Montag, 4. November 2024

Gleichwertigkeit fühlen





Das Gefühl für die Gleichwertigkeit von Kindern ist nicht leicht zu erlangen. Es gibt vieles, das man sich klarmachen kann, per Nachdenken. Aber der Ausstieg aus dem Oben-Unten-Gefühl ist schwer. Ich stelle Euch einen Text vor, mit dem Ihr etwas von dem Unrecht fühlen könnt, das in der pädagogischen Sicht von Kindern steckt. Allerdings muss dieser Text auf eine besondere Art gelesen werden.

Lest die zwei Passagen aus dem Buch von Thomas Gordon "Familienkonferenz" erst einmal aufmerksam durch. Die besondere Art, diesen Text zu lesen, erkläre ich danach. Es sind zwei kurze Passagen dieses viel gelesenen Buches (S. 120 und 203):

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Die Eltern in unseren Kursen begrüßen es sehr, darin unterwiesen zu werden, wie sie kindliches Verhalten modifizieren, das für sie unannehmbar ist. Manche erklären im Kursus: "Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und es an etwas auszuprobieren, das mein Kind zu meinem Ärger seit Monaten getan hat."

Kinder wie Erwachsene behandeln

Die Niederlage-lose Einstellung nach Methode III gibt den Kindern zu verstehen, dass ihre Bedürfnisse den Eltern auch wichtig sind und dass man den Kindern zutrauen kann, als Gegenleistung Rücksicht auf die elterlichen Bedürfnisse zu nehmen. Das heißt, Kinder ebenso zu behandeln, wie wir Freunde oder den Ehepartner behandeln. Diese Methode ist so wohltuend für Kinder, weil sie so gerne das Gefühl haben, dass man ihnen vertraut und sie als Gleichgestellte behandelt. (Methode I behandelt Kinder, als ob sie verantwortungslos sind und nichts im Kopf haben.)

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Besonders die 2. Textstelle hört sich gut an. Es geht ja darum, Kinder als Gleichgestellte zu behandeln.

Es gibt unzählige Bücher, in denen sich Erwachsene ihre Vorstellungen über den Umgang mit Kindern machen. Wenn sie von der Position "Ich weiß besser als du, was für dich gut ist" geschrieben werden, sind es pädagogische Bücher - solche, die wir ablehnen. Ist dieses Buch von Thomas Gordon ein Buch, das auf unserer Linie liegt?

Wenn Ihr Texte vor einem Hintergrund lest, der Euch als diskriminierend bekannt ist, wo Ihr Oben-Unten sicher fühlen könnt, dann merkt Ihr sofort, was Sache ist. Zum Beispiel Texte, in denen Schwarze herabgestuft oder in denen Frauen verächtlich gemacht werden.

Jetzt lest den Gordon-Text vor einem solchen bekannten Diskriminierungs-Hintergrund, also vor einem Hintergrund, wo Euer Gefühl sofort Sturm laufen wird - weil da jemand nicht ernst genommen wird, nicht als gleichwertig eingestuft wird. Lest ihn vor der Frauen-Problematik.

Ich habe die entsprechenden Worte entsprechend ersetzt: statt "Erwachsene" steht da jetzt "Männer", statt "Kinder" steht da jetzt "Frauen". Lest und lasst es auf Euch wirken:

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Die Männer in unseren Kursen begrüßen es sehr, darin unterwiesen zu werden, wie sie weibliches Verhalten modifizieren, das für sie unannehmbar ist. Manche erklären im Kursus: "Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen, und es an etwas auszuprobieren, das meine Frau zu meinem Ärger seit Monaten getan hat."

Frauen wie Männer behandeln

Die Niederlage-lose Einstellung nach Methode III gibt den Frauen zu verstehen, dass ihre Bedürfnisse den Männern auch wichtig sind und dass man den Frauen zutrauen kann, als Gegenleistung Rücksicht auf die männlichen Bedürfnisse zu nehmen. Das heißt, Frauen ebenso zu behandeln, wie wir Freunde oder Kollegen behandeln. Diese Methode ist so wohltuend für Frauen, weil sie so gerne das Gefühl haben, dass man ihnen vertraut und sie als Gleichgestellte behandelt. (Methode I behandelt Frauen, als ob sie verantwortungslos sind und nichts im Kopf haben).

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Ihr merkt sofort, dass so ein Text unmöglich ist. Von der ganzen Art. Als wären Frauen irgendwelche Haustiere, die mit Möhrchen und Methode zu behandeln sind.

Euer Gefühl ist in dieser Problematik einfach weiter entwickelt als in der Kinder-Problematik. Um es ganz klar zu sagen: Selbstverständlich ist der Originaltext von Thomas Gordon ganz genauso diskriminierend. Nicht im Leben würde ich mir als junger Mensch so einen Text gefallen lassen. Bin ich ein Kaninchen, das mit Methode III im (Lauf)Stall zu zähmen ist? Aber nein - der Gordon-Text ist doch so freundlich, so "demokratisch-partnerschaftlich", Kinder sollen doch als Gleichgestellte behandelt werden …

Wenn Gleichwertigkeit von Oben huldvoll gewährt wird, ist dies immer noch Diskriminierung. Gleichwertigkeit aber kommt jedem zu, als Selbstverständlichkeit, als Recht - ganz unabhängig von irgendwelchen großzügigen Gewährungen. "Ich bin gleichwertig - fühl es doch" rufen uns die Kinder zu.

 

aus: H.v.Schoenebeck, Amication - Themensammlung, Schoenebeck Verlag 2003, S. 176 ff.