Montag, 26. April 2021

Zauberei unten am Fluss



Nach dem Joggen mache ich Gymnastik. Ich sitze auf dem Boden, auf dem kleinen Weg am Fluss. Ein Wanderer kommt auf mich zu. „Ist alles in Ordnung?“ fragt er besorgt. „Ja“, sage ich, „ich mache nur Gymnastik. Danke.“ Wir sehen uns freundlich an, und er geht wieder seiner Wege. Er sah einen Menschen am Boden, war besorgt und hat sich gekümmert. Es tut mir gut. 

„Ist alles in Ordnung?“ Wir können immer wieder hinschauen. Vielleicht braucht jemand gerade Hilfe. Meine Hilfe. Doch da gibt es auch eine Hürde, die es zu nehmen gilt. Bin ich aufdringlich, übergriffig? Bringt meine Frage nur unangenehme Reaktionen?

Wie viel Einmischung darf sein? Wie immer kommt es letztlich auf mich an. Der andere wird dann schon reagieren. Ich sehe jemandem am Boden: kommt das gut, wenn ich da nachfrage? Ich überwinde die Hürde, betrete ungefragt sein Land und folge dem Impuls, mich einzumischen. Es drängt mich danach, und es beruhigt mich. Ich lasse ein mögliches Leid nicht am Wege liegen, übersehe dieses Signal nicht. Jeder gehört sich selbst, klar, aber diese Grenzüberschreitung gestatte ich mir.

„Ist alles in Ordnung?“ Ich denke darüber nach. Wie oft reagiere ich, wenn etwas neben mir auftaucht, das Leid sein könnte? Wie viel sehe ich und wieviel übersehe ich? Wie oft kann ich den Blick lösen vom Eingefangensein des Alltags? Ich nehme mich jetzt nicht in die Pflicht, sorgsamer zu sein. Aber ich spüre dem nach und merke, dass es einfach auch gut tut, sich zu kümmern. Mir gut tut. Es ist auch ein Abenteuer der Freude, dem anderen beizustehen und ihm aufzuhelfen.

Wenn wir in einem Raum liebevoller Leichtigkeit unterwegs sind, schauen wir nach dem Leid des anderen. Wenn wir selbst beschwert sind, gelingt das selten. Das muss man sich ja nicht übelnehmen, wir sind stets unterschiedlich beladen unterwegs. Sein „Ist alles in Ordnung?“ kommt aus einem guten Land, überschreitet die Grenze und führt in ein gutes Land. Der Wanderer und ich sind uns in diesem Land begegnet, ein bisschen Zauberei unten am Fluss. Ein Geschenk, das mich begleitet.



 

Montag, 19. April 2021

Ole und der Fischknuddel


 

Ich bekomme mit: Grundschule, Nachmittagsbetreuung. Der Siebenjährige erzählt: „Miriam hatte genug gegessen. Aber der Teller war noch nicht leer. Ole, der Betreuer, hat sie angemault: 'Wenn Du nicht aufisst, bleibst Du bis heute Abend hier!'“ 

Echt jetzt? So was ist doch Lichtjahre zurück! Ich sehe mich bei meiner Großmutter sitzen vor dem Kochfisch, knalltrocken der Mund, ewiges Rumgekaue auf dem Fischknuddel. „Erst isst Du auf, dann kannst Du losziehen.“ Auch ich war sieben. 

Meinen Kindern habe ich gesagt, immer: „Iss nur so viel, wie Du kannst, gut kannst. Was Du nicht schaffst, schaffst Du nicht.“ Es kam selten vor, dass sie nicht aufgegessen haben. Jedenfalls hab ich den schaurigen Aufessedruck in meiner Familie gar nicht erst aufkommen lassen. Ist doch so selbstverständlich wie was. War damals schon ein bisschen Revolution. Aber: Wie kann man Kinder nur zum Aufessen drängen? Gar zwingen? Wer macht denn so was? 

Dahinter wuchtet natürlich die Menschenwürde, die unantastbare. Hier: die körperliche Unversehrtheit, das Recht auf den eigenen Körper. Was ich als Vater ja auch immer wieder nicht umsetzen konnte. Wenn es um das Waschen ging, Zähneputzen, Anschnallgurt im Auto, Festhalten beim Wickeln, ach, tausend Übergriffe. Die sein mussten, wie ich das so meinte. Aber dieses ungewünschtes Mittagessen? Ist das anders als Hustensaft? Bin ich zu unnachsichtig mit Ole und Co.? 

„Mein Bauch gehört mir!“ Stolzes Wort in Kindermund. „Schon mal gehört?“ Ja doch, aber: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. „Und deswegen kommt das Vollkornbrötchen in Deinen Bauch und nicht der 17. Schokohase von der Oma“. Immerhin, bei aller meiner Durchsetzungsmacht (Erwachsener oben, Kind unten): Ich setze mich „nur“ in der äußeren Welt durch (ich bin ja nicht antiautoritär). Aber die innere Welt des Kindes lasse ich in Ruhe. Ich habe nicht wirklich Recht, ich folge nur meiner subjektiven Wahrheit. Einsehen muss bei mir kein Kind was. Wiewohl es meinen Einsichten folgen kann, wenn es das will. Oder eben folgen muss, wenn es das nicht will.

Aber Ole? "...bis heute Abend!"? 

Klar, ich könnte diesen Ole darauf ansprechen. Was sollte mich wirklich hindern? Ich kann allemal in eine Nachmittags-Kinderbetreungs-Situation reinplatzen und den Mund aufmachen. Oder um ein Gespräch nachsuchen. Nur: Wer Kinder so anfaucht, der ist dermaßen in einer anderen Welt unterwegs als ich. Wenn das was werden sollte, müsste ... Zauberei ist immer möglich, aber da muss ich ein stimmiges Gefühl haben. Was bei der Ole-Geschichte aber nicht so ist. 

Ich lass ihn in Ruhe, ich glaube nicht, dass das was bringen würde. So jemand ändert sich nicht wirklich, jedenfalls nicht durch die Intervention von mir, einem Außenstehenden. Es müsste ja auch ein Gespräch werden, wo Ole sich nicht kritisiert fühlt, wo er sich nicht schlecht fühlt, wo er merken könnte, wie verletzend er ist. Merken! Mit dem Herzen. Das alles ist mir zu viel und da scheue ich den Einsatz. Bis Ole mich nicht als übergriffig, sondern als frendlich-einladend für einen anderen Weg erlebt...die Chance ist mir zu klein.

Lasse ich das Kind im Stich? Wer, wenn nicht ich, könnte intervenieren? Seine Mutter? Sein Vater? Andere Eltern der Betreuungskinder? Die Schulleitung? Die Bildzeitung? Welches Fass soll aufgemacht werden? Ich habe da nicht so den Schwung. Sollte ich aber! 

Sollte ich aber? Es rumort da schon in mir, aber meine Beruhigungspille „Bin doch nicht zuständig“ wirkt. Ich fühle dennoch so eine subversive Kraft, so ein „Mach doch!“ und „Kinder hängen lassen geht ja gar nicht!“ ... Ich lass es mal wirken.



Montag, 12. April 2021

Antworten bekomme ich geschenkt

 


Ich gehe gern auf Fragen ein. Ich antworte gern. Fragen sind ein Teil des Hin und Her in lebenden Beziehungen. Sie bringen viel, sie zeigen von der Welt des Fragenden, sie regen mich an, Antworten zu finden. Fragen sind wichtig, und Antworten sind so etwas wie Respekt davor, dass es Fragen und Frager gibt. Es ist selbstverständlich (und höflich), auf Frage zu antworten. Auch zu sagen, dass mir keine Antwort einfällt, ist der Respekt der Frage gegenüber: ein achtungsvolles Nein.

Und trotzdem: Bei allem Respekt - der Chef meines Lebens bin ich. Über mir steht niemand. Meine Geburt, mein Leben, mein Tod. Und: meine Entscheidung, eine Frage aufzunehmen, in sie einzuschwingen, sie in mir zu wiederholen, sie in mich einzulassen. Vor jeder Antwort. Will ich diese Frage? Will ich eine Verbindung? Diese Verbindung? Jetzt? Will ich mich Dir und Deiner Frage öffnen und zuwenden?

Fragen ziehen uns in Denkbahnen. In die Bahnen, die die Frage bewirken, die sie umgeben, in die die Fragen eingewoben sind. Fragen öffnen ein spezifisches Tor: Das Tor zur jeweiligen Fragewelt. Will ich dahin? Will ich dort sein? Will ich dort verweilen, suchen (Antworten) - und die andere, die eigene Welt, in der ich gerade bin (vor der Frage), verlassen? Wer bestimmt hier? Bin ich noch souverän genug, eine, diese, jede Frage abzuweisen, ihr Tor zu übersehen, mich nicht hindurchziehen zu lassen?

Was macht uns eigentlich so antwortbereit? Wer sagt uns, dass Fragen zu beantworten sind? Die Frage als solche hat uns im Griff. Es ist kaum vorstellbar, eine Frage nicht zu beantworten. Extra nicht beantwortet, souverän verweigert, nicht angebissen. Und doch wäre dies zu können eine Tugend: etwas, das uns dient, uns selbst dient. Denn alle Zeit meines Lebens ist immer meine Zeit, nie die des anderen, des Fragenden. Das Antworten auf Fragen gehört mir - ich antworte nur, wenn ich es will, für richtig halte, wenn es ein ehrliches Geschäft reinen Herzens ist, Dir Deine - Deine - Frage zu beantworten. Ich muss das nicht tun, ich soll das nicht tun, ich kann - kann - das tun: Wenn ich es will.

Wir haben als Kinder gelernt, wie die Welt beschaffen ist. Wir haben auch gelernt, dass eine Frage eine Antwort zur Folge hat. Und dass wir, wenn die Frage uns galt, zu antworten hatten. Egal, ob richtig oder falsch, Wahrheit oder Lüge. Antworten hatten wir auf .jeden Fall. Schweigen als Reaktion auf Fragen: das war verheerend für die gute Stimmung, das war ein heftiger Verstoß gegen alles, was sich gehört. Frage - Antwort. "Ich habe Dich etwas gefragt!" "Kannst Du nicht antworten!" "Ich warte - auf die Antwort!"

Respekt den Kindern gegenüber - auch in der Frage-Angelegenheit: Wir haben keine Legitimation, uns in ihre Innere Welt mit der Forderung einzumischen, sie müssten so oder so reagieren (auf Fragen eben antworten). Doch mit dem Wunsch, der Bitte, der Angst, der Not, ihre Antwort zu erhalten - damit können wir durchaus in ihre Welt erst einmal vorpreschen, bei allem Respekt. Und dann wieder gehen, wie die großen und kleinen Wellen des Meeres, die den Strand hinauflaufen. Fragen kann ich stellen - Antworten bekomme ich geschenkt.





 

Montag, 5. April 2021

Antwortwelt

 

 

Neulich kam mir jemand mit einer dummen Frage. Echt jetzt! Das nasweweise „Es gibt keine dummen Fragen“ lassen wir mal beiseite. Diese Frage neulich war dumm und ging ja gar nicht. Ich werde sie jetzt hier auch nicht wiederholen. Ich schreibe lieber etwas Hintergründliches dazu. Man muss ja nicht alles mit sich machen lassen... Und das gilt für alle Fragen, für die dummen und auch für die klugen.

Wenn mir heute jemand eine Frage stellt, dann antworte ich, wie stets in meinem Leben, gelernt von klein auf, trainiert heftig durch die Schule, und eben einfach so, wie das Leben halt läuft: Man antwortet auf Fragen. Fragen habe uns im Antwortgriff. Fragen lösen den Antwort-Automatismus aus. Was nicht sein muss. Was ich in die Schranken weisen kann. Wovon ich mich emanzipieren kann. Antworten ist Lebenszeit, meine Antwort ist meine Lebenszeit. Die kann ich Dir schenken – wenn ich das denn so will. 

Heute gibt es für mich bei dem Antworten auf die Fragen ein Aber. Ich sehe mich am Regiepult meines Lebens, und die Fragen von anderen werden schnell und tief geprüft: Ob sie mir gut tun. Ob sie mir helfen. Ob sie mich achten. Ob sie mich freuen. Ob sie es wert sind. Ob sie liebevoll sind. Ob sie mich anlächeln. Ob sie freundlich sind. 

Bei Fragen, die diesen Test nicht bestehen, und bei Fragern, die diesen Test nicht bestehen, stelle ich die Ampel auf rot. Keine Antwort. Keine Antwort. Die Frage wohl hören, aber nicht in mir nachschwingen lassen. Die Frage durch mich hindurch gehen lassen. Die Frage nicht annehmen. Den Frager dabei nicht verlieren – aber es ist seine Sache, jetzt enttäuscht, verärgert, genervt zu gehen. Ich bleibe zugewandt – nur eben ohne mich auf die Fragerei und das dazugehörende Antworten einzulassen.

Es ist schwer, dem Frager klarzumachen, dass ich voller Respekt bin. Dass ich ihn nicht missachte, wenn ich seine Frage nicht aufnehme. Auf mein „Ich möchte darauf nicht antworten“ käme sofort die nächste Frage: „Wieso, warum, ja aber“. Da sage ich noch nicht einmal diesen Satz, der in die Verstrickung führt.  

Es ist schwer, Freundlichkeit bestehen zu lassen, wenn ich eine Frage nicht aufnehme. Der Frager fühlt sich unhöflich behandelt, abgewiesen, herabgesetzt. Was tun? Deswegen doch in seine – seine – Fragewelt einsteigen, die Frage annehmen und nach einer Antwort suchen und sie dann geben? Wer ist da eigentlich der Chef im eigenen Haus? Ist das mein Leben oder Deins? Ich kann Dir etwas von meiner Lebenszeit schenken. Wenn ich das denn so will, freudlich emanzipiert in der Antwortwelt.

Vor drei Jahren habe ich zum ersten mal erlebt, dass eine Frage von mir in dieser Weise nicht beantwortet wurde. „Darauf will ich jetzt nicht antworten“ oder so ähnlich. Das war zwar sehr überraschend, aber auch so... souverän. Es war nicht unfreundlich, es war entschieden. Da habe ich mir gesagt, wenn es mal so kommen würde, mache ich es genau so. Und jetzt war es so gekommen.