos zu lieben. Du liebst sogar dann, wenn du dich manchmal nicht lieben kannst, nicht (mehr) lieben willst...Manchmal werden Glücksgefühle entstehen, ein anderes Mal wieder bleibst du relativ übelgelaunt, wütend oder frustriert. Dann liebst du dich eben dafür, dass du übelgelaunt, wütend oder frustriert bist.“

Zu etwas, das einem nicht gefällt, sagt er: „Bitte schau (es) dir genau an und liebe (es) so, wie (es) im Augenblick ist. Und wenn dir das schwerfällt, dann liebe dich dafür, dass es dir schwerfällt.“ (Ich habe das für mich auch im Blick auf meine Partnerin übertragen: „Bitte schau sie dir genau an und liebe sie so, wie sie im Augenblick ist. Und wenn dir das schwerfällt, dann liebe dich dafür, dass es dir schwerfällt.“)

Ich übersetze die beiden Passagen für mich so: Wenn ich mich liebe - na prima! Alles gut! Und wenn ich mich nicht leiden kann und die Selbstliebe sonst wo ist: Dann liebe ich mich eben dafür, dass ich mich nicht leiden kann. Es ist stets fester Grund.




* Werner Ablass, Gar nichts tun und alles erreichen, Aachen 2008, S. 29 f. und 223




Montag, 4. November 2024

Gleichwertigkeit fühlen





Das Gefühl für die Gleichwertigkeit von Kindern ist nicht leicht zu erlangen. Es gibt vieles, das man sich klarmachen kann, per Nachdenken. Aber der Ausstieg aus dem Oben-Unten-Gefühl ist schwer. Ich stelle Euch einen Text vor, mit dem Ihr etwas von dem Unrecht fühlen könnt, das in der pädagogischen Sicht von Kindern steckt. Allerdings muss dieser Text auf eine besondere Art gelesen werden.

Lest die zwei Passagen aus dem Buch von Thomas Gordon "Familienkonferenz" erst einmal aufmerksam durch. Die besondere Art, diesen Text zu lesen, erkläre ich danach. Es sind zwei kurze Passagen dieses viel gelesenen Buches (S. 120 und 203):

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Die Eltern in unseren Kursen begrüßen es sehr, darin unterwiesen zu werden, wie sie kindliches Verhalten modifizieren, das für sie unannehmbar ist. Manche erklären im Kursus: "Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und es an etwas auszuprobieren, das mein Kind zu meinem Ärger seit Monaten getan hat."

Kinder wie Erwachsene behandeln

Die Niederlage-lose Einstellung nach Methode III gibt den Kindern zu verstehen, dass ihre Bedürfnisse den Eltern auch wichtig sind und dass man den Kindern zutrauen kann, als Gegenleistung Rücksicht auf die elterlichen Bedürfnisse zu nehmen. Das heißt, Kinder ebenso zu behandeln, wie wir Freunde oder den Ehepartner behandeln. Diese Methode ist so wohltuend für Kinder, weil sie so gerne das Gefühl haben, dass man ihnen vertraut und sie als Gleichgestellte behandelt. (Methode I behandelt Kinder, als ob sie verantwortungslos sind und nichts im Kopf haben.)

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Besonders die 2. Textstelle hört sich gut an. Es geht ja darum, Kinder als Gleichgestellte zu behandeln.

Es gibt unzählige Bücher, in denen sich Erwachsene ihre Vorstellungen über den Umgang mit Kindern machen. Wenn sie von der Position "Ich weiß besser als du, was für dich gut ist" geschrieben werden, sind es pädagogische Bücher - solche, die wir ablehnen. Ist dieses Buch von Thomas Gordon ein Buch, das auf unserer Linie liegt?

Wenn Ihr Texte vor einem Hintergrund lest, der Euch als diskriminierend bekannt ist, wo Ihr Oben-Unten sicher fühlen könnt, dann merkt Ihr sofort, was Sache ist. Zum Beispiel Texte, in denen Schwarze herabgestuft oder in denen Frauen verächtlich gemacht werden.

Jetzt lest den Gordon-Text vor einem solchen bekannten Diskriminierungs-Hintergrund, also vor einem Hintergrund, wo Euer Gefühl sofort Sturm laufen wird - weil da jemand nicht ernst genommen wird, nicht als gleichwertig eingestuft wird. Lest ihn vor der Frauen-Problematik.

Ich habe die entsprechenden Worte entsprechend ersetzt: statt "Erwachsene" steht da jetzt "Männer", statt "Kinder" steht da jetzt "Frauen". Lest und lasst es auf Euch wirken:

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Die Männer in unseren Kursen begrüßen es sehr, darin unterwiesen zu werden, wie sie weibliches Verhalten modifizieren, das für sie unannehmbar ist. Manche erklären im Kursus: "Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen, und es an etwas auszuprobieren, das meine Frau zu meinem Ärger seit Monaten getan hat."

Frauen wie Männer behandeln

Die Niederlage-lose Einstellung nach Methode III gibt den Frauen zu verstehen, dass ihre Bedürfnisse den Männern auch wichtig sind und dass man den Frauen zutrauen kann, als Gegenleistung Rücksicht auf die männlichen Bedürfnisse zu nehmen. Das heißt, Frauen ebenso zu behandeln, wie wir Freunde oder Kollegen behandeln. Diese Methode ist so wohltuend für Frauen, weil sie so gerne das Gefühl haben, dass man ihnen vertraut und sie als Gleichgestellte behandelt. (Methode I behandelt Frauen, als ob sie verantwortungslos sind und nichts im Kopf haben).

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Ihr merkt sofort, dass so ein Text unmöglich ist. Von der ganzen Art. Als wären Frauen irgendwelche Haustiere, die mit Möhrchen und Methode zu behandeln sind.

Euer Gefühl ist in dieser Problematik einfach weiter entwickelt als in der Kinder-Problematik. Um es ganz klar zu sagen: Selbstverständlich ist der Originaltext von Thomas Gordon ganz genauso diskriminierend. Nicht im Leben würde ich mir als junger Mensch so einen Text gefallen lassen. Bin ich ein Kaninchen, das mit Methode III im (Lauf)Stall zu zähmen ist? Aber nein - der Gordon-Text ist doch so freundlich, so "demokratisch-partnerschaftlich", Kinder sollen doch als Gleichgestellte behandelt werden …

Wenn Gleichwertigkeit von Oben huldvoll gewährt wird, ist dies immer noch Diskriminierung. Gleichwertigkeit aber kommt jedem zu, als Selbstverständlichkeit, als Recht - ganz unabhängig von irgendwelchen großzügigen Gewährungen. "Ich bin gleichwertig - fühl es doch" rufen uns die Kinder zu.

 

aus: H.v.Schoenebeck, Amication - Themensammlung, Schoenebeck Verlag 2003, S. 176 ff.